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AFRIKA/1393: Südafrikas schwarze Mittelklasse - Zünglein an der Waage? (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 5, September/Oktober 2016

Zünglein an der Waage?

von Henning Melber


Südafrikas schwarze Mittelklasse - Sie ist gewachsen, politisch eher pragmatisch eingestellt und als inkonsistente Bevölkerungsgruppe an Einzelinteressen ausgerichtet.


Daten zur sozialökonomischen Lage einer Bevölkerung und deren schichtenspezifischen Zuordnung sind nicht nur in Südafrika eine Frage der Interpretation. Insbesondere zur Definition "Mittelklasse" gibt es weltweit kontroverse Diskussionen. Unstrittig ist jedoch, dass Südafrikas Mittelklasse seit der Demokratisierung des Landes deutlich zugenommen hat. Der Southern Africa Labour and Development Research Unit (Saldru) an der Universität Kapstadt zufolge wuchs diese von 12,8 Prozent der Bevölkerung 1993 auf 16,6 Prozent im Jahr 2012. Zwei Drittel davon (also etwa ein Zehntel der Gesamtbevölkerung) werden der einst diskriminierten Bevölkerung zugerechnet und mitunter als "schwarze Diamanten" betitelt. Doch klassifiziert Saldru noch immer 55 Prozent der Bevölkerung als arm. 23 Prozent werden in eine ökonomisch prekäre Lage eingestuft, während 5,2 Prozent als Elite gelten. In einer so ungleichen Gesellschaft wird der wachsenden Mittelschicht als Folge der zumindest partiellen Neugestaltung des zuvor auf institutionalisierter Rassendiskriminierung basierenden Wirtschafts- und Sozialsystems besonderes Augenmerk gewidmet. Dies ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass Sozialwissenschaftler in Südafrika häufig den Finger am Puls der gesellschaftlichen Veränderungen haben.


Inkonsistenz der Mittelklasse

In einer gründlichen neuen Studie verortet Roger Southall, emeritierter Soziologieprofessor der Universität Witwatersrand, die schwarze Mittelklasse auch historisch. Er räumt mit der Fehlwahrnehmung auf, es habe diese unter der Apartheid (noch) nicht gegeben. Wie er in seiner Bilanz von 1910 bis 1994 zeigt, besaßen deren Angehörige zumeist politisch progressive Einstellungen und Wirkungen. Doch wohnte dieser Mittelklasse stets auch ein opportunistisches Element inne. So konnten sich deren Mitglieder je nach Ort, Zeitpunkt und Situationen in unterschiedlichem Grad liberal, konservativ, nationalistisch oder radikal zeigen. Southall spitzt dies in der Feststellung zu, das einzig konsistente einer schwarzen Mittelklasse sei deren Inkonsistenz gewesen.

Dessen ungeachtet spielte die schwarze Mittelklasse eine wesentliche Rolle im ANC. Davon zeugen herausragende Führungspersönlichkeiten wie Albert Luthuli, Oliver Tambo und Nelson Mandela. Eine auch vom politischen Engagement der afrikanischen Mittelklasse geprägte Politik trug zu dessen maßgeblicher Bedeutung im Kampf gegen die Apartheid bei. Im Gegenzug verdankte die schwarze Mittelklasse ihren Aufstieg und wachsenden Einfluss seit 1994 der Regierungspolitik des ANC als ehemaliger Befreiungsbewegung an der politischen Macht. Deren "affirmative action" und "black economic empowerment" diente nicht nur der Selbstbereicherung der neuen politischen Elite. Sie begünstigte auch die Förderung und Ausweitung einer schwarzen Mittelklasse.

Nunmehr in Positionen mit höherem sozialen Status, gutem Einkommen und anderen Privilegien, ist diese neue Mittelklasse tendenziell eher wenig geneigt, die Hand zu beißen, die sie füttert. Umso mehr sie von der Partei an der Regierungsmacht abhängig ist, desto eher zeigt sie loyales Verhalten. Dies ist besonders im mittleren und höheren öffentlichen Dienst und den staatlichen Betrieben der Fall.

Doch haben sich neben den eng mit dem ANC verbundenen Segmenten einer afrikanischen Mittelklasse auch neue, mehr heterogene Mittelschichtgruppierungen im Privatsektor, an den Universitäten, im Dienstleistungssektor und in Nichtregierungsorganisationen entwickelt. Sie messen den ANC an der aktuellen Regierungsführung und nicht an dessen historischen Verdiensten. Insbesondere die jüngeren neuen Mitglieder der aufstrebenden Mittelschicht fühlen sich der Partei kaum verpflichtet.


Eher pragmatisch als politisch

Dass die Mittelklasse eine politisch progressive Rolle spielt, ist keinesfalls eine gesicherte Erkenntnis. Eher schon positionieren sich Mittelklassenangehörige wie in anderen Ländern meist auch entlang ihrer eigenen Interessen, also eher pragmatisch und opportunistisch. So warnt Southall davor, dass die Angehörigen der schwarzen Mittelklasse bei einer fortdauernden wirtschaftlichen Stagnation Südafrikas eher zu autoritären Lösungsversuchen neigen könnten, so lange diese den Erhalt ihrer Position zu sichern versprechen.

Zwar spielt die afrikanische Mittelklasse im politischen System Südafrikas noch keine entscheidende Rolle, aber sie gewinnt an Einfluss. Amuzweni Ngoma hat Angehörige der schwarzen Mittelklasse mit Fachausbildung in höher gestellten Positionen in Kapstadt, Durban, Port Elizabeth und Johannesburg befragt, wie diese ihre politische und soziale Identität verstehen und damit umgehen. Ngomas Studie dokumentiert, dass viele unter ihnen zunehmend gespaltener sind. Sie schwanken zwischen der Loyalität und der Identifikation mit der einstigen Befreiungsorganisation und einer Abkehr von dieser, die sich aus wachsender Frustration aufgrund der Versäumnisse der nunmehr Regierenden speist.

Für Etliche ist dies ein kaum lösbarer Konflikt, da sie mit keiner politischen Alternative so richtig einverstanden sind. Die Democratic Alliance (DA) leidet noch immer unter dem Makel einer einstmals weißen Partei, obwohl sich durch die Besetzung führender Positionen mit oftmals jüngeren Schwarzen - gerade auch aus einer Mittelklasse - und Patricia de Lille als Bürgermeisterin von Kapstadt ihr Image inzwischen etwas verändert hat. Auch die nach dem Zerwürfnis von Julius Malema mit Jacob Zuma und dem ANC maßgeblich von ihm neu formierten Economic Freedom Fighters (EFF) gelten meist nicht als glaubwürdige Alternative. Insofern positionieren sich Angehörige der neuen Mittelklasse immer noch im Schatten der Apartheid, deren sozialpsychologische Langzeiteffekte keinesfalls überwunden sind. Zumal viele der "schwarzen Diamanten" mit der Erfahrung konfrontiert sind, dass sie mit den Angehörigen der weißen Mittelklasse - mit denen sie häufig in der Arbeitswelt zu tun haben - meist weniger verbindet, als mit Schwarzen einer anderen Einkommensgruppe.


Gemeinsame Interessen

Allerdings ergab eine Untersuchung von Ivor Chipkin in einer ehemals rein weißen Mittelklasse-Vorstadt am Rande Johannesburgs ein anderes Bild. In der "Townhouse"-Siedlung von Roodepoort hat sich mittlerweile eine Einwohnerschaft jenseits der ehemaligen, trennenden Rassenschranken etabliert. Ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft verfolgt diese hinsichtlich sicherer Wohnanlagen und Besitzverhältnisse gemeinsame Interessen, die deren Verhaltensweisen bestimmt. Der soziale Mikrokosmos gemeinschaftlicher Wohnanlagen und deren "body corporates" schafft in gewisser Weise eine gemeinsame Welt. In dieser verhalten sich weiße Angehörige der Mittelklasse Chipkin zufolge sogar offener gegenüber der schwarzen Nachbarschaft, als ein von liberaler oder linker Politik geleiteter abstrakter Austausch.

Solche Konstellationen entfalten sich auch andernorts insbesondere im städtischen Milieu, wie die aktuellen Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 3. August nahe legen. Der teilweise dramatische Einbruch des ANC in den urbanen Metropolen ist ein Indiz. So vollzog sich eine Stimmenverschiebung hin zur DA als einer multikulturell städtischen Mittelklasse-Partei: mit knapp 39 Prozent Stimmanteilen musste sie sich erst nach Auszählung der Townships dem ANC in Johannesburg geschlagen geben, mit 43 Prozent wurde sie stärkste Partei in Pretoria/Tshwane und mit über 46 Prozent in Part Elizabeth/Nelson Mandela Bay (ausgerechnet!). Die absolute Mehrheit in Kapstadt konnte auf zwei Drittel ausgebaut werden und mit Beaufort West wurde die letzte städtische ANC-Hochburg im Westkap erobert. Diese Ergebnisse dokumentieren auch den teilweisen Wandel innerhalb der politischen Orientierung von Teilen der schwarzen Mittelklasse - zumal in absoluten Zahlen deutlich mehr Wähler als in den Kommunalwahlen zuvor dem ANC ihre Stimme gaben, dieser aber dennoch fast zehn Prozent Verluste hinnehmen musste.

Ein weiterer Nutznießer dieser Konstellation - und wohl auch einiger Stimmen von schwarzen Mittelklasseangehörigen - waren die EFF. Mit einem Zehntel der Stimmen in den Metropolen ohne absolute Mehrheiten erhalten diese nun als potenzielle Koalitionspartner Gewicht. Deren machtpolitischer Einfluss sollte deshalb künftig ebenso wenig unterschätzt werden wie der einer schwarzen Mittelklasse.


Der Autor ist Senior Advisor der Dag Hammarskjöld Stiftung und des Nordic Africa Institute in Uppsala und Professor an der Universität Pretoria und der University of the Free State in Bloemfontein.


Literatur

Ivor Chipkin: Middle Classing in Roodepoort. Capitalism and Social Change in South Africa. Johannesburg: Public Affairs Research Institute 2012.

Amuzweni Ngoma: South Africa's Black middle class professionals. In: Henning Melber (Hrsg.): The rise of Africa's middle class. Myth, realities and critical engagements. London: Zed Books 2016.

Roger Southall: The New Black Middle Class in South Africa. Woodbridge: James Currey und Auckland Park: Jacana 2016.

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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
45. Jahrgang, Nr. 5, September/Oktober 2016, S. 13-14
Herausgeber: informationsstelle südliches afrika e.V. (issa)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2016

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