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AFRIKA/733: Madagassische Schrullen (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 2, März/April 2009

Madagassische Schrullen

Von Jean-Luc Raharimanana


Die Lage in Madagaskar ist nicht neu. Machtwechsel erfolgten nur auf massiven Druck hin, immer wieder begleitet von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Benachteiligten in den Städten - vor allem der Hauptstadt - zwangen die Machthaber zum Rücktritt, doch es wechselten nur die Gesichter. Die Rhetorik änderte sich, die Politik nicht.


Es war eine Art déjà vu-Erlebnis. Ein junger Unternehmer, reich, gut aussehend und volksnah, Bürgermeister der Hauptstadt. Eine große Menschenmenge drängt sich auf dem Platz des 13. März, macht laut ihrer Unzufriedenheit Luft, immens ist die Hoffnung auf eine echte Demokratie. Sie marschieren friedlich zum Präsidentenpalast. Ein Militärkordon stellt sich quer, kurze Verhandlungen, dann sprechen die Waffen. Zurück bleiben Tote und die Trauer der Menschen.

So geschah es 1972. Am 13. Mai, nach monatelangen Protesten gegen die autoritäre Herrschaft des ersten Staatspräsidenten Philibert Tsiranana demonstrierten die Menschen gegen den neokolonialen Charakter seines Regimes. Die Armee feuerte in die Menge. Es war das Ende von Tsiranana.

Am 10. August 1991 sammelte sich wieder eine Menschenmenge vor dem Lavoloha-Palast, als Präsident Ratsiraka den Truppen befahl, das Feuer zu eröffnen. Und 2009 - nach einigen Tagen friedlicher Demonstrationen - stimmte Präsident Ravalomanana den Kriegsruf an. Als am 7. Februar eine Menge auf den Präsidentenpalast Ambohitsirohitra marschierte, waren Schüsse mit scharfer Munition die Antwort. Mehr als 130 Tote blieben zurück.


Ravalomanana und Rajoelina - merkwürdige Zwillinge

Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass Ravalomanana sich schon vor seiner Machtübernahme unter der Diktatur von Ratsiraka bereichert hat. 1988 wurde er wegen Korruption eingesperrt, doch schon bald auf einen Wink Ratsirakas wieder entlassen. Und irgendwie schaffte er es, die Ausschreibung zur Privatisierung desselben Unternehmens zu gewinnen, die ihm die Korruptionsklage eingebrockt hatte. Dieses Unternehmen wurde der Eckpfeiler seines Firmenimperiums Tiko, dem später die Vermarktungskette Magro angegliedert wurde. Tiko erhielt für den Aufbau auch Weltbankkredite.

Ratsiraka mochte wohl gehofft haben, Ravalomanana als Frontmann zu gewinnen. Doch der trachtete selbst nach der Macht. Sein Firmenimperium wuchs dank Steuervergünstigungen und massiven Nachlässen bei Abgaben auf den Einkauf von Rohstoffen (während Mitbewerber mit höheren Abgaben belastet wurden). Er hatte die Kontrolle über Ausschreibungen, zögerte Zahlungen an Kleinbauern hinaus, erwarb Land zu Spottpreisen oder annektierte es einfach. Er erlangte schließlich die Kontrolle über nahezu alle wirtschaftlichen Sektoren, kontrollierte die Medien und veranlasste die Inhaftierung von Intellektuellen und Opponenten. Alles Voraussetzungen für einen perfekten Diktator.

Die Regime von Ratsiraka und Ravalomanana zwangen die jungen Leute in Madagaskar zu einem Überlebenskampf, in dem sie mit allen möglichen Widerständen zu kämpfen hatten. Der öffentliche Dienst brachte ihnen kaum ein einträgliches Einkommen. Die meisten versuchten es mit der Privatwirtschaft. Sie begannen alles mögliche, gaben auf und versuchten es anderweitig wieder. Farmer wurden IT-Techniker, Ärzte, Schweinezüchter.

Rajoelina begann als DJ und organisierte Veranstaltungen, bevor er eine Werbe- und Kommunikationsagentur aufbaute. Anders als Ravalomanana unter Ratsiraka traf Rajoelina nicht auf staatliche Großzügigkeit. Im Gegenteil, Ravalomanana stellt sich ihm in den Weg und warf ihm Knüppel zwischen die Beine. Mit einem Plakatstreit im Jahr 2004 begann die Popularität Rajoelinas. Ravalomanana, der die Plakate Rajoelinas für werbewirksamer hielt als die seiner Firma, ordnete die Entfernung an. Rajoelina antwortete mit den gleichen Mitteln; es war ein Auf und Ab.

Die Einwohner der Hauptstadt, vor allem die Jugendlichen und jene Geschäftsleute, die unter der harten Hand des Tika litten, verfolgten die Auseinandersetzung gespannt. So war es nicht überraschend, dass sie bei den Bürgermeisterwahlen überwiegend für Rajoelina stimmten. Kaum hatte er im Januar 2008 auf dem Stuhl des Bürgermeisters von Antanarivo Platz genommen, richtete er sein Augenmerk auf den Stuhl des Präsidenten. Doch anders als Ravalomanana, der als Bürgermeister frei schalten und walten konnte, bekam Rajoelina die Macht des Präsidenten zu spüren. Der Hauptstadt wurde immer wieder der Strom abgeschaltet; eine andere Stadt - Toamasina - wurde zur administrativen Hauptstadt ernannt; die Abfallgebühren wurden der Hauptstadt aufgehalst, gleichzeitig wurde ihr das Recht entzogen; die focantany, die Vorsteher der einzelnen Stadtviertel, zu ernennen. Radio Viva, einem Sender Rajoelinas, wurde die Lizenz entzogen. Beide beanspruchten die volle Macht, keiner war bereit, sie zu teilen.

Rajoelina stand vor der Wahl: sich zu unterwerfen oder zu revoltieren, Ravalomananas korruptem Zirkel beizutreten oder die schwelende Rebellion des Volkes zu entzünden. Wir wissen, welche Wahl er getroffen hat. Über hundert Tote sind seit dem 26. Januar zu beklagen. War das nun ein Putschversuch eines jungen, machthungrigen Unternehmers, oder ein Volksaufstand, angeführt von einem heroischen Widerständler?


Land, Volk, Macht - Pfeiler einer Demokratie

Die Zeitung Ndimby schreibt am 2. Februar 2009: "Es ist eine Schande, dass nach 50 Jahren Unabhängigkeit, dass die Mächtigen wieder einmal zu nicht verfassungsmäßigen Mitteln greifen, um an der Macht zu bleiben. Die Macht wurde selten an den Urnen gewonnen, aber gewisse Politiker haben es verstanden, ihre Machtposition durch Wahlen bestätigen zu lassen." Kein Madagasse hat sich jemals zu annähernd normalen Bedingungen zur Wahl gestellt. Eine Ausnahme mag die erste Wahl Philibert Tsirananas 1959 sein. Doch auch diese lässt sich nicht unbedingt als eine Wahl im üblichen sinne bezeichnen, sie erfolgte in erster Linie im Kontext der Dekolonisierung.

Land, Volk, Macht - diesen Pfeiler eines demokratischen Staates, hat es für die Menschen in Madagaskar nie gegeben. Vor der Kolonialisierung war das Land von territorialen Auseinandersetzungen und Konflikten zwischen den Königreichen zerrissen. Die Kolonialmacht Frankreich setzte sie alle ab. Brachland - aus welchen Gründen auch immer - wurde denen zugesprochen, die es nutzten, und das waren die Kolonisten. Ein Giftbecher für Frankreich; denn die Landaneignung führte 1947 zu einer Rebellion mit den schlimmsten Massakern in der Kolonialgeschichte Madagaskars. Nach Angaben der französischen Armee gab es 89.000 Tote; Frankreich will darüber nicht reden. Der Kolonialstaat war keine Einrichtung zum Nutzen der Bewohner, sondern zur Ausplünderung des Landes.

Mit der Unabhängigkeit dachte man, die Frage sei gelöst, das Land gehöre nun den Madagassen. Doch die ungleiche Entwicklung der einzelnen Provinzen und die permanente Einmischung Frankreichs in die wirtschaftlichen Belange und diplomatischen Beziehungen des Landes führten zum Aufstand von 1972.

Tsiranana, der erste Präsident, wurde abgesetzt, es folgte eine Periode der Instabilität. Sie dauerte bis 1975, als Ratsiraka die Macht übernahm und die Verwaltung neu gliederte; sechs bis dahin weitgehend autonome Regionen in fivondronanas (Bezirke der Regionen), diese weiter in firaisana (Städte und Kreise) bis hinunter zu den fokotany (Dörfer). Diese ursprünglich geographische Einteilung führte schon bald zur regionalen (und auch ethnischen) Spaltung. Jeder Bezirk sprach jedem Zuzügler das Recht auf jedwede Machtposition ab.

Die neue Gliederung führte zu einem Flickenteppich, was Entwicklung und Wohlergehen betrifft. Die fivondronanas weitab von städtischen Zentren verelendeten zusehends und konnten keinen Anschluss an die Entwicklung in anderen Teilen halten. Zudem führte ein ineffektiver öffentlicher Dienst zu einer Legitimationskrise des Staates, der zum Erhalt der Macht zur blanken Gewalt griff. Zwei Amtsperioden über jeweils 7 Jahre konnte sich Ratsiraka halten, dann machten die Menschen ihrer Empörung Luft - sie träumten den revolutionären Traum einer demokratischen Gesellschaft. Ratsirakas Allmacht ging zu Ende, als er am 10. August 1991 seine Truppen anwies, auf die Demonstrierenden zu schießen.

Zwischen Februar und April 1992 setzten sich 1400 Delegierte aus Politik und Zivilgesellschaft zusammen und entwarfen eine neue Verfassung, jede Region hatte ihr eigenes Forum, ein nationales Forum. koordinierte die Arbeit. Neu gewählter Präsident wurde Albert Zafy. Der Diktator war verjagt, eine neue Verfassung trat in Kraft, es begann eine Dezentralisierung der Macht - es schien, als hätte das madagassische Volk endlich obsiegt. Doch bald deutete sich an, das die neue Politik auf wackligen Füßen stand. Die Macht ging immer noch von den Ministern aus, und es herrschte weiter eine Mentalität, dass politische und öffentliche Positionen in erster Linie der persönlichen Bereicherung zu dienen hatten. Albert Zafy weigerte sich, mit dem Parlament zusammenzuarbeiten, und musste sich einem Referendum stellen. Er wurde des Amtes enthoben und verließ 1996 den Präsidentenpalast.

Die Madagassen hatten sich auf eine neue Verfassung geeinigt, doch die Politiker verfolgten eine eigene Agenda. Bei den Wahlen 1997 kehrte Ratsiraka zurück. Es war ein neuer Ratsiraka mit seiner Philosophie des "ökologischen Humanismus". In Europa wurde er dafür mit dem Umberto Blancamano-Preis ausgezeichnet; seine Politik wurde mit Krediten der Weltbank honoriert. Doch Ratsiraka drängte die Macht des Parlaments zurück zugunsten der Exekutive; ein Amtsenthebungsverfahren war fortan nicht mehr möglich. Allerdings ließ er eine größere Autonomie der Provinzen zu, wie es allgemein gefordert wurde. Mit seiner Politik - Land- und Umweltschutz als politisches Programm, die Rückbesinnung auf den Humanismus der Madagassen als Grundlage der Demokratie und Respekt gegenüber dem Land und seinen Menschen - schien Ratsiraka der Lösung der Probleme näher zu kommen. Doch es stellte sich heraus, dass all das nur der Tarnung der Macht der Oligarchen diente.

Damit schlug Ravalomanas Stunde. 2001 wurden die alten Forderungen von 1991 erneut erhoben. Die Bevölkerung sah in Ravalomanana den idealen Anwalt für ihr Anliegen. Sie wurde dabei von den Kirchen und Organisationen der Zivilbevölkerung unterstützt. Doch nur eine Amtszeit später sahen sich die Menschen damit konfrontiert, dass ihr Idol nicht zur Macht gestrebt hat, um Entwicklungsideale zu verwirklichen, sondern um sein eigenes Imperium auszudehnen. Ravalomanana revidierte nicht das übermächtige Exekutivsystem; er stärkte es vielmehr, indem er die Autonomie der Regionen wieder zurücknahm und sich selbst das Recht einräumte, die regionalen Repräsentanten nach Lust und Laune einzusetzen und zu feuern, auch einen Bürgermeister der Hauptstadt. Die finanzielle Ausstattung der Regionen lag nun in der Entscheidung des Präsidenten. "Oppositionelle" Städte wie Toamasina unter Roland Ratsiraka (den er schließlich absetzte), Fianarantsoa unter Peter Rakotoniaina oder Antananarivo unter Andry Rajoelina haben entweder ihre Budgethoheit oder ihre funktionale Autonomie verloren.

Niemals zuvor wurden die Erwartungen so enttäuscht, nicht einmal unter Ratsiraka. 2007 gab die Parlamentsgazette das Wahlergebnis bekannt. Danach hatte Ravalomananas Tiako I Madagasikara (TIM) 105 der 125 Parlamentssitze gewonnen. Neunzehn gingen an der TIM nahestehende unabhängige Kandidaten. Einer ging an Jonah Parfait Prezaly von Leader fanilo. Damit gibt es im jetzigen Parlament nur einen einzigen Oppositionsvertreter. Der Geschäftsmann Ravalomanana hat die Insel in Beschlag genommen.

Mit einer Reform des Landrechts brachte er Tausende von Kleinbauern in Gefahr. Sie können durchweg weder lesen noch schreiben und wissen nichts mit einer katastermäßigen Erfassung ihrer Felder oder mit Privateigentum anzufangen. Sie bestellen und nutzen ihre Äcker nach hergebrachter Weise und traditionellem Recht, wonach Verfügung und Nutzung zwischen den Familien oder auf Dorfebene ausgehandelt werden. Wer nicht in der Lage ist, Anträge für Eigentumstitel akkurat auszufüllen, verliert sein Land entschädigungslos. Es wird Unternehmen zugesprochen, die dem Präsidenten nahe stehen, oder Transnationalen Konzernen, die sich auf Kosten der Bevölkerung bereichern.


Ein Übergang? Wohin?

Hatte Rajoelina Recht, zur Revolte aufzurufen? Möglicherweise ja. War es gerechtfertigt, die Menschen gegen eine blind entschlossene Regierung marschieren zu lassen? Wohl kaum. Über einhundert Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Ravalomananas Befehl zu schießen war verbrecherisch; doch musste Rajoelina nicht mit einem solchen Befehl rechnen? Es ist sicher nicht gerecht, diese beiden doch recht unterschiedlichen Politiker über einen Kamm zu scheren. Ravalomanana hat sich schon seit geraumer Zeit zum Diktator gewandelt, Rajoelina personifiziert demgegenüber einfach die Freiheitserwartungen der Madagassen. Kann er für das Massaker am 7. Februar verantwortlich gemacht werden? Ravalomanana fordert Respekt vor Recht und Demokratie; doch wie rechtmäßig und demokratisch ist ein Befehl, auf Demonstranten zu schießen?

Rajoelina fordert eine Übergangsregierung. Doch wenn damit nur ein Stuhlwechsel nach Art der Reise nach Jerusalem erfolgt, macht das keinen Sinn. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen muss Rajoelina klipp und klar erklären, dass er nicht an einer Präsidentschaft interessiert und sein einziges Ziel die Wiederherstellung der Demokratie in Madagaskar ist. Ravalomanana ist auf dieser Position untragbar, und das gilt auch für Rajoelina. Eine Übergangsregierung hat neutral zu sein, ihre Mitglieder müssen sich verpflichten, bei den nächsten Wahlen nicht mehr zu kandidieren, um so die übergangsperiode aus politischen Spielchen und Schachereien herauszuhalten. Damit würde der Übergangsprozess den Bürgerinnen und Bürgern Madagaskars die Möglichkeit bieten, dem Staatsbegriff, den Grenzen der Macht neuen Inhalt zu geben und Vorkehrungen zu treffen, die den Unsicherheiten und Ungewissheiten, die das Land seit der Unabhängigkeit plagen, ein Ende zu setzen. Die Insel kann nicht mehr so tun, als sei nichts geschehen.

Die Vereinten Nationen, die Afrikanische Union, Frankreich und die USA sind gerade dabei, Vermittlungsgespräche zu organisieren. Das ist gut so; doch echten Fortschritt wird es erst geben, wenn die Madagassen Auge in Auge dem Teufel gegenüberstehen und mit ihm dinieren. Das dürfte der einzige Weg sein, die Demokratie zu schützen. In den USA haben wir erlebt, wie der George W. Bush-Clan zwei Kriege vom Zaun brach, bevor Bush abtrat. In Russland ist Vladimir Putin immer noch der König über Öl und Gas. In Italien kontrolliert Silvio Berlusconi immer noch sein Medienimperium und andere Geschäfte. In Frankreich räkelt sich Nicolas Sarkozy auf einer Jacht, während seine milliardenschweren Freunde eine Ausschreibung nach der anderen gewinnen.


Der Autor ist Schriftsteller, Journalist und Lehrer. Er wurde 1967 in Antanarivo geboren und studierte Literaturwissenschaften. Für seine frühen Gedichte erhielt er 1997 den Poesiepreis des Landes. In seinen Erzählungen und Theaterstücken prangert er immer wieder die Machtversessenheit madagassischer Politiker an, das brachte ihm immer wieder ein Veröffentlichungs- und Aufführungsverbot ein. Der Autor lebt heute in Paris. Von seinen Werken wurde der Erzählband Lucarne ins Deutsche übersetzt. Haut der Nacht (1997 bei Horlemann) ist leider vergriffen.


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Kurze Geschichte

Die ersten Siedler auf Madagaskar waren wahrscheinlich indonesische Seefahrer, die im 1. Jahrtausend n. Chr. die Insel erreichten, Ob die Insel schon zuvor von Afrikanern besiedelt war, ist umstritten? Kontinentalafrikaner kamen dann im Zuge des arabischen Sklavenhandels nach Madagaskar.

Von den europäischen Ostindienfahrern wurde Madagaskar lange Zeit gewissermaßen rechts liegen gelassen. Eine kurze Stützpunktepisode der Franzosen im 17. Jhd. scheiterte am Widerstand der Bevölkerung. Eine politische Einigung der Königreiche erfolgte Ende des 18. Jhds. Unter dem König Adrianampoinimerina (1787/1810), Herrscher des Merina-Reiches im zentralen Hochland. Das Reich hatte Bestand bis 1896.

Madagaskar wurde auf der so genannten Kongo-Konferenz in Berlin 1884/85 der Interessensphäre Frankreichs zugeordnet. 1895 erklärte Frankreich die Insel zum Protektorat. Paris nahm eine Vertreibung von Missionaren und anderen Europäern zum Anlass, militärisch einzuschreiten. Die Regentin Ranavolana III wurde zur Abdankung gezwungen und ins Exil nach Algerien geschickt. Ein Jahr später wurde Madagaskar zur Kolonie, die endgültige "Pazifizierung" dauerte bis 1904 und wurde mit äußerster Brutalität erzwungen; ganze Dörfer wurden dabei ausgerottet.

1945 bildeten sich verschiedene Widerstandsbewegungen. Paris reagierte mit der Eingliederung Madagaskars als Überseedepartement. Die Bewohner wurden französische Staatsbürger mit Minderrechten, eine unzureichende Antwort auf die Unabhängigkeitsbewegungen. Die Unzufriedenheit entlud sich 1947 in einem Aufstand, der von Frankreich mit großer Härte niedergeschlagen wurde (80.000 Tote). Der Widerstand war damit nicht gebrochen. 1958 erhielt Madagaskar den Status einer autonomen Republik im Rahmen der Französischen Gemeinschaft; am 26.6.1960 wurde Madagaskar unabhängig.


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Das unabhängige Madagaskar

Erster Staatspräsident der unabhängigen Republik Madagaskar wurde Philibert Tsiranana. Seine Sozialdemokratische Partei (PSD) regierte de facto als Staatspartei. Außen- und wirtschaftspolitisch lehnte sich die Regierung eng an Frankreich an. Soziale Unruhen zwangen Tsiranana 1972 zum Rückzug. General Gabriel Ramanantsoa übernahm die Macht und verordnete eine radikale politische Umorientierung, die sich an sozialistischen Ländern anlehnte. Der Bevölkerung brachte der neue Kurs keine Entlastung.

Ramanantsoa trat 1975 nach schweren Unruhen zurück, sein designierter Nachfolger - Innenminister in seiner Regierung - General Richard Ratsimondrava wurde sechs Tage nach seiner Designierung ermordet. Die Umstände wurden nie geklärt. Beschuldigt wurden Kreise, die eine enge Anbindung an Frankreich befürworteten. Mit Ratsimondrava ist die Philosophie Fokonolona verbunden, "Gemeinschaft von Menschen", ein Rückgriff auf eine traditionelle Organisationsform. Der Übergangspräsident Andriamahazo bereitete die Wahlen für Ende 1975 vor. Die Macht dagegen lag beim Militär, an dessen Spitze Didier Ratsiraka, der "rote" Admiral, stand. Ratsiraka war von 1972 bis 1975 Außenminister unter Ramanantsoa. Er griff die Forderung nach einer neuen Verfassung auf. Die wurde zum 3. Dezember 1975 verabschiedet; der Staat wurde dabei in Demokratische Republik Madagaskar umbenannt.

Ratsiraka reagierte auf die veränderten politischen Verhältnisse mit der Gründung der Partei "Vorhut der Malegassischen Revolution" (FNDR), die ihren Namen 1989 in AREMA (Andry sy Riana Enti-Manavotra an'i Madagasikara, Säule und Fundament für das Heil Madagaskars) änderte. Ratsiraka wurde 1975/76 Präsident der neuen Republik. Er behielt den sozialistischen Kurs bei und verstaatlichte Banken, Versicherung und die Schifffahrt, versuchte aber auch eine vorsichtige Öffnung gegenüber dem Westen. Innenpolitisch führte er einen stramm autokratischen Kurs. Seine Regierung endete 1993, als Ratsiraka die Wahlen gegen Albert Zafy verlor, dem Kandidaten der "Nationalunion für Entwicklung und Demokratie". Dessen Amtsenthebung 1996 bescherte Ratsiraka im folgenden Jahr ein Comeback, als er die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden konnte. Ratsiraka regierte den Inselstaat von 1997 bis 2002. Er verlor in dieser Legislaturperiode rasch an Zustimmung. Bei den Wahlen 2001 unterlag er gegen den derzeitigen Präsidenten Marc Ravalomanana. Das Ergebnis war umstritten. Letztlich jedoch musste er seine Ambitionen aufgrund gerichtlicher und außenpolitischer Entscheidungen begraben. Der Machtkampf 2001 und 2007 zwischen Ravalomanana und Rastsiraka kostete viele Menschenleben.


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Machtwechsel von Ratsiraka auf Ravalomanana

Die Präsidentschaftswahlen 2001 brachten Marc Ravalomanana eine Mehrheit. Das erste amtliche Ergebnis sah Ravalomanana mit 47 Prozent in Front gegenüber Ratsiraka. Nach der Verfassung wäre damit eine Stichwahl fällig gewesen.

Ravalomanana reklamierte jedoch eine Mehrheit von 52 Prozent, verweigerte eine Stichwahl und erklärte sich zum Präsidenten. Das Verfassungsgericht lehnte diese "Auszählung" zunächst ab, gab aber im April 2002 als amtliches Ergebnis eine Zustimmung von 51,3 Prozent (35 Prozent für Ratsiraka) bekannt.

Die Afrikanische Union verweigerte in der Zwischenzeit eine Anerkennung Ravalomananas und bestand auf einer Stichwahl. Die europäischen und nordamerikanischen Staaten bekräftigen den Anspruch Ravalomananas. In Madagaskar führte das zu schweren militärischen Auseinandersetzungen, fünf der sechs Provinz-Gouverneure standen hinter Ratsiraka. Den Machtpoker gewann Ravalomanana. Ratsiraka ging nach Frankreich ins Exil.

Im November 2006 entging Ravalomanana einem Putsch des Generals Fidy Andrianafidisoa. Er wurde durch eine französische Intervention gebremst. Ravalomanana hat es verstanden, die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren. Im Januar 2007 wurde er für eine weitere Periode im Amt bestätigt. Armut und Unzufriedenheit in der Bevölkerung sind jedoch weiterhin groß. Sie waren Auslöser für die Unruhen zu Anfang des Jahres 2009.


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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
38. Jahrgang, Nr. 2, März/April 2009, S. 34 - 37
Herausgeber: informationsstelle südliches afrika e.V. (issa)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2009