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ASIEN/1004: Samarkand-Gipfel vor historischen Entscheidungen (WeltTrends)


WeltTrends Nr. 190 / August 2022
Das außenpolitische Journal

Samarkand-Gipfel vor historischen Entscheidungen

Vladimir Norov zur Shanghaier Organisation

von Hubert Thielicke


Usbekistan hat derzeit den Vorsitz der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) inne. Auf ihrem diesjährigen Gipfeltreffen in Samarkand werden die Mitgliedstaaten am 15. und 16. September die vor der Organisation stehenden neuen Herausforderungen und Aufgaben erörtern.

Die SOZ habe sich in einer historisch kurzen Zeitspanne zur weltgrößten Regionalorganisation entwickelt kurzen und sei heute ein integraler Bestandteil der globalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, erklärte Vladimir Norov, amtierender Außenminister Usbekistans, in einem Interview am 15. Juni aus Anlass des 21. Jahrestages der Gründung der Organisation. Angesichts riesiger Reserven an Rohstoffen, Industrieprodukten, Arbeitskräften und technologischem Potenzial sei der SOZ-Raum eine autarke Region. Mit mehr als 34 Millionen Quadratkilometern umfasse er etwa 60 Prozent der Fläche Eurasiens. Die Gesamtbevölkerung von ca. 3,2 Milliarden Menschen entspreche fast der Hälfte der Erdbevölkerung. Das SOZ-Bruttosozialprodukt betrage etwa ein Viertel von dem der Welt. Vladimir Norov ist nicht nur ein erfahrener usbekischer Außenpolitiker und Diplomat, er war auch von 2019 bis 2021 Generalsekretär der SOZ. Seit April 2022 ist er Erster Stellvertretender Außenminister und zugleich amtierender Minister.[1] Seiner Meinung nach wächst die Rolle der Organisation vor dem Hintergrund verstärkten Misstrauens und feindseliger Stimmungen in der Welt. Die Teilnahme von Ländern mit reicher Geschichte und einzigartigem kulturellem Erbe würde zur Stärkung von gegenseitigem Verständnis und der Zusammenarbeit in Eurasien beitragen.


Zentralasien im Fokus

Die SOZ sei vor allem aufgrund der neuen Situation in Zentralasien nach dem Zusammenbruch des bipolaren Systems Ende des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, so Minister Norov. In dieser kritischen Periode sei die institutionalisierte regionale Kooperation für die jungen unabhängigen zentralasiatischen Staaten eine objektive Notwendigkeit gewesen. Die Organisation war so ein direktes Ergebnis der Anstrengungen, Stabilität, Sicherheit und regionale Kooperation in Zentralasien zu gewährleisten. Unbestreitbar wären insbesondere die Erfolge bei der Bekämpfung von Terrorismus, Extremismus und Separatismus. Immerhin sei die SOZ-Konvention über den Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus vom 15. Juni 2001 das erste multilaterale Dokument gewesen, welches das Konzept des Terrorismus definierte. Die in Taschkent basierte Regionale Anti-Terroristische Struktur der SOZ (RATS) koordiniere die gemeinsamen Maßnahmen, um die Ursachen, Quellen und Manifestationen der "drei Übel" zu beseitigen.

In der 2021 auf dem SOZ-Jubiläumsgipfel in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe verabschiedeten Deklaration hätten die Staatschefs aller Mitgliedstaaten die jüngsten Anstrengungen der zentralasiatischen Staaten unterstützt, Stabilität und nachhaltige Entwicklung zu sichern und einen Raum des Vertrauens und der Freundschaft zu schaffen, wobei die ursprünglich von Usbekistan unterbreitete Initiative über reguläre Konsultativtreffen der Staaten Zentralasiens eine wichtige Rolle spiele.


Prioritäten der Kooperation zwischen Usbekistan und SOZ

Usbekistan gehörte zwar nicht zu den "Shanghaier Fünf", die Mitte der 1990er Jahre zur Regelung von Grenzfragen zwischen China, Russland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan geschaffen wurden, spielte aber eine aktive Rolle bei der Umwandlung der Dialog-Plattform in eine eigentliche Organisation. Als einer der sechs SOZ-Gründerstaaten trug Usbekistan zur Entwicklung der Grundprinzipien und -dokumente der Organisation wie auch ihrer Institutionen bei. Die vielseitige Kooperation der SOZ-Mitglieder diene nach Ansicht von Vladimir Norov der Stärkung der regionalen und interregionalen Kooperation. Insgesamt sei die SOZ eine multilaterale Plattform für ein offenes, pragmatisches und gegenseitig nützliches Zusammenwirken. Wie der amtierende Außenminister betonte, basiere die Strategie seines Landes in der SOZ auf solchen Schlüsselprinzipien wie Initiative, Konstruktivität, Pragmatismus und Offenheit für Kooperation.

Von 2017 bis 2021 unterbreitete der usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev auf den Gipfeltreffen der SOZ etwa 50 wichtige Initiativen, die in entsprechende "Roadmaps", rechtliche, politische und konzeptionelle SOZ-Dokumente eingingen, aber auch in neue Mechanismen der multilateralen Zusammenarbeit. Es ginge um die weitere Stärkung des Potenzials der Organisation bei der multilateralen Kooperation auf dem Gebiet des interregionalen Handels, der industriellen Kooperation, der Innovation, der "grünen" und digitalen Wirtschaft. Der "Shanghaier Geist" werde mittels Public Diplomacy, Stärkung der Freundschaft und guten Nachbarschaft, neuer kultureller und humanitärer Initiativen, der Aufnahme neuer Richtungen und Kooperationsformen in die SOZ-Agenda umgesetzt: Informations- und Kommunikationstechnologien, Reduzierung der Armut, Vergrößerung des globalen Profils der Organisation und die Erweiterung ihrer internationalen Kooperation.

Der Plan für den derzeitigen SOZ-Vorsitz Usbekistans beinhalte mehr als 80 Hauptaktivitäten. Dazu habe Taschkent einige neue Kooperationsgebiete eingeführt: Beratungen des Rates der Nationalen Koordinatoren fanden in Nukus, Buchara und Ferghana statt, ein Treffen der Transportminister am 12. Mai in Chiwa und eine internationale Konferenz zu Armutsproblemen in Buchara (11.-12. Mai). Weitere Veranstaltungen seien für August in Samarkand geplant. Ministertreffen würden von thematischen Foren begleitet, wie beispielsweise das SOZ-Forum über Public Diplomacy (11.-12. Mai) oder das Tourismus-Forum (20. Mai). Alle diese von Usbekistan angeregten Plattformen seien auf praktische Vereinbarungen und künftige Projekte gerichtet. Während des usbekischen Vorsitzes wären 14 konzeptionelle Dokumente vorbereitet worden, darunter eine Verkehrsverbundsstrategie, ein interregionaler Handelsentwicklungsplan oder ein Infrastruktur-Entwicklungsprogramm. Dabei gehe es unter anderem um die Eliminierung von Handelsbarrieren, die Konvergenz technischer Vorschriften und die Digitalisierung der Zollverfahren. Ein besonders innovatives Projekt entstehe dabei in der Region Samarkand als Teil der Industriezone Usbekistan-SOZ - ein Mechanismus zur Umsetzung des Programms für die Stimulierung der industriellen Kooperation zwischen den SOZ-Geschäftskreisen, um zusätzliche Investitionen und technologisch-innovative Lösungen für die Herstellung von Produkten mit hoher Wertschöpfung anzuziehen.

Eine wichtige Initiative Taschkents betreffe die Interkonnektivität im Rahmen der SOZ, um das gewaltige Transport- und Transitpotenzial im weiten Raum der Organisation effektiv zu nutzen - die beschleunigte Umsetzung von Transportkorridoren wie Usbekistan-Kirgistan-China, Termez-Mazar-i-Sharif-Kabul-Peshawar, Lanzhou-Kashgar-Irkeshtam-Osh-Andijan-Taschkent-Mari.


Und Afghanistan?

Die von Usbekistan vorgeschlagene SOZ-Konnektivitätsstrategie werde auch zur Wiederbelebung der einzigartigen Wirtschafts- und Transitrolle Afghanistans in Eurasien beitragen. Das Land sei ein Schlüsselfaktor für die Gewährleistung langfristiger Sicherheit und Stabilität in der Region. Leider habe derzeit die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan etwas nachgelassen. Die Tragödie des afghanischen Volkes, falls es allein gelassen würde, könnte jedoch zu neuen Flüchtlingsströmen und zum Wiederaufleben von Drogenhandel und Terrorismus führen.

Kein SOZ-Mitglied sei an einer Brutstätte der Instabilität im Herzen Eurasiens interessiert, so Norov. Hier müsse die SOZ eine wichtige Rolle spielen und Kabul in regionale Initiativen einbinden. Deshalb sei die Förderung konsolidierter Verfahren in Bezug auf die Nachkriegsentwicklung Afghanistans im Rahmen der SOZ eine Priorität des Vorsitzes Taschkents.


SOZ-Gipfel in Samarkand

Das Hauptereignis des usbekischen SOZ-Vorsitzes werde der Gipfel in Samarkand sein, einer Stadt von großer historischer Bedeutung - eine "Perle der Großen Seidenstraße". In jüngster Zeit habe die Rolle Samarkands als Ort wichtiger internationaler Treffen zugenommen, so etwa mit der Ausrichtung der Internationalen Konferenz "Zentralasien: Eine Vergangenheit und eine gemeinsame Zukunft, Kooperation für nachhaltige Entwicklung und gemeinsamen Wohlstand" (2017), dem Asiatischen Forum über Menschenrechte (2018), woraus das Samarkand-Forum über Menschenrechte (2020) wurde - alles das sei Ausdruck des "Geistes von Samarkand".

Angesichts der tiefgreifenden Transformation der heutigen internationalen Beziehungen werden die Staatschefs auf dem Gipfel die vor der Organisation stehenden neuen Herausforderungen und Aufgaben diskutieren und wichtige Entscheidungen zur weiteren Entwicklung der Organisation treffen. Eine Hauptfrage werde die Erweiterung der Shanghaier Organisation sein. Ein Memorandum of commitments (Verpflichungserklärung) der Islamischen Republik Iran zur Erreichung der SOZ-Mitgliedschaft läge bereits zur Unterzeichnung vor.[2] Das Dokument werde den Weg zur vollständigen Mitgliedschaft des Landes ebnen. Darüber hinaus ginge es um die Anträge von etwa zehn Staaten zur Teilnahme an SOZ-Aktivitäten, ob als Mitglied, Beobachter oder Dialogpartner. So wurde im Juni angekündigt, dass der Ministerrat von Belarus beschlossen habe, die SOZ-Mitgliedschaft zu beantragen.[3] Ein Antrag, der offensichtlich im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg steht. Derzeit ist Belarus Beobachter. Den Status von Dialogpartnern haben Armenien, Aserbaidschan, Kambodscha, Nepal, Sri Lanka und die Türkei.


Anmerkungen:

[1] Dr. Vladimir Norov war u.a. Botschafter in Deutschland, 2006-2010 Außenminister, 2017-2018 Stellv. Sekretär des Sicherheitsrates beim Präsidenten und Direktor des Instituts für Strategische und Regionale Studien. Der bisherige Außenminister Abdulaziz Kamilov wurde zum Sondervertreter des Präsidenten Usbekistans für Fragen der Außenpolitik ernannt.

[2] Mit der Aufnahme Irans hätte die SOZ neun Vollmitglieder: China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan.

[3] Belarus intends to join Shanghai Cooperation Organisation, vgl.
https://caliber.az/en/post/86984/.


Dr. Hubert Thielicke, Botschaftsrat a.D., Politikwissenschaftler und Publizist, Mitglied im WeltTrends-Beirat

Der Schattenblick veröffentlicht den Artikel mit der freundlichen Genehmigung des Autors und der Redaktion WeltTrends.

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Quelle:
WeltTrends Nr. 190 / August 2022, S. 13-17
Das außenpolitische Journal
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 15. August 2022

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