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ASIEN/776: Erstes Gipfeltreffen des Kooperationsrats turksprachiger Staaten (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 45 vom 11. November 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Ein neuer Spieler am zentralasiatisch-kaspischen Schachbrett
Erstes Gipfeltreffen des Kooperationsrats turksprachiger Staaten

von Willi Gerns


Vom 20. bis zum 21. Oktober hat in Alma-Ata das erste Gipfeltreffen des Kooperationsrats turksprachiger Staaten stattgefunden. Teilnehmer waren die Präsidenten Aserbaidschans, Kasachstans und Kirgistans, Ilcham Alijew, Nursultan Nasarbajew und Rosa Otunbajewa sowie der Vizeministerpräsident der Türkei, Bekir Bozdag.


Kooperation nach dem Ende der UdSSR

Die Idee einer Integration turksprachigen Völker und Staaten unter Führung der Türkei ist nicht neu. Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Entstehung unabhängiger Staaten auf dem Territorium von deren ehemaligen Teilrepubliken in Zentralasien hat sie jedoch sowohl in der Türkei wie in Zentralasien neuen Auftrieb erhalten.

In den jungen Republiken Zentralasiens und der Kaspi-Region fiel sie auf einen günstigen Boden, suchten deren herrschende Gruppen und Eliten doch nach einer neuen Identität. Sie fanden diese in der Geschichte, in der turkischen Sprache und Kultur. Diese verbinden sie mit anderen turksprachigen Völkern und Staaten, einschließlich der Türkei.

Sprachliche und kulturelle Projekte standen darum zunächst auch im Mittelpunkt der Gipfeltreffen turksprachiger Staaten, die bereits 1992 mit der Zusammenkunft in Ankara ihren Anfang nahmen. Dem folgten weitere Treffen mit verschiedenen Staaten als Gastgeber. Die kulturelle Thematik wurde dabei später mehr und mehr durch Vorhaben wirtschaftlicher Zusammenarbeit ergänzt. Im Unterschied zu anderen regionalen Organisationen und Vereinigungen gab es bis in die jüngste Zeit aber faktisch keine festen Strukturen für das Zusammenwirken der turksprachigen Staaten.

Einen Wendepunkt bedeutete in dieser Beziehung das zehnte Gipfeltreffen, das im September 2010 in Istanbul stattfand. Hier wurde nun offiziell die Bildung eines turkischen Rats vereinbart sowie dessen leitende Organe, der Rat der Staatsoberhäupter, der Rat der Außenminister und ein Ältestenrat. Außerdem wurde ein Rat für wirtschaftliche Fragen beschlossen, dessen Wirken auf den Ausbau der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen gerichtet sein soll. Das Sekretariat des turkischen Rats hat seinen Sitz in Istanbul. Zum Generalsekretär wurde ein ehemaliger türkischer Botschafter in Moskau bestellt.

Das Gipfeltreffen in Alma-Ata im Oktober dieses Jahres fand nun erstmals im Format der neuen organisatorischen Strukturen statt. Zugleich wurden Arbeitsgruppen zur weiteren Umsetzung der Vereinbarungen von Istanbul gebildet. Dabei geht es darum, den Rat für wirtschaftliche Fragen zu installieren und in seinem Rahmen Arbeitsgruppen zu bilden, deren Aufgabe darin besteht, Barrieren zu überwinden, die einer intensiveren Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten im Weg stehen.


Es geht um Öl

Zum Abschluss des Treffens wurde eine Deklaration verabschiedet, in der es u. a. heißt: Die Teilnehmer, "die sich von der Gemeinschaft der Geschichte, der Kultur, der Eigenart und der Sprache leiten lassen, bringen ihre Entschiedenheit zum Ausdruck, auch weiterhin die gegenseitigen Interessen, die Beziehungen und die Solidarität zu entwickeln." Weiter wird festgestellt: Die Teilnehmer des Gipfels "bringen ihre Absicht zum Ausdruck, die Beziehungen auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Handels zu entwickeln". Das Hauptziel sei, "die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Gewährleistung der freien Bewegung der Waren, des Kapitals, der Dienstleistungen und der Technologie zwischen den Mitgliedsstaaten des Turkrates." Und dann das Wichtigste: Die Teilnehmer "bestätigen die wachsende Rolle der Energieressourcen der Kaspi-Region zur Gewährleistung der Energiesicherheit Europas, brachten die Zuversicht darüber zum Ausdruck, dass die strategische Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan und die Gasleitung Baku-Tiflis-Erzurum nicht nur zur globalen Energiesicherheit beitragen, sondern auch die stabile wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern der Region gewährleisten" werde. Betont wird "die Wichtigkeit der weiteren Nutzung der wachsenden Kapazitäten der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline" und die besondere Rolle "der Verbindung zwischen den vorhandenen und zukünftigen Häfen des Kaspischen Meeres und den Erdölterminals der turksprachigen Staaten mit der Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan und anderen Transportsystemen, die ihren Anfang auf dem Territorium der Republik Aserbaidschan nehmen".

Diese Aussagen der Deklaration machen unmissverständlich klar, worum es bei der Kooperation der turksprachigen Staaten in erster Linie geht. Gemeinsamkeiten in Sprache, Kultur und Geschichte sind nur noch schmückendes Beiwerk. Während die Türkei bestrebt ist, über die Integrationsprozesse Zugriff auf die reichen Ressourcen an Energieträgern in der kaspischen und zentralasiatischen Region zu erhalten, wollen deren Staaten günstigere Bedingungen für den Verkauf der Ressourcen erreichen, indem sie das russische Transportmonopol aufbrechen. Kurzum, es geht um Öl und Gas sowie die Transportwege zu ihrer Vermarktung.


Neuer Spieler - neue Widersprüche

Darum geht es aber auch den anderen großen Akteuren in dieser Region, den USA, China, der EU und insbesondere Russland, zu dessen traditionellen Einflussgebieten die Region gehört. Fortschritte bei der Kooperation der turksprachigen Staaten finden bei den genannten Akteuren sicher eine unterschiedliche Resonanz. In den USA und der EU wird man sie nicht ungern sehen. Dürften diese sich doch größere Möglichkeiten einer ökonomischen und politischen Einflussnahme auf die Teilnehmerstaaten des Turkrates über ihren NATO-Partner und EU-Bewerber Türkei erwarten.

Anders dagegen China und Russland. China hat Anlass nicht darüber begeistert zu sein, dass von Integrationsprozessen der Turkstaaten Impulse auf die separatistischen Bestrebungen von Teilen seiner turksprachigen Nationalitäten ausgehen könnten. Außerdem kann der angepeilte stärkere Ölexport aus der Region über die in der Deklaration genannten Pipelines und Häfen nach Europa möglicherweise Grenzen für die Befriedigung des chinesischen Ölhungers setzen. Was Russland betrifft, so sieht es natürlich Gefahren für seine beherrschende Position beim Transport der zentralasiatischen und kaspischen Energieressourcen nach Europa. Zugleich befürchtet es, dass seine Rolle als Hauptintegrator im postsowjetischen Raum gefährdet werden könnte. So schreibt z.B. der russische Politologe Aleksandr Schustow: "Die Verwandlung des turkischen Rates in eine vollwertige internationale Vereinigung steht objektiv im Widerspruch zur Mitgliedschaft Kasachstans, des vom Territorium her größten turksprachigen Landes der Welt, in der Zollunion. Angesichts der Tatsache, dass die Zollunion von Russland, Belarus und Kasachstan wesentlich weiter geht als jedes andere postsowjetische Integrationsprojekt, kann der erneut in Gang gesetzte Integrationsprozess der turksprachigen Staaten nicht ohne Aufmerksamkeit bleiben." Zudem wird in einem auf fergana.ru" veröffentlichten Beitrag noch auf einen anderen gewichtigen Aspekt hingewiesen. Auf dem Territorium Russlands selbst lebt eine große Zahl von Völkern aus dem turksprachigen Kulturkreis, von denen viele ihre eigenen nationalen Republiken haben. Deshalb - so wird festgestellt - könnte "eine erfolgreiche Entwicklung der Integration turksprachiger Staaten unter gewissen Umständen zu einem 'Leuchtfeuer' werden, das keineswegs die Einheit des russischen Staates fördert." Der Politologe Michail Filatow bezeichnet den Rat der turksprachigen Staaten sogar als "elementare Provokation, die auf die Errichtung neuer Teilungslinien zwischen den zahlreichen Völkern und Ethnien in Zentralasien" ziele, "die im Verlauf von Jahrtausenden in dieser Region Seite an Seite miteinander leben". So zeichnet sich ab, dass mit dem neuen Spieler am zentralasiatisch-kaspischen Schachbrett die ohnehin starken Widersprüche und Probleme in dieser Region noch weiter zunehmen könnten.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 45 vom 11. November 2011, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2011