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ASIEN/791: China - Tibetische Proteste weiten sich aus (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Februar 2012

China: Tibetische Proteste weiten sich aus

von Emily-Anne Owen


Peking, 14. Februar - In den tibetischen Regionen im Westen Chinas nimmt die Zahl der Selbstverbrennungen und Proteste immer weiter zu. Inzwischen sind es nicht mehr ausschließlich Nonnen und Mönche, die aus Protest gegen die chinesische Staatsmacht ihr Leben opfern, sondern auch gewöhnliche Menschen.

Drei tibetische Hirten zündeten sich am 3. Februar in der Stadt Seda in der Provinz Sichuan an, berichtet die in Peking lebende Aktivistin und Autorin Tsering Woeser in ihrem Blog. Angeblich kam einer ums Leben, die anderen beiden schweben in Lebensgefahr. Einem Bericht von 'Radio Free Asia' zufolge hatten sie die Rückkehr des Dalai Lamas ins freie Tibet gefordert. Die chinesische Regierung bestreitet, dass es zu den Selbstverbrennungen gekommen ist.

Bisher waren es ausschließlich Mönche und Nonnen, die mit ihren Selbstverbrennungen gegen die Besetzung Tibets und die Unterdrückung der Tibeter protestiert hatten. So zündete sich am 13. Februar der 19-jährige Mönch Lobsang Gyatso in Aba in Sichuan selbst an. Menschenrechtsorganisationen zufolge wurde das Feuer von der Polizei gelöscht. Ob Gyatso überlebt hat, ist unbekannt.


20 Selbstverbrennungen seit 2011

Zwei Tage zuvor setzte sich die 18-jährige tibetische Nonne Tenzin Choedron in Aba in Flammen. Der staatlichen Nachrichtenagentur 'Xinhua News Agency' zufolge starb sie auf dem Weg ins Krankenhaus. In der gleichen Woche hatte sich Rinzin Dorje, ein ehemaliger Mönch aus dem Kirti-Kloster in der Stadt Ngaba, selbst verbrannt. Die Zahl der Selbstverbrennungen ist seit Anfang letzten Jahres auf 20 gestiegen.

In Seda kam es im letzten Monat zu massiven Ausschreitungen, als die Polizei das Feuer auf Demonstranten eröffnete. Die Zahl der Todesopfer wird auf zwei bis elf geschätzt. Da Journalisten und Menschenrechtlern der Zugang in das Gebiet versperrt wird und die Internetverbindungen und Telefonleitungen angesichts der Unruhen gekappt wurden, können konkrete Angaben nicht ermittelt werden.

Zu weiteren Protesten kam es in den ebenfalls in Sichuan liegenden Regionen Luhuo und Rangtang.

Die Nachrichtenagentur Xinhua machte "Kräfte aus Übersee" für die Unruhen verantwortlich. Zwei Demonstranten seien bei dem Versuch, Polizeistationen anzugreifen, getötet worden, hieß es.

Für Robert Barnett, einem tibetischen Wissenschaftler an der Columbia University in New York, sind die zunehmenden Proteste und Selbstverbrennungen Anzeichen dafür, dass sich die Unruhen immer weiter ausbreiten. Seien in der Vergangenheit vor allem Vertreter der Mittelschicht in den größeren Städten auf die Straße gegangen, würden sich inzwischen Bauern und Nomaden in den ländlichen Gebieten erheben. Auch Studenten und wohlhabende Tibeter gingen auf die Barrikaden.

"Inzwischen gibt es immer mehr Menschen, die offen ihren Wunsch nach Unabhängigkeit äußern oder die verbotene tibetische Fahne schwenken", erläuterte der Wissenschaftler im IPS-Gespräch. "Vielleicht sind sie mutiger geworden - oder aber der Nationalismus nimmt zu."


Aggressiv durch massive Polizeipräsenz

Für viele Tibeter hat die erhöhte Präsenz der chinesischen Sicherheitskräfte, verbunden mit der verstärkten Kontrolle der Klöster, das Fass zum Überlaufen gebracht. So war der Zorn groß, als die chinesischen Sicherheitskräfte auch bis ins Kirti-Kloster vordrangen, als die Tibeter vom 25. Januar bis 8. Februar das für sie so wichtige Festival des großen Gebets ('Monlam Chenmo') feierten, das sie mit rituellen Tänzen, Gebeten und dem Entfalten der Gebetsrollen begehen.

Der Internationalen Kampagne für Tibet (ICT) zufolge wurden die Sicherheitsvorkehrungen dramatisch erhöht. Sie berief sich auf einen exilierten Kirti-Mönch im indischen Dharamsala, demzufolge etwa 400 Polizisten bis ins Kloster vorgedrungen seien. Auch in der Stadt Ngaba wurden Menschen durchsucht, ausgefragt und belästigt. "Die Straßen waren voll von Armee, Polizei und Sonderpolizei", heißt es in einem ICT-Bericht.

Dass die Regierung friedliche Demonstrationen auflöst und immer mehr in das Alltagsleben der Tibeter eingreift, steht in einem starken Gegensatz zum Umgang Pekings mit chinesischen Protesten. Als in der chinesischen Ortschaft Wukan die Dorfbewohner Ende letzten Jahres gegen die verbreitete Korruption und Landraub demonstrierten, bemühte sich die Regierung erfolgreich um eine friedliche Lösung.

"Ich mache mir Sorgen", meinte Kanyag Tsering, ein ehemaliger Mönch aus dem Kirti-Kloster, der in Dharamsala im Exil lebt. Sollte die laufenden Repressionen fortgesetzt werden, könnte es zu mehr Selbstverbrennungen wenn nicht gar Massakern kommen, befürchtet er. "Denn eins ist klar: Die Tibeter gehen auf Konfrontationskurs und werden nicht einlenken."

Die tibetische Bevölkerung müsse "Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr eine unerträgliche Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Unterdrückung erdulden", sagte er und zitierte einen Tibeter, dem zufolge "wir Tibeter in Ngaba selbst dann kein Mitleid erfahren, wenn wir uns selbst verbrennen oder getötet werden". (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2012