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ASIEN/877: Afghanistan - Bevölkerung will Gerechtigkeit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Januar 2014

Afghanistan: Bevölkerung will Gerechtigkeit

von Giuliano Battiston


Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Die afghanische Hauptstadt Kabul
Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Kabul, 8. Januar (IPS) - Werden wir je Gerechtigkeit erfahren? Diese Frage bewegt viele Afghanen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im April. Denn auf der Kandidatenliste stehen auch die Namen zahlreicher Warlords, die in dem Bürgerkriegsland schwere Verbrechen begangen haben, jedoch nie zur Verantwortung gezogen wurden.

"Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen werden darüber entscheiden, ob Afghanistan eine Zukunft als Rechtsstaat hat oder ob sich Missbrauch und Straffreiheit fortsetzen", sagte Brad Adams, Asien- Direktor von 'Human Rights Watch' (HRW). Im Rennen um das höchste politische Amt sind auch ehemalige Militär- und Milizenkommandeure, die an schweren Menschenrechts- und Kriegsverbrechen beteiligt waren.

HRW hat elf Präsidentschaftskandidaten 17 Fragen zu den dringlichsten Menschenrechtsproblemen im Land gestellt. Der Fragebogen wurde von der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) auf einem Treffen im Dezember in Kabul ausdrücklich begrüßt. An die Regierung ging die Aufforderung, eine Übergangsjustiz zu schaffen und Menschenrechts- und Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.


"Aus den Bärten tropft das Blut der Nation"

Mehrere Mitglieder des Oberhauses des afghanischen Parlaments forderten die Namen von Kriegsverbrechern aus der Liste der Präsidentschaftskandidaten zu streichen. Die afghanische Nachrichtenagentur 'Pajhwok' zitierte die Senatorin Balqis Roshan aus der Provinz Farah mit den Worten: "Aus den Bärten und Krawatten mancher gelisteter Personen tropft das Blut der Nation." Andere Senatoren wiederum lehnten den Vorstoß strikt ab und sprachen von einer "Verschwörung" gegen den Demokratieprozess.

Das islamistische Taliban-Regime war 2001 gestürzt worden. Drei Jahre später fanden Wahlen statt, die den amtierenden Präsidenten Hamid Karsai an die Macht brachten. Für die meisten Afghanen sind die Verbrechen der Vergangenheit jedoch weiterhin ein wichtiges Thema.

Etwa 90 Prozent der Bevölkerung betrachten sich als Kriegsopfer. Sie haben direkt oder indirekt Gewalt und Gräuel erlebt. "Wie können wir Frieden schaffen, ohne dies zu berücksichtigen?", fragte Aziz Rafiee vom Afghanischen Forum der Zivilgesellschaft. "Wenn Gerechtigkeit einfach für einen Waffenstillstand geopfert wird, kann es keinen echten Frieden geben", betonte er. "Es wird ein sehr, sehr brüchiger Frieden sein."

Laut einer 2005 durchgeführten Umfrage von AIHRC, die auf ausführlichen Interviews mit tausenden Menschen basiert, halten 94 Prozent der Befragten die Ahndung der Verbrechen der Vergangenheit für "sehr wichtig" (75,9 Prozent) beziehungsweise "wichtig" (18,5 Prozent). Auch Ergebnisse jüngerer Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der rund 30 Millionen Afghanen nicht nur die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen bestraft sehen will, sondern Gerechtigkeit als notwendige Voraussetzung für den Frieden betrachtet.

Hunderte Menschen hatten sich einen Tag nach dem Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember im Zentrum von Kabul versammelt, um den Nationalen Tag der Opfer zu begehen. Zu der Aktion hatte die Sozialvereinigung afghanischer Gerechtigkeitssucher (SAAJS) aufgerufen.


Vorwürfe gegen internationale Gemeinschaft

Die Demonstranten warfen der afghanischen Regierung ebenso wie der internationalen Staatengemeinschaft vor, zu wenig zu tun, um die Ahndung alter und neuer Verbrechen zu ermöglichen. Sie beriefen sich dabei auf einen im November 2013 veröffentlichten Vorermittlungsbericht des Internationalen Strafgerichtshofs, demzufolge "in Afghanistan Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Vergangenheit begangen wurden und auch heute noch begangen werden".

Raz Mohammad Dalili von der zivilgesellschaftlichen Organisation 'Sanayee' hält Ungerechtigkeit, die in einer Tradition der Straffreiheit wurzelt, für die Ursache der Gewalt in Afghanistan. Die Bürger hätten kaum Möglichkeiten, ihren Forderungen nach Gerechtigkeit Gehör zu verschaffen.

"Wenn ich heute ein Verbrechen begehe und niemand mir Einhalt gebietet, wie kann ich auch nur entfernt auf die Idee kommen, dass die Verbrechen der Vergangenheit gesühnt werden?", fragte Dalili. "In den vergangenen zwölf Jahren sind massenweise Gräuel begangen worden. Viele Täter sind noch immer an der Macht und nehmen Schlüsselpositionen ein. Wir wissen, wer sie sind - so genannte Warlords. Doch wie können wir sie vor Gericht bringen?"

Viele Afghanen sind überzeugt, dass die Ursachen von Unsicherheit und Gewalt zunehmen, solange der Ruf nach Gerechtigkeit ignoriert wird. "Der internationalen Gemeinschaft fehlte und fehlt der politische Willen, dafür zu sorgen, dass die Verbrecher vor Gericht gestellt werden", meinte Naim Nazari vom Netzwerk für die Zivilgesellschaft und die Menschenrechte.

In Afghanistan ist die Ansicht verbreitet, dass die Staatengemeinschaft nach dem Sturz der Taliban im Interesse einer kurzfristigen Stabilität zwielichtige politische und militärische Führer unterstützt hatte, statt einen Prozess der sozialen Versöhnung einzuleiten, der den Erwartungen der Bevölkerung und ihren Forderungen nach Gerechtigkeit entsprach.

"Die USA und die internationale Gemeinschaft haben den schlimmsten Verbrechern Macht gegeben", kritisierte der ehemalige Parlamentsabgeordnete Mir Ahmad Joyenda, der inzwischen für die unabhängige Afghanische Forschungs- und Evaluierungseinheit als Vizekommunikationschef tätig ist. "Der starke Wunsch der Afghanen nach Gerechtigkeit wurde unterschätzt, die Macht und die Einigkeit der Warlords überschätzt."

Joyenda erinnerte in diesem Zusammenhang an eine Warnung des ehemaligen Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, aus dem Jahr 2003, wonach Gerechtigkeit nicht dem Frieden geopfert werden dürfe. "Heute haben wir weder Frieden noch Gerechtigkeit." (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.hrw.org/asia/afghanistan
http://www.aihrc.org.af/
http://www.acsf.af/english/
http://www.youtube.com/user/afghanwarcrimes
http://cshrn.af/CSHRN_English/index.html
http://www.areu.org.af/?Lang=en-US
http://www.ipsnews.net/2014/01/afghans-want-justice-elections/

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IPS-Tagesdienst vom 8. Januar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2014