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ASIEN/933: Taiwan - Demokratie von unten, Countdown für neue Bürgerverfassung läuft (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Februar 2015

Taiwan: Demokratie von unten - Countdown für neue Bürgerverfassung läuft

von Dennis Engbarth



Bild: © Dennis Engbarth/IPS

Teilnehmer eines Forums vor dem taiwanischen Parlament in Taipeh im April 2014
Bild: © Dennis Engbarth/IPS

Taipeh, 6. Februar (IPS) - "Die Uhr tickt!" Mit diesen Worten hat Yeh Chueh-an von der zivilgesellschaftlichen Organisation 'Taiwan Democracy Watch' in der taiwanischen Hauptstadt Taipeh den Beginn des Countdowns für eine neue Verfassung kommentiert, in der Menschenrechte und soziale Gleichheit fest verankert sein sollen.

Die 'Allianz zur Förderung eines bürgerlichen Verfassungsrates', ein Zusammenschluss aus 20 Menschenrechts- und Sozialverbänden, hat eine Kampagne gestartet, die den 23 Millionen Taiwanern erstmals ermöglicht, die neue Landesverfassung mitzugestalten. Die digitale Stoppuhr wurde auf 116 Tage und zwölf Stunden eingestellt. Dann endet die laufende Sitzung des Legislativ-Yuan, des taiwanischen Parlaments.

Zunächst müssen die Änderungsvorschläge von drei Vierteln der 112 Parlamentarier angenommen und dann sechs Monate vor der Durchführung eines landesweiten Referendums angekündigt werden. Damit die Reform ratifiziert werden kann, muss mindestens die Hälfte aller 18 Millionen Stimmberechtigten ihr Ja dazu geben.

Die Änderungsentwürfe werden aller Voraussicht nach Vorkehrungen zum Schutz der menschlichen Würde, das Recht auf einen Wohnortwechsel, den Anspruch sozial schwacher Bevölkerungsgruppen auf Hilfeleistungen, bessere Arbeitsbedingungen und das Recht auf ungestörte Kommunikation und Privatsphäre beinhalten.

Am 12. Januar hatte die Allianz einen Zwei-Stufen-Plan vorgestellt, der auch die Durchführung einer Konferenz für nationale Angelegenheiten beinhaltet. An dem Treffen sollen politische Parteien, Abgeordnete, zivilgesellschaftliche Organisationen und andere Akteure teilnehmen und diskutieren, wie sich die Forderungen der zivilgesellschaftlichen Akteure am besten durchsetzen lassen.


Bürger im Mittelpunkt

"Die Bürger und nicht die politischen Eliten müssen im Mittelpunkt der Verfassungsreform stehen", meinte dazu der politische Wissenschaftler an der Nationalen Universität, Chen Chun-hung. "Wir müssen methodisch vorgehen, damit sich auch normale Bürger angesprochen fühlen und mit dazu beitragen, dass der Prozess zu einem erfolgreichen Ende gebracht wird."

Die derzeitige Verfassung der 'Republik China', wie Taiwan offiziell heißt, hatte das Festland-China entworfen. Sie wurde von der Regierung der Chinesischen Nationalpartei (Kuomintang oder KMT) nach deren Sieg im chinesischen Bürgerkrieg der 1940er Jahre und dem inzwischen verstorbenen Autokraten Chiang Kai-shek umgesetzt. Aufgrund der bis Ende der 1980er Jahre währenden martialischen Herrschaft konnten die Bürger noch nicht einmal die in der Verfassung enthaltenen bescheidenen demokratischen und bürgerlichen Rechte für sich in Anspruch nehmen.

Unter dem in Taiwan geborenen Staatspräsidenten Lee Teng-hui vollzog sich erstmals ein Wandel. Insgesamt sieben Verfassungsänderungen, meist in Form von Zusatzartikeln, verhalfen der Bevölkerung in den 1990er Jahren zu einem demokratisch gewählten aber sperrigen politischen System, in dem Macht und Verantwortlichkeit in keinem proportionalen Verhältnis zueinander stehen.

Obwohl direkt vom Volk gewählt, spielt der Präsident keine aktive Rolle in der Regierung. Er ernennt einen dem Parlament gegenüber nicht rechenschaftspflichtigen Regierungschef. Geraten Exekutive und Legislative in eine politische Sackgasse, fehlt es an Mechanismen, um die Pattsituation zu beenden.

"Wir haben ein System, das dem Präsidenten ermöglicht, ungestraft tun und lassen zu können, was ihm beliebt. Auch wenn er über keinen nennenswerten Rückhalt verfügt oder seine politischen Entscheidungen unpopulär sind, gibt es niemanden, der ihn stoppen könnte", erläuterte Lai Chung-chiang, der die Wirtschaftliche Demokratie-Union einberufen hat.

"Mit dem derzeitigen Regierungssystem sind wir nicht in der Lage, die drängenden Probleme wie die laxen Bestimmungen für Nahrungsmittelsicherheit, die ungleiche Verteilung des Wohlstands, die Gefährdung des Rechts, den Wohnort zu wechseln, und die unzureichende soziale Absicherung zu lösen", sagte der Generalsekretär der Taiwanischen Arbeiterfront, Sun Yu-lien.


Zäher Kampf

Der Widerstand des Staatspräsidenten Ma Ying-jeou und dessen Hardliner-KMT-Regierung hatte eine Verfassungsreform zunächst unmöglich erscheinen lassen. Doch soziale und politische Aktivitäten im Verlauf des letzten Jahres, die mit der Besetzung des taiwanischen Parlaments durch die 'Sonnenblumenbewegung' im April 2014 ihren Höhepunkt erreichten, brachten schließlich den Durchbruch.

Ausgelöst hatte die Besetzung der Legislativen der Versuch der Ma-Regierung, ein Gesetz durchzuboxen, dass ein kontroverses Dienstleistungsabkommen mit China ermöglichen sollte. Befürchtet wurde, dass der Vertrag mit Peking die lokale Industrie schädigen, Arbeitsplätze kosten, die soziale Ungleichheit vergrößern und demokratische Freiheiten einschränken könnte.

Die Protestkampagne, die eine Massendemonstration von mehr als 300.000 Menschen zur Folge hatte, verhinderte die Ratifizierung des Paktes. Ende April folgten dann Straßenproteste, die die ebenfalls umstrittenen Pläne, ein zehn Milliarden US-Dollar teures Atomkraftwerk zu bauen, zunichte machten.

Während der Parlamentsbesetzung forderten Aktivisten die Einrichtung eines Bürgerlichen Verfassungsrates. Doch erst der massive Stimmenverlust bei den Bürgermeisterwahlen im November rückte die Verfassungsänderung in greifbare Nähe.

Die oppositionelle Demokratisch-Progressive Partei (DPP) errang damals 13 Bürgermeisterämter, die KMT musste sich mit sechs begnügen, während unabhängige Kandidaten wie der bekannte Chirurg Ko Wen, der jetzt in Neu-Taipeh das Sagen hat, in drei Städten Einzug ins Bürgermeisteramt hielten.

Aus einer im Dezember veröffentlichten Umfrage von 'Taiwan Thinktank' geht hervor, dass 60 Prozent der 1.069 Teilnehmer den Ausgang der Bürgermeisterwahlen als klaren Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Ma-Regierung bewerteten.

Das Wahldebakel zwang Ma am 3. Dezember zur Niederlegung seines KMT-Vorsitzes. Sein Amtsnachfolger, der moderate Bürgermeister von Neu-Taipeh, rief zu der ersehnten Verfassungsänderung auf, die Taiwan zu einem Regierungssystem mit einem Kabinett verhelfen soll.

Für Sozialaktivisten und Menschenrechtsorganisationen genießt die Aufnahme der Grundrechte in die neue Verfassung höchste Priorität. Dazu meinte die Rechtswissenschaftlerin an der Nationalen Universität von Taiwan, Chen Chao-ju, dass Verfassungen vieler junger Demokratien wie beispielsweise der von Südafrika besondere Bestimmungen zur Sicherstellung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit beinhalteten.


Nägel mit Köpfen machen

"Wir brauchen konkrete Bestimmungen zum Schutz grundlegender Menschen- und Sozialrechte, gegen die der Staat nichts ausrichten kann und die auch nicht durch ein öffentlich-privates Gemauschel außer Kraft gesetzt werden können", fügte sie hinzu.

Durch solche gut festgezurrten Bestimmungen ließen sich in einem Land, das den Bürgern die Gleichheit schuldig geblieben sei, zum Beispiel bessere Arbeitsrechte einfordern.

Auch wenn die Arbeitslosigkeit 2014 leicht auf 3,96 Prozent und somit und das niedrigste Niveau seit der Rückkehr der KMT an die Macht gesunken ist, lag die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen im gleichen Jahr bei durchschnittlich 12,63 Prozent. Die Erwerbslosigkeit in Taiwan war somit höher als die in Japan mit 3,5 Prozent, in Südkorea mit 3,4 Prozent und in Hongkong mit 3,3 Prozent.

Gleichzeitig ist nach Angaben des Generaldirektorats für Budgetplanung, Bilanzen und Statistik der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahre 2013 um 0,87 Prozent auf 44,65 Prozent und somit auf das zweitniedrigste Niveau der taiwanischen Geschichte gefallen. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Unternehmerprofite am BIP um 1,41 Prozent auf 33,45 Prozent.

"Die Früchte des Wirtschaftswachstums haben die Konglomerate und Aktionäre geerntet. Die Löhne stagnieren, und die Zahl der Working Poor steigt", kritisierte der Generalsekretär der Taiwanischen Arbeiterfront, Sun You-lien.

Taiwans Bürger sowie Sozial-, Wirtschafts- und Politikexperten zählen nun die Tage bis zur Verfassungsreform, die eine Ära der Demokratie und Entwicklung einläuten soll, mit der viele in Taiwan nicht mehr gerechnet hatten. (Ende/IPS/kb/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/02/taiwanese-activists-push-for-citizen-based-constitution/

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IPS-Tagesdienst vom 6. Februar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2015

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