Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → AUSLAND


ASIEN/946: Afghanistan - Korruption und Fehlplanungen, US-Steuerzahler finanzieren Geisterschulen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Juni 2015

Afghanistan: Korruption und Fehlplanungen - US-Steuerzahler finanzieren Geisterschulen

von Kanya D'Almeida


Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Schüler des Nationalen Instituts für Musik in Afghanistan
Bild: © Shelly Kittleson/IPS

NEW YORK (IPS) - Seit 2002 haben die USA mehr als 100 Milliarden Dollar in die Entwicklung und den Wiederaufbau Afghanistans mit etwa 30 Millionen Einwohnern investiert. Hinzu kommen Billionen Dollar für US-Militäroperationen.

Laut politischen Beobachtern wird die Präsenz der US-Truppen nach dem Einmarsch in Afghanistan 2001 in erster Linie als kolossaler und kostspieliger Fehlschlag in die Geschichtsbücher eingehen. Schätzungsweise 26.000 Zivilisten kamen im direkten Zusammenhang mit US-Militäraktionen ums Leben. Auf US-amerikanischer Seite starben binnen zehn Jahren 2.000 Armeeangehörige.

Andererseits wird auf wirtschaftliche und soziale Lichtblicke in dem ansonsten eher düsteren Panorama der US-Besatzungszeit hingewiesen. Als "positive" Folgen der Intervention der Vereinigten Staaten hebt unter anderem die US-Entwicklungsbehörde USAID die gestiegene Lebenserwartung der Afghanen, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und die Öffnung des Bildungssektors für breitere Bevölkerungsschichten hervor.

Untersuchungen des Sonder-Generalinspekteurs für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR), John F. Sopko, fügen den optimistischen Nachrichten über den Wiederaufbau jedoch den sprichwörtlichen Wermutstropfen hinzu.

In einer Rede am 5. Mai erklärte Sopko, dass der Wiederaufbau eine "gewaltige und weitreichende Unternehmung" sei, die praktisch jeden Bereich der afghanischen Gesellschaft betreffe. Unterstützung sei für die afghanische Armee und Polizei, für neue Brunnen und alternative Kulturen zum Mohnanbau bereitgestellt worden. Damit hätten die USA für Afghanistan mehr Geld zur Verfügung gestellt als zur Finanzierung des gesamten Marshall-Plans nach dem Zweiten Weltkrieg.


US-Kontrollstellen Versagen vorgeworfen

"Doch", so Sopko; "sind bis heute hohe Summen an Steuergeldern durch Verschwendung, Betrug und Missbrauch verloren gegangen. Solche Katastrophen ereignen sich häufig, wenn US-Beamte, die Programme umsetzen und überwachen, außerstande sind, Realität und Fantasie zu unterscheiden."

Erst kürzlich lieferten zwei afghanische Minister eine Bestätigung für diese beunruhigende Entwicklung, als sie dem Parlament unter Berufung auf Medienberichte über Betrug im Bildungswesen berichteten. Zwei ehemalige Staatsbeamte, die während der Regierungszeit von Präsident Hamid Karsai im Amt gewesen seien, hätten die Zahl der Schulen in Afghanistan wissentlich zu hoch angegeben, um kontinuierliche finanzielle Unterstützung aus dem Ausland zu erhalten.

"SIGAR nimmt solche Anschuldigungen sehr ernst. Da sie in diesem Fall von hochrangigen Regierungsbeamten geäußert wurden und USAID etwa 769 Millionen Dollar in den afghanischen Bildungssektor investiert hat, haben wir Ermittlungen eingeleitet", sagte ein Sigar-Vertreter.

Die am 18. Juni begonnene Untersuchung soll unter anderem Daten überprüfen, denen zufolge die offizielle Entwicklungshilfe zu einem sprunghaften Anstieg der Zahl der angemeldeten Schüler von etwa 900.000 im Jahr 2002 auf mehr als acht Millionen im Jahr 2013 geführt haben soll. USAID hält zwar an diesen vom afghanischen Bildungsministerium bereitgestellten Angaben fest, kann ihre Richtigkeit aber nicht anhand unabhängiger Quellen untermauern.


"Geisterschüler und Geisterlehrer"

Angesichts von Vorwürfen, in Afghanistan gebe es "Geisterschulen, Geisterschüler und Geisterlehrer", soll USAID die Daten verifizieren, um ausschließen zu können, dass US-Steuergelder verschwendet wurden. In einem Land mit etwa 14.200 vorwiegend in ländlichen Gebieten liegenden Schulen ist dies allerdings keine einfache Aufgabe.

Im vergangenen Jahr berichtete SIGAR, dass das Ministerium selbst die Schüler als "angemeldet" betrachtet habe, die seit drei Jahren keinen Unterricht mehr besucht hätten. Daraus ist zu schließen, dass die Zahl der Kinder, die tatsächlich zur Schule gehen, weit niedriger ist als die von US-Behörden berücksichtigten offiziellen Angaben glauben machen wollen.

In seiner Rede im Mai erklärte Sopko, ein leitender USAID-Beamter sei davon ausgegangen, dass etwa vier Millionen Kinder in Afghanistan die Schulbank drückten. Das wäre weniger als die Hälfte der Schüler, von denen die USA bei der Berechnung ihrer Hilfen ausgingen. Es stehe allerdings außer Frage, dass der afghanische Bildungssektor kontinuierliche Förderung benötige.

Laut dem Kabul-Büro der Weltkulturorganisation UNESCO gehört die Alphabetisierungsrate in Afghanistan mit etwa 31 Prozent zu den niedrigsten der Welt. Von den Frauen sind demnach lediglich 17 Prozent alphabetisiert. Es gibt ein hohes Bildungsgefälle zwischen der Hauptstadt Kabul mit einer Alphabetisierungsrate von 34 Prozent und entlegenen Gebieten im Süden mit einer Alphabetisierungsrate von nicht einmal zwei Prozent.


Auch durchschnittliche Lebenserwartung geschönt

Kontrollbehörden wie SIGAR fordern, dass derartige Probleme mit Effizienz, Transparenz und Genauigkeit angegangen werden. Die Diskrepanzen zwischen den afghanischen Behördenstatistiken und der Wirklichkeit zeigen sich in fast allen Bereichen, in denen Wiederaufbaumaßnahmen umgesetzt wurden.

USAID hatte 2014 berichtet, dass die Lebenserwartung zwischen 2002 und 2014 von durchschnittlich 42 Jahren auf mehr als 60 Jahre gestiegen sei. Wären diese Zahlen korrekt, so hätten sich die Lebensumstände der Afghanen enorm verbessert. SIGAR konnte hingegen mit anderen Daten aufwarten, die sich unter anderem auf Zahlen des US-Geheimdienstes CIA und der Vereinten Nationen stützen. Demnach liegt die durchschnittliche Lebenserwartung nur bei knapp 50 Jahren.

Wie hoch die durch Missmanagement, Diebstahl und Korruption verursachten finanziellen Verluste tatsächlich ausfallen, kann SIGAR zwar nicht feststellen. Ein Vertreter ging im Gespräch mit IPS aber davon aus, dass wohl Milliarden Dollar an US-Steuergeldern verpulvert worden sind. (Ende/IPS/ck/22.06.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/06/take-good-news-on-afghanistans-reconstruction-with-a-grain-of-salt/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Juni 2015
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang