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ASIEN/966: China - Weg aus der Wirtschaftskrise (Helmut Peters)


China - Weg aus der Wirtschaftskrise

Von Helmut Peters - Berlin, April 2016


Die VR China durchlebt gegenwärtig die wohl schwierigste Phase ihrer Entwicklung seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik vor über 36 Jahren. Was die Situation so schwierig und in gewisser Weise unberechenbar macht, ist die Verquickung von nicht bewältigten gesellschaftlichen Problemen und Widersprüchen, die sich mit dem vergangenen ökonomischen Aufstieg ausbildeten, den unzureichenden Voraussetzungen für den notwendigen Übergang zu einer qualitativen Wachstumsweise und den Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf China.


Die Volksrepublik in der Rezension

Der wirtschaftliche Aufstieg des Landes ist seit den 1990er Jahren von einer ständigen Überakkumulation begleitet gewesen. Abgesehen vom Verfall des Erdölpreises gibt es dafür zwei wesentliche Ursachen, eine spezifische und eine allgemeine Ursache, die sich aus der Orientierung herleitet, "den Sozialismus durch das Lernen vom Kapitalismus zu errichten". Aus meiner Sicht hat die spezifische Ursache bis heute den entscheidenden Einfluss auf das Entstehen und die Konservierung von Überproduktionskapazitäten ausgeübt. Gemessen am absoluten Bruttoinlandsprodukt (BIP) nimmt die chinesische Wirtschaft nach den USA den zweiten Platz in der Welt ein, im BIP pro Kopf, dem Gradmesser für den erreichten allgemeinen Wohlstand, liegt das Land jedoch weit zurück, etwa auf dem 80. Platz. Das besagt: Der bisherige politische Kurs der KP Chinas ist entgegen allen offiziellen Verlautbarungen bis in das letzte Jahrzehnt einseitig auf die Stärkung der ökonomischen Macht des Landes auf Kosten einer Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards des Volkes konzentriert gewesen. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse des Volkes z. B. an Bildung, ärztlicher Versorgung, Wohnung usw. im Rahmen einer öffentlichen Daseinsfürsorge ist noch nicht gewährleistet, sie soll erst 2020 erreicht sein. Die zweite, allgemeine Ursache für die Überproduktion in China ist auf den antagonistischen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und der privaten Aneignung des Mehrprodukts in den kapitalistischen Sektoren der chinesischen Wirtschaft zurückzuführen. Das durchschnittliche Einkommen der Arbeiter in den privaten und ausländischen Unternehmen machte beispielsweise in den letzten Jahren nur etwas mehr als die Hälfte der Einkommen der Beschäftigten in den staatlichen Unternehmen aus. Obwohl nicht an der direkten Ausübung der politische Macht beteiligt, ist die chinesische Bourgeoisie heute bereits eine starke und einflussreiche ökonomische Kraft. Anteile von 61,4 Prozent an den fixen Investitionen und über 70 Prozent an den Direktinvestitionen des Landes im Ausland deuten an, in welchem Ausmaß die Entwicklung Chinas heute bereits von dieser Bourgeoisie abhängt.

Die weitgehende Verschmelzung der chinesischen Wirtschaft mit der kapitalistischen Weltwirtschaft hat China für den kapitalistischen Krisenzyklus anfällig gemacht. Der Einbruch in der äußeren Nachfrage mit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise hatte zur Folge, dass die latente Überproduktion 2014 Züge einer Überproduktionskrise annahm. Mitte 2014 begann das Wachstum des Bruttoinlandprodukts zu stagnieren und zu sinken. Der Index für die Konsumpreise erreichte zur gleichen Zeit mit ein bis gut zwei Prozent seinen tiefsten Stand. Der Einkaufsmanagerindex fiel im Jahr darauf unter die Positivgrenze von 50 Punkten auf 47,1 Punkte. Der Preis für Stahl war bis Ende 2015 auf über 50 Prozent geschrumpft. Die stark rückläufigen Gewinne brachten die Unternehmen in Schwierigkeiten neuen Ausmaßes, die bis an die Grenze der Insolvenz und der Entlassung zumindest von Teilen der Belegschaften reicht. Die Zentralregierung will in den nächsten 5 Jahren die Produktionskapazität von Rohstahl um 100 bis 150 Millionen Tonnen reduzieren. Das würde nach chinesischen Angaben 400.000 Arbeitsplätze kosten.

Die Überproduktionskrise hat die Gefahr, die sich aus der hohen Verschuldungsrate der Lokalregierungen und staatlichen Unternehmen von 100 Prozent und mehr durch Bankkredite für die wirtschaftliche Entwicklung ergibt, akut hervortreten lassen. Unter diesen Bedingungen dehnten Faktoren wie die innere Verschuldung die Überproduktionskrise zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise aus. Die Rezession erschwert die Rückzahlung der Kredite erheblich und kann eine neue Welle fauler Kredite auslösen, die die Kredit- und Immobilienblase platzen lassen würde.

Ministerpräsident Li Keqiang sprach auf der diesjährigen Tagung des NVK (1) von enormen Schwierigkeiten bei der Umstellung der Wirtschaft auf die neue qualitative und effektive Wachstumsweise und bereitete die Bevölkerung darauf vor, dass in der Anfangsphase der Umstellung bestimmte Interessen geopfert werden müssen. Der Abwärtsdruck in der Wirtschaft verschärfe sich durch innere wie äußere Faktoren. Tief verwurzelte Probleme in der ökonomischen Entwicklung würden stärker hervortreten. Man müsse sich darauf vorbereiten, dass "eine schwierige Schlacht zu schlagen" sei.


"Strukturelle Reform" als "gute Medizin" zur Behebung der Krise

Die chinesische Regierung konzentriert sich seit November 2015 darauf, durch eine strukturelle Reform die Wirtschaftskrise zu überwinden und einen neuen ökonomischen Aufschwung einzuleiten. Das Wesen dieser strukturellen Reform ist die Umorientierung der Wirtschaftspolitik von der bisherigen Politik der Nachfrage zu einer Politik des Angebots. Dass heißt, an die Stelle von Konjunkturprogrammen zur Ankurbelung der Wirtschaft soll die Mobilisierung aller Kräfte des Marktes treten. "Keynes ist tot, es lebe der Markt!" Mit den Marktkräften wird auch der Privatwirtschaft eine größere Rolle eingeräumt. Die staatlichen Unternehmen sollen nun den Privatunternehmen folgen und auch selbständige Marktsubjekte werden. Die Regierungsinstitutionen, die bisher die staatlichen Unternehmen direkt leiteten, beschränken sich künftig auf die Aufsicht und die Verwaltung des staatlichen Kapitals. Schwerpunkte der strukturellen Reform in diesem Jahr sind der Abbau der Überkapazitäten, der Lagerbestände und der Schulden, die Senkung der Selbstkosten der Unternehmen und eine Stützung schwacher Sektoren.

Der Abbau der Überproduktion beginnt mit der Aussonderung von Unternehmen, die den staatlichen Kriterien nicht entsprechen und seit langem verschuldet sind. Neben der Veränderung des Eigentumsrechts, Wechsel der Bewirtschaftung, Erschließung neuer Märkte spielt dabei auch der "Export der Überproduktion" in Länder entlang der Seidenstraße ein Rolle.

Die Reform der staatlichen Unternehmen umfasst neben den bereits genannten Maßnahmen wie die Trennung von Regierung und Unternehmen weitere, so

  • die Trennung von Regierung und Markt,
  • die Unterscheidung von Unternehmen, die Profit zu erwirtschaften haben, und gemeinnützigen Unternehmen,
  • die Entwicklung einer Wirtschaft gemischten Eigentums, deren Funktion offenbar hauptsächlich darin besteht, die marktwirtschaftlichen Vorzüge der Privatwirtschaft für eine reibungslosere Entwicklung der staatlichen Unternehmen zu führenden Marktsubjekten zu nutzen,
  • die Absicherung der Führung der Partei in den nun nicht mehr fiktiven Aktiengesellschaften und
  • Schritte zur Unterbindung des bisher ständigen größeren Abflusses von staatlichem Kapital.

Vor allem geht es in diesem Prozess um die beschleunigte Konzentration von Kapital und Ressourcen zur Schaffung einer Gruppe internationaler konkurrenzfähiger transnationaler Gesellschaften (faktisch TNK)(2) für den Export chinesischer Markenprodukte, von Kapital und Arbeitsdienstleistungen.

Mein Consultant in ökonomischen Fragen, Klaus Wagner, machte mich darauf aufmerksam, dass eine Angebotspolitik notwendigerweise externe Faktoren in Rechnung stellen muss, was nur für große Länder wie China möglich ist. China besitzt heute in der Tat die Voraussetzungen für den Export von Waren, Kapital und Dienstleistungen in der notwendigen Größenordnung. Das zeigt sich am Beispiel der Beziehungen Chinas zu den Ländern entlang beider Seidenstraßen. 2015 wickelte China bereits ein Viertel seines gesamtes Außenhandels mit diesen Ländern ab, hatte in den über 50 Kooperationszonen dieser Länder bereits investiert und über 300 Verträge über chinesische Arbeitsdienstleistungen unterzeichnet. Die Direktinvestitionen Chinas in diesen Ländern waren 2015 gegenüber dem Vorjahr um 18,2 Prozent gewachsen.

Das ist jedoch erst der Anfang einer Entwicklung, die den Weltmarkt, wenn es gelingen sollte, der wirtschaftlichen Entwicklung durch die strukturelle Reform wieder Stabilität zu verleihen, durcheinander wirbeln würde.


Anmerkungen:

(1) NVK - Abkürzung für: Nationaler Volkskongress
(2) TNK - Abkürzung für: Transnationaler Konzern

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Quelle:
© 2016 by Helmut Peters
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Mai 2016

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