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ASIEN/984: Indien - Narendra Modi ist nicht mehr unbesiegbar (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2018

"Lauwarme Reformen und Weltklassefehler"
Indiens Premierminister Narendra Modi ist nicht mehr unbesiegbar

von Britta Petersen


Wenn die Regionalwahlen in Karnataka ein Indiz sein sollten, steht Indien im Frühjahr 2019 eine turbulente Parlamentswahl bevor. In dem südindischen Bundesstaat gewann im Mai die hindunationalistische Bharatiya Janata Partei (BJP) eine einfache Mehrheit, doch die Regierungsbildung scheiterte an einer geschlossenen Oppositionsfront. BJP-Spitzenkandidat B. S. Yeddyurappa trat nach einer Rekordzeit von nur zwei Tagen von seinem Amt als Ministerpräsident unter dem Vorwurf zurück, er habe versucht, sich eine Mehrheit der Abgeordneten zu erkaufen - was nicht ungewöhnlich wäre.

Nun regiert in Karnatakas Hauptstadt Bangalore wieder die Kongresspartei - mit einer Großen Koalition, deren Überleben ungewiss ist, die Frustration der Wähler/innen hingegen ist sicher. Für Premierminister Narendra Modi sind das gute und schlechte Nachrichten, denn seine Partei kann einerseits noch immer Wahlen gewinnen, doch die BJP und ihr Spitzenmann haben andererseits vier Jahre nach dem Erdrutschsieg 2014 viel von ihrem Nimbus eingebüßt.

"Die BJP repräsentiert noch immer das aufstrebende Indien", meint Suhas Palshikar, Professor für Politikwissenschaft in Pune. Obwohl die meisten Wähler/innen nicht den Eindruck haben, dass nun endlich die "guten Tage" (Hindi: achche din) gekommen sind, wie Modi im Wahlkampf versprochen hatte, hat die BJP doch genügend Reformen angestoßen, um den Eindruck zu erwecken, dass sie Indien ins 21. Jahrhundert führen will. Die Opposition hingegen hat erkannt, dass Modi verwundbar ist. Zwar hat die Kongresspartei unter der Führung von Rahul Gandhi noch immer kein überzeugendes Programm und als Spitzenkandidat kann der Spross der Nehru-Gandhi-Dynastie, die 60 Jahre lang Indien beherrscht hat, dem hyperaktiven Aufsteiger Modi nicht das Wasser reichen. Aber der Premier und seine Partei kochen auch nur mit Wasser.

Umsetzungsfehler bei vielen Reformen haben die große Begeisterung gedämpft. Und nach der Wahl in Karnataka erscheint die BJP noch nicht einmal mehr als die "sauberere" Partei, als die sie sich gern darstellt. "Lauwarme Reformen und Weltklassefehler", bescheinigt Mihir S. Sharma, Autor des Buches Restart: The Last Chance for the Indian Economy der indischen Regierung gallig. Modi arbeite sicher daran, Indien zu verbessern, aber von "Transformation" könne keine Rede sein.

Stattdessen beherrschen kommunale Gewalt und Vergewaltigungen die Schlagzeilen. Kritiker fürchten, dass die Gewalt gegen Muslime und die Anti-Pakistan-Rhetorik vor den Wahlen noch zunehmen werden, denn dies sei die einfachste Methode, die Wähler/innen hinter sich zu vereinen. Knapp 80 % der indischen Bevölkerung sind Hindus und nicht wenige der Meinung, dass sich Minderheiten wie Muslime (14 %) und Christen (2,4 %) nach der Mehrheit zu richten haben.

Das bedeutet zum Beispiel, die Kuh als heilig zu betrachten. Angriffe auf Muslime, die (legale) Schlachthäuser betreiben oder angeblich Rindfleisch verzehren, haben unter der BJP-Regierung zugenommen. Nach einer Auswertung der auf Datenjournalismus spezialisierten Organisation "IndiaSpend" in Mumbai wurden zwischen 2010 und 2017 in Indien 124 Menschen bei Angriffen im Zusammenhang mit heiligen Kühen verletzt; 28 starben, davon 24 Muslime. 97 % dieser Angriffe fanden in der Regierungszeit von Premierminister Modi statt.

"Muslime fühlen sich in Indien unter Modi zutiefst unsicher", sagt Mujibur Rehman, Politikwissenschaftler an der Jamia-Millia-Islamia-Universität in Delhi. "Die Botschaft der Hindunationalisten ist: Ob ihr lebt oder sterbt hängt von unserer Gnade ab."

Ein furchtbares Verbrechen, das im Frühjahr an die Öffentlichkeit kam, hat diesen Eindruck verstärkt. Ein 8-jähriges Mädchen aus dem Krisenstaat Jammu und Kashmir wurde tagelang in einem Tempel vergewaltigt und schließlich ermordet. Sie gehörte einem muslimischen Nomadenstamm an, der überzeugt ist, er solle wegen seiner Religion aus der traditionell von Hindus dominierten Region vertrieben werden. Die Beschuldigten erhielten einige Unterstützung. Sogar zwei lokale Parlamentsabgeordnete der BJP nahmen an einer Demonstration zugunsten der Täter teil. Sie sind zwar inzwischen zurückgetreten, doch der verheerende Eindruck bleibt.

Zwar hat Narendra Modi pflichtschuldig den "Hooliganismus im Namen der Kuh" als "inakzeptabel" verurteilt. Doch der Premier kann es sich nicht erlauben, den radikalen Flügel seiner Partei zu verprellen. Denn Modi verdankt seinen Wahlsieg 2014 nicht nur seinem persönlichen Charisma, sondern auch der effektiven Wahlkampfmaschinerie der BJP. Perfektionistische Planung, professioneller Einsatz der sozialen Medien und ein landesweites Netzwerk von "Sewaks" (Hindi: Freiwilligen) der hindunationalistischen Vorfeldorganisationen Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligencorps), Vishva Hindu Parishad (Welt-Hindurat) und der Jugendorganisation Bajrang Dal sind die Säulen ihres Erfolges.

Die "Sewaks" meinen, dass der Erdrutschsieg der BJP 2014 auch ein Mandat für ihre hindunationalistische Ideologie sei. Wie der Journalist Prashant Jha in seinem Buch How the BJP wins: Inside India's greatest Election Machine darlegt, glauben sie, dass die BJP in einem Land mit 80 % Hindus nur das Image ablegen müsse, eine Partei der oberen Kasten zu sein. Doch die Hoffnung, dass eine derart "konsolidierte" Hindu-Wählerbasis die Partei von Wahlsieg zu Wahlsieg tragen werde, unterschätzt die Diversität der indischen Gesellschaft und ist im Kern antipluralistisch.

Sie verkennt auch, dass viele Wähler/innen Modi ihre Stimme vor allem gegeben haben, weil er ihnen Arbeit und Wohlstand versprochen hat. Dies ist jedoch nur begrenzt gelungen. 2018 soll die indische Wirtschaft nach einem Bericht der "Wirtschafts- und Sozialkommission für Asien und den Pazifik" der Vereinten Nationen (ESCAP) um 7,2 % wachsen. Damit ist Indien eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Doch nur wenige Inder/innen haben das Gefühl, dass es ihnen besser geht, seit die BJP an der Macht ist.

Die Autoren der ESCAP-Studie sind der Auffassung, dass die Einführung der Mehrwertsteuer im Sommer 2017 sowie der Berg an notleidenden Krediten bei den indischen Banken Schuld seien, dass das Wachstum nicht stärker Fahrt aufnimmt. Zuvor hatte die als "Demonetisierung" bekannt gewordene Rosskur, die mit dem Ziel der Bekämpfung von Schwarzgeld und Steuerflucht Ende 2016 auf einen Schlag fast das gesamte indische Bargeld ungültig machte, das Wirtschaftswachstum von 7,9 auf 4,5 % absacken lassen.

Die Reform, die drei Monate lang an den Bankschaltern für Chaos sorgte, erweckte vor allem bei den "einfachen" Leuten (Hindi: aam admi) den Eindruck, dass es nun den "korrupten Reichen" an den Kragen ginge. Doch ob Schwarzgeld und Steuerflucht wirklich zurückgegangen sind, ist zweifelhaft. Die allseits gelobte Einführung der Mehrwertsteuer ist eher dazu geeignet, die viel zu geringen Steuereinnahmen des indischen Staates zu erhöhen. Doch sie hat zunächst vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen für einen hohen bürokratischen Aufwand und Verluste gesorgt.

Nach einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ist die Zahl der Arbeitslosen zwischen 2017 und 2018 sogar von 18,3 auf 18,6 Millionen gestiegen. Dennoch streiten Ökonomen angesichts der unsicheren Datenlage darüber, ob man von einem jobless growth sprechen könne. Arvind Panagariya, Ex-Chef der ehemaligen Planungskommission NITI Aayog bezeichnete das "Gerede" vom Wachstum ohne Arbeitsplätze kürzlich als "Unsinn". 7,3 % Wachstum könne nicht allein durch den Einsatz von Kapital entstehen. Kritiker wie Mohan Guruswamy, Vorsitzender des "Centre for Policy Alternatives", einer Denkfabrik in Neu-Delhi, halten dagegen: "Fakt ist, dass das reichste eine Prozent der Bevölkerung 73 % des Wohlstandswachstums einstreicht. Das ist Wachstum, aber es schafft keine Arbeitsplätze."

Das liegt unter anderem daran, dass das Gros der Reformen, die die Regierung angestoßen hat, "etatistisch" bleibt. In Modis Vision für sein Land überspringt Indien gleich mehrere Entwicklungsstufen und geht direkt zur digitalen Wirtschaft über. Viele seiner Reformen, von der Demonetisierung bis zur Einführung der "Adhaar Card", einem biometrischen Ausweis, der ab diesem Jahr verpflichtend ist, um staatliche Transferleistungen zu beziehen, beruhen auf einem erstaunlichen Vertrauen in die Segnungen neuer Technologien - und die Macht des Staates. Wer gedacht hat, dass Narendra Modi ein Wirtschaftsliberaler ist, hat sich getäuscht.

Zwar hat es Indien 2017 geschafft, sich auf dem "Ease-of-Doing-Business"-Index um 30 Plätze nach oben zu hangeln. Doch weltweit liegt das Land in Sachen Geschäftsfreundlichkeit lediglich im Mittelfeld. Eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und eine Reform der Gesetze für den Landerwerb, die den Ausbau der Infrastruktur behindern, lassen weiter auf sich warten. Auch der gestresste Bankensektor ist schwer zu reformieren. Inzwischen sind etwa 15 % aller Kredite notleidend. Da sich die Geldinstitute zu 70 % in staatlicher Hand befinden, hat sich ein dichter Filz aus Politik und Bürokratie bei den Banken entwickelt.

Zugleich erhält die indische Wirtschaft nicht länger Rückenwind durch niedrige Ölpreise. Das Land, das 80 % seines Rohölbedarfs importiert, sieht zum ersten Mal seit Modi an die Macht kam wieder steigende Preise. Die indische Rupie fiel kürzlich auf den niedrigsten Wert gegenüber dem US-Dollar seit 2013, was auch mit dem zunehmenden Protektionismus unter US-Präsident Donald Trump zu tun hat.

Die obere Mittelklasse, die sich von Modi erhofft hatte, dass er ihr Land endlich fit für die Weltspitze macht, hat sich daher bereits enttäuscht abgewandt. "Indien bleibt ein Land der verpassten Gelegenheiten", klagt Mihir S. Sharma. Für den Rest der Wähler/innen mag die BJP aus verschiedenen Gründen noch immer die bessere Wahl sein. Oder auch nicht, wie sich hin und wieder bei Regionalwahlen zeigt. Nach einem erneuten Durchmarsch an die Macht sieht es 2019 auf jeden Fall nicht aus. Für die indische Demokratie ist das sicher ein gutes Zeichen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2018, S. 39 - 43
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Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2018

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