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SPANIEN/002: Einblicke und Ausblicke im Vorfeld der spanischen Wahlen (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Aussichtslose Sozialisten und siegessichere Konservative
Einblicke und Ausblicke im Vorfeld der spanischen Wahlen

von Lothar Witte, November 2011


• Im Vorfeld der spanischen Wahlen deutet alles auf einen deutlichen Sieg der konservativen Partido Popular und eine bittere Niederlage der sozialistischen PSOE hin. Die PSOE wird ein Opfer der Wirtschaftskrise und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit, die mittlerweile fünf Millionen direkt betrifft. Ihr wird jegliche Kompetenz abgesprochen, diese Probleme zu lösen.

• Die neue Regierung wird sich kurzfristig vor allem auf die Sanierung der Staatsfinanzen und des Finanzsystems sowie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit konzentrieren müssen. Zudem muss sie ein tragfähiges Konzept für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Wirtschaft entwickeln. Das Wahlprogramm der PP lässt erahnen, dass die Reduzierung der Aufgaben und Ausgaben des Staates sowie die Liberalisierung der Ökonomie dabei zentral sein werden.

• Die Partido Popular, die vor einem halben Jahr bereits die meisten Regionen erobert hatte, kann sich für einige Jahre flächendeckend in der Macht einrichten. Die PSOE bleibt mit Abstand die stärkste Oppositionspartei, neben ihr werden voraussichtlich die Gewerkschaften und die Protestbewegung des 15. Mai der Regierung als kritische Masse gegenüber stehen. Angesichts der Machtfülle der Partido Popular wird für die politische und gesellschaftliche Entwicklung Spaniens in den kommenden Jahren aber entscheidend sein, wie sie mit dieser Macht umgeht.


Inhalt

Rekordverdächtige Umfragewerte, plausible Erklärungen: Die Würfel sind gefallen

Zapateros Nachlass? Hohe Hürden auf dem Weg in die Zukunft

Der gar nicht so kleine Unterschied: Die Wahlprogramme von PP und PSOE

Was erwartet Spanien nach der Wahl? Ohnmacht, Allmacht, Gegenmacht


*


Tabelle 1: Die Aussichten der politischen Parteien für die Wahlen 2011
  
  
Stimmverteilung in %
Umfrageinstitut
Sitzverteilung      
Umfrageinstitut     
Partei

CIS

Sigma Dos

Inter-campo

Ergebnis 2008
CIS

Sigma Dos

NC Report

Ergebnis 2008
PSOE
PP
IU
UPyD
CIU
ERC
PNV
Amaiur
BNG
CC
Sonstige
29,9
46,6
6,2
2,9
3,3
1,2
1,2
1,1
0,8
0,6
n.d.
30,7
47,4
5,4
3,1
3,5
0,9
1,2
n.d.
n.d.
n.d.
n.d.
32,2
46,3
4,9
4,4
2,8
1,1
1,0
n.d.
n.d.
n.d.
n.d.
43,87
39,94
3,77
1,19
3,03
1,16
1,19
0
0,83
0,68
n.d.
116-121
190-195
8
3
13
3
3
3
2
2
2
117
193
6
3
13
2
5
4
2
3
2
119
185
11
2
13
1
6
4
2
3
4
169
154
2
1
10
3
6
0
2
2
1

Quellen: CIS, Centro de Investigaciones Sociológicas, http://datos.cis.es/pdf/Es2915mar_A.pdf ; 17.236 Interviews im Zeitraum 6.-23.10.2011. Sigma Dos, veröffentlicht in der Tageszeitung El Mundo; 3.000 Telefoninterviews im Zeitraum 18.-31.10.2011 Intercampo, veröffentlicht in der Wochenzeitschrift Temas; 1.724 Interviews im Zeitraum 15.9.-15.10.2011. NC Report, veröffentlicht in der Tageszeitung La Razón; 5.752 Telefoninterviews im Zeitraum 24.10.-3.11.2011. Mit Ausnahme der Umfrageergebnisse des CIS wurden alle Daten übernommen von www.electometro.es, abgefragt am 9.11.2011.


Tabelle 2: Wahlergebnisse ausgewählter spanischer Parteien 1982-2008 (in %)

1982
1986
1989
1993
1996
2000
2004
2008
PSOE
PP
IU
UPyD
CIU
ERC
PNV
48,11
26,36
4,02
-
3,67
0,66
1,88
44,06
25,97
4,63
-
5,02
0,42
1,53
39,60
25,79
9,07
-
5,04
0,41
1,24
38,78
34,76
9,55
-
4,94
0,80
1,24
37,63
38,79
10,54
-
4,60
0,67
1,27
34,16
44,52
5,45
-
4,19
0,84
1,53
42,59
37,71
4,96
-
3,23
2,52
1,63
43,87
39,94
3,77
1,19
3,03
1,16
1,19

Tabelle 3: Politische Parteien in Spanien (Auswahl)
Abkürzung
Name
National/Regional
Fraktion Europaparlament
PSOE
PP
IU
UPyD
CiU
ERC
PNV
Amaiur
BNG
CC
Partido Socialista Obrero Español
Partido Popular
Izquierda Unida
Unión Progreso y Democracia
Convergència i Unió
Esquerra Republicana de Catalunya
Partido Nacionalista Vasco
Amaiur
Bloque Nacionalista Galego
Coalición Canaria
National
National
National
National
Katalonien
Katalonien
Baskenland
Baskenland
Galizien
Kanaren
Sozialisten
Christdemokraten
Linke
franktionslos
Liberale
Grüne
Liberale
Linke (z.Z. nicht im EP)
Linke (z.Z. nicht im EP)
Liberale (z.Z. nicht im EP)

Am 20. November wird in Spanien ein neues Parlament gewählt. Anschließend wird es einen Regierungswechsel geben, die konservative Volkspartei (Partido Popular, PP) wird die seit 2004 regierende sozialistische Partei, die PSOE (Partido Socialista Obrero Español, Spanische Sozialistische Arbeiterpartei), an der Macht ablösen.

Damit wird sich das Wechselspiel von Sozialisten und Konservativen an der Spitze der spanischen Demokratie fortsetzen: Nachdem ab 1977 zunächst die konservative Unión de Centro Democrático, UCD, regierte, übernahmen 1982 die Sozialisten unter Felipe González die Macht. Ab 1996 regierte die PP unter Führung von José María Aznar, seit 2004 wieder die PSOE unter José Luis Rodriguez Zapatero.

Im Vergleich zu früheren Regierungswechseln gibt es aber in diesem Jahr einen großen Unterschied: Die Aussicht der PP nicht nur auf einen Sieg mit absoluter Mehrheit, sondern auch auf eine flächendeckende Hegemonie, von der lokalen Ebene über die regionale bis hin zur nationalen.


1. Rekordverdächtige Umfragewerte, plausible Erklärungen: Die Würfel sind gefallen

Der Wahlkampf hat offiziell erst Anfang November begonnen, inoffiziell jedoch weit früher. Bereits im Frühjahr hatte Regierungschef Zapatero angekündigt, bei den nächsten, turnusmäßig Anfang 2012 anstehenden Wahlen nicht mehr zu kandidieren. Daraufhin wurde der bisherige Innenminister, Regierungssprecher und VizeRegierungschef Alfredo Pérez Rubalcaba im Juli zum Spitzenkandidaten der PSOE gekürt, und wenig später verkündete Regierungschef Zapatero, die Wahlen auf November vorziehen zu wollen. Diese Entscheidung begründete Zapatero damit, dass die Märkte nur durch eine stabile Regierung beruhigt werden könnten - womit er implizit anerkannte, dass er diese Stabilität nicht mehr garantieren konnte, nachdem die Sozialisten am 22. Mai 2011 bei den Regional- und Kommunalwahlen eine verheerende Niederlage erlitten hatten. Im landesweiten Durchschnitt erreichten sie nur 27,8 Prozent der Stimmen, stellen seitdem nur noch in Andalusien und im Baskenland die Regionalregierung, und verloren auf kommunaler Ebene alle größeren Städte, auch ihre historischen Bastionen Barcelona und Sevilla.

Von der offiziellen Begründung abgesehen, hoffte Zapatero auch, dass die PSOE von vorgezogenen Wahlen profitieren könnte. Tatsächlich war in der PSOE nach der Kür des bis dahin beliebtesten Politikers der PSOE zum Spitzenkandidaten ein Hauch von Aufbruchstimmung zu verspüren. Aber nichts deutet darauf hin, dass diese Rechnung aufgehen wird.

Die PSOE liegt in Umfragen stabil bei gut 30 Prozent, mehr als zehn Prozent unter dem Ergebnis von 2008, die Fraktion würde von 169 auf weniger als 125 Mitglieder reduziert werden. Zum Vergleich: Wenn man die ersten fünf Jahre nach dem Ende des Franco-Regimes, als das Parteiensystem noch in den Kinderschuhen steckte, nicht berücksichtigt, hat die PSOE ihr bislang schlechtestes Ergebnis im Jahre 2000 erzielt, mit gut 34 Prozent und 125 Abgeordneten (siehe Tabelle 1). Die PP wird mit mindestens 45 Prozent taxiert und würde den Umfragen nach mit deutlich über 180 Abgeordneten die absolute Mehrheit der 350 Parlamentssitze erreichen. Das linke Bündnis Izquierda Unida wird Stimmen und Sitze gewinnen und sich mit gut fünf Prozent der Stimmen (und mindestens fünf Abgeordneten) national als dritte Kraft konsolidieren, vor der Unión Progreso y Democracia (UPyD), die mit ca. drei Prozent (und zwei bis drei Abgeordneten) in der Mitte des politischen Spektrums zu verorten ist. Die bereits im Parlament vertretenen Regionalparteien aus Katalonien, dem Baskenland, Galizien und den Kanaren dürften ebenfalls leicht zulegen, und auch das in diesem Jahr neu geschaffene baskische Wahlbündnis Amaiur (linksnationalistisch) wird mit mehreren Abgeordneten ins Parlament einziehen. In Tabelle 2 ist die Verteilung von Stimmen und Sitzen, wie sie von einigen aktuellen Umfragen vorausgesagt werden, dargestellt.[1]

Welche Erklärung gibt es für diesen dramatischen Einbruch der PSOE? Die Antwort fällt nicht schwer: It's the economy, stupid. Denn wie eine aktuelle repräsentative Befragung von fast 2500 Bürgerinnen und Bürgern zeigt, ist die Arbeitslosigkeit für sie mit großem Abstand das zentrale Problem (61,3 Prozent), gefolgt von der wirtschaftlichen Lage (18,6 Prozent).[2] Und während auch gegenüber der PP Skepsis herrscht, ob die Partei die ökonomischen Probleme in den Griff bekommen wird, traut man dies der PSOE noch weniger zu.[3] Hier rächt sich, dass Regierungschef Zapatero die immer offensichtlicher werdende Krise im Jahre 2008 lange Zeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte, anschließend bis ins Frühjahr 2010 beteuerte, ihre Überwindung werde nicht zu Lasten der Schwachen gehen, und schließlich im Mai 2010 eine drastische Kehrtwende vollzog und eine Politik umsetzte, die sehr wohl die Schwächeren belastet, und zwar in zunehmendem Ausmaß.

Mit dieser Politik, die den Bürgerinnen und Bürgern zudem nur sehr unzureichend erklärt wurde, hat die Regierung Zapatero in erster Linie die Wähler der PSOE vergrault. Von den über elf Millionen Spaniern, die im Jahre 2008 für die PSOE gestimmt haben, sind derzeit etwa drei Millionen unsicher, ob sie dies auch am 20. November 2011 tun sollten. Um dieses Potential geht es in den kommenden Tagen - und erst in zweiter Linie um weitere fünf Millionen Unentschlossene ohne PSOE-Hintergrund.

Dass es um die Unentschlossenen geht, bildet sich auch in den Wahlkampfstrategien und den Programmen der Parteien ab. Die PSOE versucht, ihre Klientel dadurch zu mobilisieren, dass sie sich als Garant des Sozialstaates und eines funktionsfähigen öffentlichen Sektors präsentiert, im Gegensatz zu einer PP, die nur darauf warte, dem Sozialstaat den Garaus zu machen, dies aber bewusst verschweigen würde. Diese Strategie leidet jedoch unter dem offensichtlichen Manko, dass die PSOE mit ihrem Kandidaten und vormaligen Vize-Regierungschef Rubalcaba den potentiellen Wählern nur schwer erklären kann, warum sie erst eine sozial fragwürdige Politik macht und sich nun als Garant des Sozialstaates präsentiert.

Währenddessen genießt die PP ihren stabilen Vorsprung - und schweigt. Mariano Rajoy hat sich bis zuletzt nicht auf konkrete Aussagen darüber, was er als Regierungschef zu tun gedenke, festlegen lassen. Er hat konsequent vermieden, durch konservative Politikvorschläge das Wählerpotential der PSOE zu mobilisieren. Rajoys Programm ist ein einziges depende, »es kommt darauf an« - die Zeiten seien zu bewegt, sich längerfristig festlegen zu können, und außerdem wisse man ja eh nicht genau, welches Erbe man vorfinden werde. Aber man wisse bereits, dass dieses Erbe eine der schwersten Bürden sei, die je eine Regierung ihren Nachfolgern hinterlassen habe.


2. Zapateros Nachlass? Hohe Hürden auf dem Weg in die Zukunft

Die Hinterlassenschaft der Regierung Zapatero ist tatsächlich wenig überzeugend, insbesondere was die wirtschaftliche und soziale Lage angeht. Ein Blick auf einige Schlagzeilen der letzten Tage veranschaulicht die Situation:

• Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes hat sich abgeschwächt, für das zweite Halbjahr deutet sich bestenfalls ein Nullwachstum an, möglicherweise auch ein Rückgang des BIP.

• Die Zahl der Arbeitslosen hat sich im September bedrohlich der Fünf-Millionen-Grenze genähert, ein Negativrekord; die Arbeitslosenrate ist saisonbereinigt auf über 21 Prozent gestiegen, und in 1,4 Millionen spanischen Haushalten ist kein einziges Mitglied mehr erwerbstätig.

• Die soziale Ungleichheit, gemessen am S80-S20 Verteilungsquintil,[4] hat extrem zugenommen, von 5,4 im Jahre 2008 auf 6,9 im Jahre 2010, dem mit Abstand höchsten Wert in Westeuropa.

Aber dies ist nicht nur das Erbe der PSOE-Regierung. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine Reihe von Strukturproblemen der spanischen Wirtschaft und Gesellschaft, die auf langjährige, teilweise mehrere Jahrzehnte andauernde (Fehl-)Entwicklungen zurückgehen, auch wenn die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Spaniens seit dem Übergang zur Demokratie vor über dreißig Jahren insgesamt sicher positiv zu bewerten ist. Es gibt jedoch eine Reihe von Baustellen, auf denen möglichst bald Fortschritte erzielt werden müssen, wenn sich diese positive Entwicklung fortsetzen soll.


Die Wirtschaft leidet an einem Produktivitätsrückstand

Die spanische Wirtschaft ist von einem hohen Anteil wenig produktiver kleiner und mittlerer Betriebe geprägt, während der Anteil moderner, technologieintensiver Unternehmen gering ist und die Ausgaben für Forschung und Entwicklung niedrig ausfallen. Das Bildungssystem produziert zwar viele Hochschulabsolventen, die spanischen Universitäten sind bei internationalen Qualitätsvergleichen aber weit von den vorderen Plätzen entfernt. Ein großes Defizit besteht bei Fachkräften auf einem mittleren Level, die für eine Verbesserung der systemischen Wettbewerbsfähigkeit unverzichtbar sind. Und in den letzten Jahren kam erschwerend hinzu, dass über 30 Prozent jeder Jahrgangskohorte ihre Schulausbildung abbrachen und ohne Abschluss auf den boomenden Arbeitsmarkt wechselten. In internationalen Vergleichen zu Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit findet man Spanien daher eher in der Nachbarschaft von Portugal und Griechenland als in der Nähe von Deutschland und Frankreich. Das »neue Produktionsmodell« ist ein häufig gebrauchtes Schlagwort, sein konkretes Design und seine praktische Entwicklung stehen jedoch noch aus.


Der Arbeitsmarkt: Garant für hohe Arbeitslosigkeit?

In keinem anderen Land der EU ist die Arbeitslosigkeit in der Krise so explodiert wie in Spanien. Teilweise liegt dies daran, dass neben der internationalen Finanzkrise eine hausgemachte Überakkumulationskrise im beschäftigungsintensiven Immobiliensektor ausbrach. Zudem haben wir es in Spanien mit einem extrem segmentierten Arbeitsmarkt zu tun, in dem etwa 75 Prozent der Arbeitnehmer im Rahmen eines Normalarbeitsverhältnisses tätig sind (unbefristete Verträge, Vollzeit, soziale Sicherung), während ca. ein Viertel aller Arbeitnehmer, und sogar die Hälfte der jüngeren Generation, nur befristete Verträge haben. Diese befristeten Arbeitsverhältnisse konnten bei Ausbruch der Krise ohne große Umstände beendet werden, wodurch die Arbeitslosigkeit rasch in extreme Höhen schnellte.

Was mit den fünf Millionen Arbeitslosen geschehen soll, ist die große Frage, vor der nicht nur die alte und die neue Regierung stehen, sondern die spanische Gesellschaft insgesamt. Wobei eine Überwindung der Segmentierung, so sinnvoll sie auch sein mag, kaum etwas bewirken dürfte: Solange die spanische Wirtschaft weiter vor sich hin dümpelt - und nichts deutet darauf hin, dass sich dies schnell ändern wird - ist nicht mit weitreichenden Einstellungen in privaten Unternehmen zu rechnen, und massive staatliche Beschäftigungsprogramme sind angesichts der Haushaltslage kaum vorstellbar.


Private Verschuldung: Zeitbombe für das Finanzsystem?

Angetrieben wurde der Boom der 1990er und 2000er Jahre von einer Politik des billigen Geldes, u. a. ermöglicht durch die Einführung des Euro und die dadurch für Spanien sinkenden Realzinsen. In dieser Situation war es nur folgerichtig, Investitionen und Konsum über Kredite zu finanzieren, was zu einer massiven Verschuldung der privaten Haushalte von über 100 Prozent des BIP führte - innerhalb der Eurozone ein Spitzenwert. Da die spanischen Löhne für europäische Verhältnisse niedrig sind und angesichts der Krise eher sinken als steigen, wird die Verschuldung nur sehr langsam abzubauen sein.

Daraus resultieren Risiken für das Finanzsystem, denn viele Schuldner können ihre Kredite, insbesondere ihre Hypothekenkredite, nicht oder nicht rechtzeitig zurückzahlen, worunter vor allem die regionalen Sparkassen leiden. Die ersten Kassen wurden bereits vom Staat übernommen, andere werden in den nächsten Jahren folgen. Das Ausmaß der Probleme, die sich daraus für die Entwicklung der Staatsfinanzen ergeben, ist noch nicht abzuschätzen.


Staatshaushalt: Die Zitterpartie geht weiter

Die Lage der öffentlichen Finanzen, die lange Zeit sehr solide erschien, hat sich seit 2006 deutlich verschlechtert. Das Haushaltsdefizit wird im Jahre 2011 nicht wie geplant auf sechs Prozent zurückgeführt werden können, sondern näher an sieben Prozent liegen. Die Einnahmen sind im Zuge der Krise drastisch zurückgegangen, worauf die Regierung Zapatero im Mai 2010 mit Sparmaßnahmen, insbesondere der Reduzierung der Gehälter im öffentlichen Sektor, reagierte. Auf regionaler Ebene verzögerte sich die Reaktion aufgrund der für Mai 2011 anstehenden Wahlen, aber seit dem Sommer 2011 wird auch hier teilweise drastisch gespart, v. a. bei den Sozialausgaben (Erziehungs- und Gesundheitswesen). Auf der Einnahmeseite hat die Regierung Zapatero nur eine wichtige Sofortmaßnahme ergriffen: die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 16 Prozent auf 18 Prozent ab Juli 2010. Für die Staatseinnahmen ungleich wichtiger wäre aber ein effektiverer Einzug der Einkommenssteuer.


Das Gesundheitssystem: Wird es teurer oder schlechter?

Das Gesundheitssystem wird seit gut zehn Jahren überwiegend (rund 70 Prozent) aus Steuermitteln finanziert. Die Leistungen können von allen Einwohnern kostenlos in Anspruch genommen werden, mit Ausnahme der Kosten für Medikamente, was den privaten Anteil der Finanzierung in Höhe von ca. 30 Prozent erklärt (zusammen mit privaten Zusatzversicherungen, die aber wenig verbreitet sind). In internationalen Vergleichen schneidet das System gut ab, insbesondere was das Kosten-Leistungs-Verhältnis angeht. Die Finanzkrise nagt jedoch immer stärker an den Grundfesten des Systems. Leidtragende sind die Kranken, die ansteigende Wartezeiten für Behandlungen in Kauf nehmen müssen sowie die medizinischen Dienstleister, die häufig monatelang auf Zahlungen warten müssen. Es ist absehbar, dass die nächste Regierung das System reformieren wird. Dabei wird wohl alles auf die Frage hinaus laufen: Werden die Bürger stärker zur Kasse gebeten, sei es über Steuererhöhungen oder über private Zahlungen, oder werden die Leistungen reduziert? Die Antwort könnte lauten: Beides.


Autonome vs. traditionelle Lebensgestaltung

Die Regierung Zapatero hatte in der ersten Legislaturperiode von 2004 bis 2008 vor allem die Ausweitung der Bürgerrechte forciert und dabei auch neu definiert, wie sich in Spanien Partnerschaft und Familie konstituieren. Emblematisch waren die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner, die Erleichterung der Scheidung sowie die Einführung einer Fristenregel (14 Wochen) für Abtreibungen, die auch junge Frauen ab 16 Jahren ohne Rücksprache mit den Eltern in Anspruch nehmen können. Im Rückblick werden es diese Reformprojekte sein, die man - neben fünf Millionen Arbeitslosen - mit dem Namen Zapatero verbindet. Aber genau diese Projekte haben auf der anderen Seite des politischen Spektrums den entschiedensten Widerstand hervorgerufen: Gegen beide Gesetze hat die PP beim Verfassungsgericht Klage eingereicht, die Entscheidungen stehen noch aus. Auch unter den Anhängern der PSOE gab es respektable Minderheiten, die diese Reformen nur teilweise begrüßten. Die großen Unterschiede innerhalb der spanischen Gesellschaft bezüglich Fragen der Lebensgestaltung konnten kaum deutlicher werden.


Sinkendes Vertrauen in die politischen Institutionen

In den letzten drei Jahren haben die Bürger Spaniens das Vertrauen in die politischen Institutionen verloren. Während die »Vertrauensquoten« für Regierung, Parlament und politische Parteien im April 2008, zu Beginn der zweiten Legislaturperiode der Regierung Zapatero, noch bei 55 Prozent, 54 Prozent und 40 Prozent lagen, fielen sie bis Juni 2010 auf 20 Prozent für die Regierung, 21 Prozent für das Parlament, und gar nur 14 Prozent für die Parteien.[5] Für diesen Vertrauensverlust haben die politischen Akteure selbst gesorgt. Auf der einen Seite die Regierung Zapatero. 2004 als Hoffnungsträger empfangen, hatte er versprochen, diese Hoffnungen nicht zu enttäuschen. Genau dies hat er aber im Frühjahr 2010 mit seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Kehrtwende getan. Die PP kann sich auch nicht aus der Verantwortung ziehen, denn auf regionaler Ebene, in Valencia und Madrid, haben mehrere Korruptionsskandale, in die führende Politiker der PP verwickelt waren, dem Ansehen der politischen Institutionen geschadet.

Deutlichster Ausdruck des Vertrauensverlustes ist das Entstehen der Bewegung des 15. Mai, bzw. der Bewegung für eine wahre Demokratie, die weit über die Grenzen Spaniens hinaus Aufmerksamkeit erregte. Mit ihrer Kritik am etablierten politischen Geschehen, insbesondere dem Zwei-Parteien-System, hat sie einen Nerv getroffen und genießt bis heute die Sympathie der Mehrheit der spanischen Bevölkerung.


3. Der gar nicht so kleine Unterschied: Die Wahlprogramme von PP und PSOE

Nur wenige Wahlberechtigte werden sich die Mühe machen, die 150 Seiten (PSOE) und über 200 Seiten (PP) umfassenden Wahlprogramme durchzulesen,[6] von den Programmen der kleineren Parteien ganz zu schweigen. Die Programme richten sich an die Multiplikatoren der Mediengesellschaft, welche die zentralen messages verbreiten, und an den kleinen Kreis der engagierten Mitglieder und Sympathisanten, die sich in den Programmen ihrer Partei wiederfinden wollen. Daher stellen die Programme einen Balanceakt dar: Sie müssen den »harten Kern« befriedigen, sollen mobilisierend wirken, dürfen aber die »weiche Schale«, wie beispielsweise mögliche Wechselwähler, nicht verschrecken.

Auch wenn sich beide Parteien bemüht haben, breite Wählerschichten anzusprechen, sind wesentliche Unterschiede in der grundsätzlichen Orientierung ihrer Politik dennoch zu erkennen. Hinter vorsichtigen Formulierungen verborgen, hat die PP ein Programm vorgelegt, in dem klassische konservative Grundsätze dominieren: staatliche Austeritätspolitik bei gleichzeitiger Liberalisierung der Ökonomie, Privatisierung des Sozialstaates, Stärkung der zentralen Ebene gegenüber den Regionen, und Bewahrung traditioneller Werte und Institutionen. Das Programm der PSOE steht dagegen für die Stimulierung der Nachfrage, für die Bewahrung der derzeitigen Grundlagen des Sozialstaates, und für ein plurales Spanien, sowohl was das Verhältnis der Regionen zum Zentralstaat angeht als auch die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung.

Untersucht man die Wahlprogramme hinsichtlich der für die Bürger prioritären Politikfelder zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Parteien:


Die Sanierung der Staatsfinanzen

Die PP schlägt vor, die Ende September in die Verfassung aufgenommene, ab 2020 wirksame Schuldenbremse möglichst bald durch ein Ausführungsgesetz zu konkretisieren. Öffentliche Aufgaben und Ausgaben sollen eingeschränkt werden, wobei die Kompetenzverteilung zwischen Zentralstaat und Regionen überprüft werden müsse. In allen Politikbereichen sei darauf zu achten, regionale Zerfaserungen zu überwinden, nationale Strukturen zu stärken, und integrierte nationale Märkte zu entwickeln. Von Steuererhöhungen ist nicht die Rede.

Auch die PSOE sieht die Notwendigkeit, das Haushaltsdefizit abzubauen, plädiert aber dafür, die Rückführung des Defizits auf drei Prozent nicht für das Jahr 2013 anzusteuern, sondern zu verschieben. Sie setzt sich dafür ein, die Steuereinnahmen zu erhöhen und das Steuersystem progressiver zu gestalten, u. a. durch eine neue Steuer auf hohe Vermögen (ab ca. eine Million Euro), durch Veränderungen in der Unternehmensbesteuerung (Vergünstigungen für kleine und mittlere Unternehmen, stärkere Belastung von großen Firmen), durch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und die höhere Besteuerung von hochprozentigem Alkohol.


Rezepte für die wirtschaftliche Entwicklung

Für die wirtschaftliche Erholung und Entwicklung setzt die PP auf Liberalisierung. Steuererleichterungen sollen die Kosten der Unternehmen senken und Investitionen anregen. Diese Erleichterungen reichen vom Absenken der Unternehmenssteuersätze, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, über steuerliche Anreize für Immobiliengeschäfte bis zu einer (angedeuteten) Erleichterung bei der Besteuerung von Kapitalgewinnen und beim Aufbau von Sparguthaben zur Alterssicherung.

Die PSOE betont dagegen die gestaltende Rolle der Politik für die mittelfristige Modernisierung der Wirtschaft, die auf Innovation und den Einsatz neuer Technologien ausgerichtet sein müsse. Dazu gehöre auch der Bereich der neuen Energien und die Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus dem Klimawandel und der Alterung der Gesellschaft ergeben. Zudem solle ein neues Gesetz die Unternehmensgründung erleichtern. Kurzfristig sei es sinnvoll, die Zinssätze zu senken.


Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

Unter dem Stichwort »Sichere und flexible Arbeit für alle« stellt die PP eine Vereinfachung der Arbeitsverträge in Aussicht, mit der befristete Verträge an Bedeutung verlieren würden. Außerdem soll ein kapitalgedecktes Fondssystem entwickelt werden, dessen Ersparnisse dem Beschäftigten bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Verfügung stehen. Vor allem aber müsse das System der Tarifverhandlungen geändert werden: Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene sollen gegenüber Vereinbarungen auf regionaler oder sektoraler Ebene den Vorrang erhalten; zurzeit ist es genau umgekehrt.

Die PSOE stellt zunächst klar, dass die während der Regierung Zapatero verabschiedete Arbeitsmarktreform weiter umgesetzt werden müsse, um ihre positiven Wirkungen zu zeigen. Sie schlägt darüber hinaus einen umfassenden Beschäftigungspakt unter Beteiligung aller politischen Kräfte und der Sozialpartner vor (ähnliche Vorschläge hatten die Gewerkschaften bereits vor längerer Zeit unterbreitet). Ferner regt sie eine Intensivierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik an, insbesondere im Bereich der Aus- und Weiterbildung, sowie eine st ärkere Nutzung von betriebsinternen Flexibilitätsreserven, die der externen Flexibilität (sprich, dem bislang verbreiteten hire and fire) vorzuziehen sei.


Gesundheit für alle

Für die Zukunft des Gesundheitssystems, wo die Kompetenzen auf regionaler Ebene liegen, setzt die PP auf eine stärkere nationale Vereinheitlichung und eine stärkere Beteiligung des Privatsektors (private Kliniken), um landesweit den universellen Zugang zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen zu sichern.

Ähnliche Ziele formuliert auch das Programm der PSOE. Im Gegensatz zur PP, die sich zur Finanzierung nicht äußert, fordert die PSOE, dass das bisherige Angebot ohne Streichungen und ohne Zuzahlungen der Patienten aufrecht erhalten werden müsse, u. a. finanziert durch die erwähnte Alkoholsteuer.


Familie, Frauen, Kinder

Die Pflege traditioneller Werte und Strukturen ist der PP wichtig, angefangen bei der Familie, die als stabilisierendes Element der Gesellschaft im Mittelpunkt aller Politik stehen müsse. Der Schutz des ungeborenen Lebens und der Kinder sei prioritär. Das von der PSOE-Regierung eingeführte Recht auf Abtreibung in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft, von der PP stets bekämpft, soll wieder abgeschafft werden. Zur gleichgeschlechtlichen Ehe, von der PP ebenfalls kritisiert, schweigt das Programm dagegen.

Auch für die PSOE ist die Familie zentral, aber nicht als bewahrende Instanz wie bei der PP, sondern als Element der gesellschaftlichen Erneuerung. Die Geschlechtergerechtigkeit müsse weiter gefördert werden, spezielle Programme für die Eingliederung von 2,5 Millionen Frauen in den Arbeitsmarkt sowie eine Quote von 40 Prozent für den Frauenanteil in Aufsichtsräten seien nötig.


Außen- und Europapolitik

Für die Außen- und Europapolitik verspricht die PP, dass Spanien den Stabilitäts- und Wachstumspakt strikt einhalten und ein verlässlicher Partner sein werde. Man werde sich für eine starke gemeinsame Agrarpolitik einsetzen, in der ausreichende Mittel für die spanische Landwirtschaft vorzusehen seien. Auch die Reform der gemeinsamen Fischereipolitik sei prioritär.

Die PSOE setzt ihre Prioritäten anders: Die EU müsse über eigene Steuereinnahmen und ein gemeinsames Finanzministerium verfügen, Eurobonds sollten ebenso eingeführt werden wir eine Finanztransaktionssteuer, die für die internationale Kooperation und den Kampf gegen den Klimawandel verwandt werden sollte.


4. Was erwartet Spanien nach der Wahl? Ohnmacht, Allmacht, Gegenmacht

Am Abend der Wahl wird sich die PSOE an einem Tiefpunkt wiederfinden. Sie wird eines der schlechtesten Ergebnisse ihrer jüngeren Geschichte eingefahren haben, möglicherweise sogar das schlechteste. Und sie wird einer konservativen Übermacht nicht nur auf nationaler, sondern auch auf regionaler und lokaler Ebene gegenüberstehen.

Wahrscheinlich wird dann die seit Monaten aufgeschobene Personaldebatte Fahrt aufnehmen, mit Blick auf den für Ende Februar geplanten Parteitag, auf dem ein neuer Parteichef gewählt wird, der dann auch den Fraktionsvorsitz übernehmen wird. Bei einem relativ guten Wahlergebnis - also bei einem Ergebnis, dass die gegenwärtigen Erwartungen erfüllt oder übertrifft, z.B. 35 Prozent - würde es ohne Zweifel auf Alfredo Pérez Rubalcaba als Parteichef hinauslaufen. Sollte das Ergebnis aber deutlich unter der benchmark des Jahres 2000 bleiben, wäre unklar, ob man Rubalcaba die Führung überlassen und ob er diese überhaupt anstreben würde.

Welche Personen stünden als Alternativen bereit? Die Liste der üblichen Verdächtigen enthält drei Namen: Carme Chacón, die Verteidigungsministerin, die auf Platz 1 der Liste für Barcelona kandidiert; Eduard Madina, der Generalsekretär der Parlamentsfraktion und Spitzenkandidat in der baskischen Provinz Vizcaya; Patxi López, der Regierungschef des Baskenlandes. Aber möglicherweise tauchen noch weitere Kandidaten auf, die nicht dem jetzigen Establishment der Partei angehören (so wie Zapatero im Jahre 2000), oder man einigt sich auf einen politisch erfahrenen Übergangskandidaten, der das Zepter nach einigen Jahren an eine Vertreterin der jungen Garde übergeben könnte.

Das Machtzentrum der PSOE wird nach dem Verlust der regionalen Bastionen auf absehbare Zeit die Fraktion darstellen, so dass die Schlagkraft dieser Gruppe bei der Auswahl der Kandidaten die entscheidende Rolle spielte. Unter den Abgeordneten wird man jede Menge bekannte Gesichter wiederfinden, viele Ministerinnen der Zapatero-Regierungen und einige bisherige Regionalbarone. Auch die gendergerechte Ausgewogenheit spielte eine Rolle, der Anteil der Frauen auf den Spitzenplätzen wurde erhöht. Zur allgemeinen Überraschung wurde jedoch kein einziger Vertreter der parteiinternen Strömung der Linkssozialisten, der Izquierda Socialista, aussichtsreich platziert.

Unabhängig von Personen sind die Perspektiven der PSOE, sich schnell von der Niederlage zu erholen, nicht schlecht. Im Vergleich der europäischen Sozialdemokraten gehört die PSOE zu den offensten Parteien, neben den Mitgliedern werden bereits seit längerer Zeit auch Sympathisanten in die Arbeit einbezogen. Damit scheint die PSOE relativ gut gerüstet, in einen offenen und breiten Diskussionsprozess einzutreten und viele Wähler zurückzugewinnen, die der Partei in den vergangenen (Regierungs-) Jahren den Rücken zugewandt haben.

Ob dies tatsächlich gelingt, wird auch davon abhängen, wie schnell sich die PSOE in der Oppositionsrolle bewährt. Die Herausforderung ist aus anderen Ländern, u. a. aus Deutschland, bekannt: Die PSOE schwenkt bereits im Wahlkampf nach links und könnte dies in der Opposition weiter tun, muss aber auch das Erbe der letzten Phase der Zapatero-Regierung akzeptieren, wenn sie nicht unglaubwürdig sein will. Als mit Abstand stärkste Oppositionspartei tritt sie von vornherein mit dem Anspruch an, demnächst wieder die Regierungsverantwortung zu übernehmen, und kann im Gegensatz zu den kleineren Oppositionsparteien keine Fundamentalopposition betreiben und sich nicht auf wenige Themen konzentrieren. Sie muss schon bald einen tragfähigen Gegenentwurf zur Politik der PP parat haben und ein Personaltableau präsentieren, dem die spanischen Bürgerinnen und Bürger die Übernahme der Regierungsverantwortung zutrauen. Dass die PSOE in den Regionen und den großen Kommunen im Mai fast komplett »ausradiert« wurde, macht diese Aufgabe nicht leichter.

Aber welche Konsequenzen wird die Wahl für die spanische Politik haben, jenseits des Tellerrandes der PSOE? Voraussichtlich werden einer dominanten Regierungspartei eine arg dezimierte PSOE sowie die Vertreter einiger kleinerer Parteien gegenüberstehen, denen es an parlamentarischer Erfahrung mangelt. Die Regionen bilden auch kein Gegengewicht, da sie mit wenigen Ausnahmen ebenfalls von der PP regiert werden. Die PP könnte »durchregieren«, und dies gilt selbst für den Fall, dass sie die absolute Mehrheit doch verfehlen sollte, denn was die grundsätzlichen Fragen des wirtschafts- und sozialpolitischen Kurses angeht, dürfte die Unterstützung durch UPyD oder CiU sicher sein. Und sie könnte dies ohne Rücksicht auf politische Verluste tun, da in den nächsten drei Jahren keine wichtigen Wahlen anstehen. Genug Macht und genug Zeit, um dem Land einen Stempel aufzudrücken und es auf lange Zeit zu prägen.

Als gesellschaftliche Gegenmacht bieten sich in dieser Situation die Gewerkschaften an. Eine mit einer absoluten Mehrheit ausgestattete PP-Regierung wäre für die Gewerkschaften der größte anzunehmende Unfall: Sie müssten befürchten, dass die Regierung nicht nur eine Anpassungspolitik durchsetzt, die ihren Mitgliedern direkt schadet, z. B. in der Reform der Arbeits- und Sozialgesetzgebung, sondern sie müssen auch damit rechnen, dass die Regierung auf eine für die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften schädliche Veränderung des Systems der industriellen Beziehungen hinarbeitet und die Gewerkschaften in geringerem Maße konsultiert, als die PSOE-Regierung unter Leitung des UGT-Mitglieds Zapatero dies getan hat. Mit Protesten ist zu rechnen.

Möglicherweise wird auch die Protestbewegung des 15. Mai wieder eine Rolle spielen. Nach ihren ersten großen (Medien-)Erfolgen im Mai und Juni hatte sich die Bewegung gewissermaßen in den Sommerschlaf zurückgezogen, bevor sie im Oktober, nun auch international koordiniert, wieder von sich reden machte. Noch immer ist eine große Mehrheit der spanischen Bevölkerung der Meinung, ihre Anliegen seien legitim. Da sie sich von vornherein als eine Bewegung gegen die etablierten Parteien präsentiert hat, kann sie auch bei einem Regierungswechsel ohne Brüche weiter agieren, anders als die PSOE und die Gewerkschaften.

Letztendlich wird es aber in starkem Maße von den Kräfteverhältnissen innerhalb der PP abhängen, wie sich die spanische Politik und die spanische Gesellschaft in den kommenden Jahren entwickeln. Es ist zu hoffen, dass unter der Führung von Rajoy die moderaten Kräfte innerhalb der PP die ausschlaggebende Rolle spielen werden und die PP zumindest versuchen wird, ihr Versprechen wahr zu machen, im Interesse aller Spanier zu agieren - was immer das sein mag. Sollte jedoch der konservative Flügel die Inhalte und den Stil der Politik prägen und die Hegemonie der Partei in ihrem Sinne nutzen wollen, so könnte sich die ohnehin gewachsene Ungleichheit zukünftig in einer mehrdimensionalen - wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen - Spaltung des Landes ausdrücken. Die Zwei-Drittel-Gesellschaft im spanischen Gewand, »die zwei Spanien«.

Aus europäischer Perspektive bleibt festzuhalten, dass ein weiterer roter Flecken von der politischen Landkarte verschwindet. Und nicht irgendeiner, denn nun werden alle großen Länder der EU von Konservativen geführt werden. In Zahlen ausgedrückt: Nach der Niederlage der PSOE werden nicht einmal mehr zehn Prozent der Bevölkerung der EU in Ländern leben, in denen Sozialisten an der Regierung (beteiligt) sind, und das bevölkerungsreichste dieser Länder wird, wenn wir vom Sonderfall Griechenland absehen, Österreich sein.

Im Interesse Spaniens und Europas bleibt zu hoffen, dass es Spanien unter der neuen Regierung nicht so ergehen wird wie Griechenland unter der Regierung Papandreou: Gerade gewählt, und schon in der Klemme, zwischen dem Druck der Märkte und der Merkels und dem Druck der Straße. Denn was der Regierung Zapatero vorgeworfen wird, eine zögerliche und unentschlossene Politik, war weniger auf mangelnden Durchblick oder mangelnde Durchsetzungsfähigkeit zurückzuführen, sondern lange Zeit auch Ausdruck des Versuchs, die Kreditwürdigkeit des Landes zu sichern, ohne den sozialen Frieden zu gefährden. Sollte der Regierung Rajoy das Glück eines schnellen wirtschaftlichen Aufschwungs verwehrt bleiben, so wird sie sich entscheiden müssen, ob sie ebenfalls zu einer solchen Gratwanderung ansetzt, oder in einer Richtung abkippt. Für Spanien und für Europa wäre eine ausbalancierte Lösung mit Sicherheit die bessere.


Über den Autor

Lothar Witte ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Spanien (www.fes-madrid.org).


Anmerkungen

[1] Ein Blick auf Tabelle 1 veranschaulicht, dass kleinere Parteien, die keine regionalen Schwerpunkte setzen, benachteiligt sind, was das Gewicht der auf sie entfallenden Stimmen angeht. Da die Sitzverteilung auf Provinzebene ermittelt wird, haben v. a. in den bevölkerungsarmen Provinzen nur die stärksten Parteien eine Chance, Abgeordnete ins Parlament zu entsenden, da insgesamt nur drei oder vier Plätze zu vergeben sind. Im Jahre 2008 führte dies dazu, dass UPyD mit insgesamt 306.079 Stimmen lediglich eine Abgeordnete in den Kongress senden konnte, die PNV dagegen mit 306.128 Stimmen auf sechs Abgeordnete kam. Am klarsten benachteiligt war Izquierda Unida, hier entfielen auf jeden Abgeordneten 484 Stimmen. Alle Daten wurden von der Website des Innenministeriums übernommen,
http://www.elecciones.mir.es/MIR/jsp/resultados/index.htm, abgefragt am 9.11.2011.

[2] Soziale Fragen wie Gesundheit, Erziehung und Renten spielen eine weit geringere Rolle, und »Randthemen« wie Umweltschutz und Gewalt gegen Frauen sind selbst dann nur für maximal ein Prozent der Bürgerinnen und Bürger von Bedeutung, wenn nach drei statt einem Problem gefragt wird. Alle Daten wurden übernommen vom CIS, Centro de Investigaciones Sociológicas, Barómetro de octubre, pp. 3-4;
http://datos.cis.es/pdf/Es2914mar_A.pdf, besucht am 9.11.2011.

[3] In einer weiteren Umfrage des CIS unter mehr als 17 Einwohnern beurteilten 76 Prozent resp. 78,3 Prozent die Regierungsleistung der PSOE im Bereich der Beschäftigung und der Wirtschaft als schlecht oder sehr schlecht. Auf die anschließende Frage, welche Partei, PSOE oder PP, besser vorbereitet sei, die Probleme der Arbeitslosigkeit und der Wirtschaft zu lösen, nannten 15,9 Prozent bzw. 15 Prozent die PSOE und 37,6 Prozent bzw. 41,2 Prozent die PP. CIS, Centro de Investigaciones Sociológicas, Preelectoral elecciones generales, 2011, avance de resultados, http://datos.cis.es/pdf/Es2915mar_A.pdf abgefragt am 9.11.2011.

[4] Definiert als das Verhältnis des Gesamteinkommens von den 20 Prozent der Bevölkerung mit dem höchsten Einkommen (oberstes Quintil) zum Gesamteinkommen von den 20 Prozent der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen (unterstes Quintil). Daten übernommen von
http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode=tsisc010&plugin=0, besucht am 10.11.2011

[5] Eigene Zusammenstellung auf Grundlage des Eurobarometers, http://ec.europa.eu/public_opinion/cf/step1.cfm besucht am 6.11.2011

[6] Für diejenigen, die sich von diesem Hinweis nicht abschrecken lassen:
http://www.rubalcaba.es/wp-content/uploads/2011/10/programa-generales-2011.pdf für die PSOE und http://www.pp.es/actualidad-noticia/ programa-electoral-pp_5741.html für die PP.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2011