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SPANIEN/003: Spaniens Protestbewegung und die Zukunft des Sozialstaates (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Spaniens Protestbewegung und die Zukunft des Sozialstaates

Von Juan Carlos Monedero Fernandez


Am 15. Mai 2011 formierte sich auch in Spanien breiter Protest gegen soziale, wirtschaftliche und politische Missstände. Unser Autor transportiert Gefühlslagen und Weltsicht dieser als Movimiento 15-M ("Bewegung 15. Mai") oder Indignados ("Empörte") bekanntgewordenen Bewegung, vor allem jüngerer Aktivisten. Eine neue Herausforderung für Sozialdemokraten, nicht nur in Spanien.


Jede "rationale" Entscheidung, so erklärt uns der portugiesische Neurowissenschaftler António R. Damásio, ist vor allem erst einmal "emotional" begründet. Daraus folgt aber kein Plädoyer für Irrationalität, sondern eher für eine "emotionale Vernunft" oder für eine "vernünftige Emotion". Für alles das also, was es uns ermöglicht, nicht auf eine Welt hereinzufallen, in der behauptet wird, dass Protest terroristisch sei, Lachen subversiv, Arbeitslose faul und Studenten aufrührerisch. Die "Empörten", die sich als Clowns verkleiden, um gegen Sozialabbau zu demonstrieren, bewirken u.a., dass die Geschosse der Bereitschaftspolizei das Finanzkapital in seiner wahren, unbarmherzigen Natur entblößen. Eine ausgesprochen kluge Emotionalität.

Die Linke hat in ihrer Geschichte meist nur begeistern können, wenn sie sich traute eine andere Welt anzubieten, üblicherweise wenig konkret: "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" lautete der Slogan in der Französischen Revolution, "Land und Freiheit" in der mexikanischen, "Brot, Frieden und Arbeit" in der russischen oder "Vaterland, Sozialismus oder Tod" bei den kubanischen und venezolanischen Aufständen.

Die Bewegung des 15. Mai hat nun geschafft, was bisher noch keiner Internationalen gelungen ist: eine weltweite Demonstration gegen das kapitalistische Modell zu initiieren. Die protestierenden Menschen holten die Demokratie dorthin zurück, wo sie einst entstand: auf die Plätze.

In Anbetracht des Schocks über die Krise, den Naomi Klein vorzüglich in ihrem Buch Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus analysiert hat, reagierte das Volk auf die Diktatur der Märkte dieses Mal anders als üblich. Die Emotionalität des 15. Mai ähnelt dem, was sonst nur durch (Natur)Katastrophen ausgelöst wird. Dann tritt der Egoismus kurzfristig in den Hintergrund, die Gemeinschaft und die gemeinsamen Werte treten in den Vordergrund. Die Freude des 15. Mai übertrug sich auf die Parteien, Gewerkschaften und Institutionen. Man sollte sich aber darauf besinnen, dass dieselben Bürger, die zu den Wahlen gehen, auch die Belange des 15. Mai vertreten. Somit stellt das Ergebnis der Wahlen vom 20. November nicht etwa die Bewegung in Frage, sondern ist vielmehr als großer Anspruch an die neue Regierung zu verstehen.

Emotion bewirkt auch, dass aus Schmerz Wissen entsteht, aus Wissen ein Wollen, aus Wollen Macht und daraus wiederum Taten: wie etwa bei den Studenten in Spanien, Ägypten oder Griechenland, die mitten im Stadtzentrum Zelte aufschlagen. Allein die Emotion vermag die durch Informationsüberflutung, Konsumrausch, Zukunftsangst, Leugnung der Vergangenheit und Ungewissheit verursachte Denkblockade zu durchbrechen. Wenn sich das System aber nur noch um nicht bediente Hypotheken kümmert, um Studiengebühren, um die Kosten, die Alte und Kranke verursachen usw. - dann werden die Menschen in ihren Gefühlen berührt. Nur wenn die Menschen im Mittelpunkt der Debatte stehen, entsteht Anerkennung als Grundlage für die gemeinsame Suche nach Lösungen.


Die Bewegung des 15. Mai - eine Regierungsoption?

Wollte die Bewegung des 15. Mai vorzeitig Verantwortung übernehmen, verlöre sie das gewonnene Terrain wieder und würde ihren eigenen Höhenflug ausbremsen. Noch ist es nicht soweit. Die Bewegung ist nicht die Antwort auf die Sklerose des neoliberalen Kapitalismus und der repräsentativen Demokratie, vorerst ist sie nur die Diagnose ihrer Erkrankung. Warum sollte sie mit ihr erkranken? Sie ist keine Partei und soll auch keine sein. Eine Partei ist das Mittel zu einem Ziel. Die Bewegung des 15. Mai aber erfüllt einen Selbstzweck: Eine große Aussprache, bei der alle genau wissen, was sie nicht wollen, sodass man am Ende herausfinden wird, was man will.

In dem Fehlen von Anführern, Programm und Struktur liegt auch die Gefahr, dass sich die Bewegung wieder verläuft. Der Zapatismus in Mexiko ist ein mahnendes Beispiel: Die Zapatisten hätten das Land verändern können, als es sich mit ihrem Einzug auf dem Zócalo-Platz zu öffnen begann. Doch das Zeitfenster dafür wurde verpasst. Das Erkennen von Zeitfenstern ist in der Politik ein wesentlicher Bestandteil von Erfolg bzw. Niederlage. Die derzeitige Krise des Systems und die Unmöglichkeit, von innen heraus Lösungen zu finden, wird die Suche danach aber weitergehen lassen. Die Bewegung muss sich aber mit Fragen nach Führungsrollen, Programmen und Strukturen befassen, ohne den Schemata der Vergangenheit zu folgen. Dabei müssen Programme weder Geheimrezepte der Experten sein, noch Strukturen zwangsläufig hierarchisch. Es kommt vielmehr darauf an, politische Steuerung neu zu erfinden und daraus Demokratie zu entwickeln, damit es weder dem Markt noch dem Staat, sondern einer organisierten Gesellschaft obliegt, über die Grundlagen des sozialen Zusammenlebens zu entscheiden. Politische Entscheidungen müssen also aus der Diskussion hervorgehen und sich auf ein Fundament gemeinschaftlich getragener Überzeugungen stützen, verankert in einem neuen Sozialvertrag. Zur Ausübung bedarf es letztendlich einer Organisation - in komplexen Gesellschaften dabei nicht an eine Form politischer Repräsentation zu denken wäre illusorisch. Die von den Maßnahmen betroffenen Bürger sollten eine Kontrollmöglichkeit erhalten. Das macht auch die sozialen Netzwerke so bedeutsam, die aufgrund ihrer Horizontalität und der Verbindung formal Gleicher und Gleichgesinnter zu einem zentralen Instrument avancieren. Aus der Bewegung des 15. Mai entspringen vielfältige Möglichkeiten, sich politisch zu organisieren. Es muss nicht zwangsläufig eine Partei sein.


Die Bewegung und die repräsentative Demokratie

Zwei Tatsachen verwirren allerdings bei der Analyse der Bewegung des 15. Mai. Erstens: Wie kann es sein, dass eine Bewegung, die vom linken Lager aus die Unzulänglichkeiten der repräsentativen Demokratie und des neoliberalen Kapitalismus anprangert, letztlich beim Urnengang den rechten politischen Kräften zugute kommt, also denjenigen, die sich am wenigsten für partizipatorische Demokratiemodelle engagieren und das neoliberale Modell mit besonders großem Eifer verteidigen? Zweitens: Wie ist es zu erklären, dass mehr als 70% der Bürger bekunden, dass sie mit den Vorschlägen der Bewegung übereinstimmen, dann aber dennoch 50% der wahlberechtigten Bürger am 20. November ihre Stimmen den beiden Hauptparteien gegeben haben, die für den Qualitätsverlust der Demokratie verantwortlich gemacht werden.

Zuerst einmal muss man verstehen, dass die spanischen Bürger das Wählen als ein Recht verstehen, das man sich einst hart erkämpfen musste. Einfach darauf zu verzichten, ist trotz der derzeitigen Krise der Demokratie also nicht vertretbar. Ferner gehört auch das Wählen gehen zu den gesellschaftlichen Routinen, die zur Strukturierung der Gesellschaftsordnung beitragen. Hinzu kommt, dass die Bürgerinnen und Bürger von der Politik, erst recht in Krisenzeiten, Lösungen für die eigenen Probleme erwarten. Selbstverständlich verfügt diese auch über größere Möglichkeiten etwas zu ändern als der Einzelne alleine. Von den Medien wird dies zudem unterstützt. Ferner bewirkt Angst häufig eine kindliche Sehnsucht nach einer starken Führungsfigur. Bei einem Scheitern kann man sich ja immer noch einem anderen in die Arme werfen.


Der Preis für das Desinteresse der Bürger

Dieses Prinzip ist nicht neu. Bereits Abbé Sieyés, Haupttheoretiker der Französischen Revolution, legte den Grundstein dafür, dem Repräsentanten aufgrund der Annahme seiner besonderen Befähigung die Verwaltung des Öffentlichen zu übertragen. Etwas, das später durch die Französische Verfassung von 1791 quasi verbrieft wurde. Dem französisch-schweizerischen Politiker und Staatstheoretiker Benjamin Constant verdanken wir die Theorie, dass die Freiheit der modernen Menschen im Privaten stattfinde, und nicht etwa in der Agora, dem Ort der Freiheitsausübung in der Antike. Von Louis Napoléon Bonaparte lernten wir später, nach den Revolutionen von 1848, dass auch die Armen bisweilen die für ihre Armut Verantwortlichen wählen, sofern man sie davon überzeugt hat, dass sie in der Unordnung oder in der Revolution mehr zu verlieren hätten, als wenn sie weiterhin das Regime unterstützten, das sie unterdrückt. Gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts kam der Gedanke auf, dass Parteien wie Unternehmen seien, die im ständigen Wettbewerb ihre Gewinne - die Wählerstimmen - maximieren müssen. Doch auch hier entstanden, ähnlich wie auf den Märkten, schon bald Kartelle, in denen die Wettbewerbsregeln ausgehebelt wurden.

Der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio widmete sich in den 70er Jahren, in der Diskussion mit der italienischen marxistischen Linken, dem "Problem des Maßstabs": In heutigen Großstädten, im Gegensatz zur griechischen Agora, wäre eine Demokratie ohne Repräsentation nicht denkbar. Damit endete die "große Erzählung", der zufolge die Demokratie lediglich ein Verfahren und nichts Substanzielles sei. Die Umwandlung der demokratischen Debatte in eine Debatte über die Umwandlung der Wählerstimmen in politische Systeme reduzierte die Politik lediglich auf ein Motto: Gehe wählen und mische dich in die Politik nicht ein. Dies war der Preis für das Desinteresse der Bürger.

Und wie steht es in diesem Zusammenhang um die Bewegung des 15. Mai? Ihr Auftrag ist nicht am Wahltag erledigt, denn ihre primäre Aufgabe besteht darin, die von ihr aufgeworfenen Fragen konsequent weiter zu verfolgen, unabhängig von Wahlbeteiligung oder Wahlausgang.

Überall auf der Welt haben sich Risse im bestehenden Gefüge aufgetan, auch wenn die Mauer noch steht. Und Wahlen vermögen diese Tendenz nur dann zu stoppen, wenn die daraus hervorgehende Regierung bereit ist, die Proteste aufzugreifen. Das vortrefflichste aller falschen Demokratieversprechen, dass man nur die Partei B wählen muss, wenn sich A als unfähig herausgestellt hat, wurde entlarvt. Das haben wir bereits in Portugal, Italien, Griechenland oder auch in den spanischen autonomen Regionen beobachten können, wo die Rechte gesiegt hat. Der Kreis wird sich schließen, sobald die Bürger in Spanien feststellen, dass die Partido Populär mit genau denselben Antworten aufwartet. Dann wird es mit ziemlicher Sicherheit zu einer Großen Koalition zwischen PSOE und PP kommen, die bei der Verfassungsreform bereits erprobt wurde. Das wird der Zeitpunkt sein, an dem die Bewegung des 15. Mai ihre Kohärenz unter Beweis stellen muss, denn diese stand bei den Wahlen ja nicht auf dem Spiel.

Die Verfahrenslegitimation durch Wahlen ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, denn die Merkantilisierung der Politik hat deren Vollmacht delegitimiert. Nun sind Dialoge gefragt. Für Europa steht ein neuer Sozialvertrag auf dem Spiel. Weder Liberale noch Sozialdemokraten scheinen über die konzeptuellen oder praktischen Instrumente zu verfügen, um sich den Herausforderungen zu stellen. So sind die Bürger weiterhin dem Diktat des Marktes unterworfen. Ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen an dem das Volk zu den Orten zurückkehrt an denen einst die Demokratie entstanden ist? Wenn dem so ist, dann ist die Bewegung des 15. Mai dieser Entwicklung bereits einige Schritte voraus.


(Aus dem Spanischen von Kerstin Krolak)

Juan Carlos Monedero Fernandez (* 1963) ist Professor für Politikwissenschaft und Verwaltungslehre an der Universidad Complutense de Madrid.
(jcmonedero@cps.ucm.es)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 48-52
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2012