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EUROPA/728: Was erwartet man von den Kurden? (Memo Sahin)


Was erwartet man von den Kurden?

Von Memo Sahin, April 2009


Erwartet man von den Kurden nach 150jährigem Kampf für Gleichberechtigung, Freiheit und ein würdevolles Leben in Frieden, der Hunderttausende Menschenleben und Verwüstung einer Fläche, die größer als die Bundesrepublik Deutschland ist, kostete, dass sie kapitulieren und ohne international verbriefte Grundrechte ein elendes Leben unter dem Joch der Fremdmächte führen?

Der derzeitige, seit einem Vierteljahrhundert ununterbrochen andauernde Widerstand der Kurden in der Türkei hat mehrfach bewiesen, dass die Kurden nicht bereit sind, unter den jetzigen Bedingungen zu leben. Sie sind dagegen bereit, gleichberechtigt und menschenwürdig mit dem türkischen Volk zusammen zu leben.

Mit den letzten Razzien gegen die DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft) und massenhaften Festnahme ihrer Funktionäre kurz nach den Kommunalwahlen wurden die Hoffnung auf eine friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Türkei für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt.

Diese landesweit gegen die DTP geführte und in ihrer Art größte Operation gegen die legale kurdische Bewegung nach dem Militärputsch von 1980, hat das Ziel, die DTP funktionsunfähig zu machen und faktisch auszuschalten.

Wenn die DTP vom Verfassungsgericht verboten würde, würde es vielleicht einige protestierende Stimmen aus dem Ausland geben. So aber kriminalisiert man die DTP, legt sie lahm und niemand stellt sich dagegen.

Ist damit die Kurdenfrage gelöst?

Wenn der legale Weg für die Kurden gesperrt wird, bleibt eines übrig: Der Weg in die Berge! Will man dies tatsächlich? Wenn die Türkei das will, was wollen Europäer und Amerikaner?

Die Hoffnung erweckende, für den 11. April geplante Konferenz der kurdischen Akteure aus allen vier Teilen Kurdistans unter der Regie der Amerikaner und unter Leitung des Präsidenten Kurdistans, Mesud Barzani, wurde unter dem Druck der Türkei auf unbestimmte Zeit verschoben. Ob sie tatsächlich irgendwann stattfindet, ist somit ungewiss.

Auf dieser Konferenz wollte man eine friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Türkei diskutieren und einen Maßnahmenkatalog verabschieden und auch Bedingungen zur Einstellung des bewaffneten Kampfes der PKK festlegen.

Wenn den legalen Kadern der kurdischen Bewegung nur der Weg in die Berge offen gelassen wird, ist nicht zu erwarten, dass die bewaffneten Kämpfer ihren Kampf einstellen und sich in die Türkei begeben.

Die seit zwei Jahren fast allwöchentlich stattfindenden massenhaften Proteste der Kurden gegen die repressive Politik des türkischen Staates haben gezeigt, dass das kurdische Volk entschlossen ist, die ihnen zustehenden Grundrechte zu erlangen. Die 2,5 Millionen erwachsenen Kurden, die trotz allerlei Hürden, Tricks und Manipulationen bei den Kommunalwahlen DTP gewählt und mit ihrem Votum erreicht haben, daß nun 99 Kommunen von Kurden regiert werden, werden nicht zulassen, dass die kurdische Bewegung aus dem legalen politischen Leben der Türkei verschwindet. Notfalls werden neue Parteien gegründet und der Kampf mit demokratischen Mitteln fortgesetzt werden.

Die erste Generation (der 50-55jährigen) der heutigen Widerstandsbewegung befindet sich immer noch in den Bergen Kurdistans. Die zweite Generation der 30jährigen wurde mit den letzten Razzien verhaftet und ausgeschaltet. Die dritte Generation der unter 18jährigen befindet sich seit zwei Jahren in den Gefängnissen der Türkei und wird im Kindesalter politisiert. Die 14-18jährigen verlassen nach und nach die türkischen Gefängnisse als politische Akteure der neuen Zeit. Und sie werden den Kampf der Kurden übernehmen und fortführen.

Diese Kinder, die in Diyarbakir, Van, Cizre und Adana verhaftet worden sind, wurden des Steinewerfens auf die Polizei und auf Panzer beschuldigt. Die türkischen Staatsanwälte begründeten ihr Vorgehen damit, dass sie Spuren von Steinen in den Händen der Kinder festgestellt hätten. Eines von diesen Kindern D., das noch 16 Jahre ist, wurde nach fünf monatiger Haft entlassen und erklärte: "Wir haben in den Gefängnissen vieles gelernt und uns politisiert. Die Zeit des Steinwurfs ist nun Geschichte." (Ece Temelkuran von der türkischen Tageszeitung Milliyet, 20.3.09)

Seine Äußerung ist zweideutig. Ich befürchte, dass sie nun nach Mitteln greifen, die keine "Spuren" hinterlassen. Wer dies nicht will, muss jetzt handeln! Sonst kann es morgen zu spät sein!


PS: Tatsächlich meldeten die Agenturen, dass die kurdischen Kinder und Jugendlichen am 19. April begonnen haben, gegen das Vorgehen des türkischen Staates Mitteln anzuwenden, die keine Spuren hinterlassenen: Sie warfen Molotowcocktails und Knaller in den Metropolen der Türkei umher und sorgen damit für Unruhe!

Memo Sahin ist ehrenamtlicher Geschäftsführer des Dialog-Kreises "Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden" und Sprecher des Europäischen Friedensrats Türkei/Kurdistan.


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Quelle:
Mehmet Sahin, April 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2009