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EUROPA/750: Kurdenfrage - Wird die Jahrhundertchance ergriffen werden? (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 7-8/2009
Dialog-Kreis

Der Kommentar
Wird die Jahrhundertchance ergriffen werden?

Von Andreas Buro


Nicht nur die Zeitungen in der Türkei sind voll von Kommentaren, Überlegungen, Analysen über die Lösung der Kurdenfrage. Der Premierminister spricht mit dem DTP-Chef. Voll Spannung blicken viele auf die Gefängnisinsel in Imrali. Auch die westliche Medienwelt scheint sich von ihrem PKK-Terrorismus-Primitivbild zu befreien. Die Politik auch? Leider bisher nicht zu erkennen. Es scheint, als habe sich endlich das "Fenster der Möglichkeiten" (Window of Opportunities) geöffnet, diesen fürchterlichen und sinnlosen Konflikt des türkischen Nationalstaates gegen seine kurdischen Mitbürger friedlich beizulegen und die nationalistische Politik der Zwangsassimilierung zu überwinden. Gelänge dies, so wäre dies eine ungeheure Bereicherung für alle Menschen in der Türkei, ob der Herkunft nach Türken, Kurden, Armenier, religiöse Minderheiten. Eine Win-Win-Situation für die ganze Türkei, die ihre reichen Möglichkeiten nun endlich entfalten könnte und nicht im Bruderkrieg um veraltete Ideologien zerfleddern müßte. Diese Hoffnungen dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass nach wie vor viele Kräfte, eine solche Lösung verhindern möchten. Nicht nur die türkische Generalität, nicht nur die alten nationalistischen Kräfte, die in vielen Institutionen noch eine gewichtige Rolle spielen, Terroristen in vielen Lagern, die ihre je spezielle bisherige Legitimationsbasis bedroht sehen - diese vielfältige Gesellschaft enthält eine Fülle sektiererischer Ansätze, die möglicherweise ihre besonderen Ziele brisant zur Auswirkung bringen wollen.

Gefährlich ist auch, wenn nun alle Schritte zu klein ausfallen, kleinliche und faule Kompromisse an Stelle einer Politik der Aussöhnung und des Neuanfangs treten. Gefährlich ist aber auch, wenn die Forderungen von kurdischer Seite so überzogen werden, daß die Mehrheitsgesellschaft mit ihrer nationalistisch-türkischen Sozialisation sich nicht mit ihnen anfreunden kann. Nach dieser Vergangenheit wird ohnehin Umdenken schwer genug sein. Augenmaß ist gefragt!

Für das Durchhalten selbst bei schwerwiegenden Provokationen gibt es eine wesentliche, doch ungewohnte Konstellation. Die USA, die Führungsmacht der NATO, sind aus Gründen, die mit ihrer Irak-Politik zusammen hängen, an einer Lösung der Kurdenfrage interessiert. Das setzt dem türkischen Militär Grenzen und auch den anderen NATO-Mitgliedern, die bisher friedenspolitisch in der Türkei meist eine negative Rolle gespielt haben. Die deutsche Verfolgungspolitik gegenüber der kurdischen Seite kann da nicht verschwiegen werden. Das "Fenster der Möglichkeiten" darf nicht wieder zuschlagen und den Kurs auf die Lösung der Kurdenfrage erneut auf Jahre verstellen. In dieser Situation müssen alle auf friedliche, zivile Lösungen bedachten Kräfte über alle sonstigen Differenzen zusammenstehen.


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Quelle:
Nützliche Nachrichten 7-8/2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2009