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LATEINAMERIKA/1102: Kolumbien - Familien 'Verschwundener' fordern Gerechtigkeit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Juli 2010

Kolumbien: Ungesühnte Verbrechen - Familien 'Verschwundener' fordern Gerechtigkeit

Von Constanza Vieira


Bogotá, 20. Juli (IPS) - Es vergeht kein Tag, an dem Luz Marina Hache nicht an ihren vermissten Mann denkt. Schließlich ist der 25-jährige Sohn seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten und empört sich wie er gegen jede Form der Ungerechtigkeit. Dass den Opfern des kolumbianischen Bürgerkriegs zwischen Armee, Paramilitärs und linker Guerilla jemals Gerechtigkeit widerfahren wird, ist jedoch nicht absehbar. Die Regierung sperrt sich gegen die vollständige Ratifizierung einer internationalen Konvention, die die Rechte der Hinterbliebenen wesentlich stärken würde.

Eduardo Lorne, ein Gewerkschaftsführer der Mitarbeiter der Nationalen Pädagogischen Universität von Kolumbien, war im November 1986 von den Streitkräften verschleppt worden. Ihm wurde vorgeworfen, Mitglied der linksgerichteten militanten Gruppe M-19 zu sein, die 1989 in die Gesellschaft und Politik zurückkehrte.

Seine Frau ist inzwischen 55 Jahre alt. Sie arbeitet für die Generalstaatsanwaltschaft, wo sie auch das Leid anderer Hinterbliebener von Opfern des jahrzehntelangen Bürgerkriegs kennen gelernt hat. "Eduardo sagte immer, dass wir uns ein Land schaffen müssen, in dem auch Andersdenkende respektiert werden", erinnert sich Hache.

Irgendwann gab sie die Suche auf, doch die Ungewissheit belastet sie nach wie vor. "Ich wäre ruhiger, wenn ich wüsste, dass es ein Grab mit seinem Namen gäbe. Dass er nicht ein wie ein Tier verscharrt worden wäre. Dann könnte ich den Tätern verzeihen."


Opfer jahrelang links liegen gelassen

Auch wenn die Kolumbianerin für die Staatsanwaltschaft ihres Landes tätig ist, so hat sie gegenüber dem Rechtssystem ihres Landes erhebliche Vorbehalte. Sie empört, dass die Opfer des bald 50-jähigen Konflikts erst seit zwei Jahren angehört werden - im Grunde nachdem die Opfer und deren Angehörigen mit ihren unbequemen Fragen Zweifel am Wahrheitsgehalt der freiwilligen Geständnisse der Paramilitärs geweckt hatten. Die Regierung des Anfang August scheidenden Präsident Alvaro Uribe hatte mit den Kämpfern einen Demobilisierungspakt geschlossen und teilgeständigen Paramilitärs eine Höchststrafe von acht Jahren in Aussicht gestellt.

Menschenrechtler machen die Paramilitärs für die meisten und besonders brutale Verbrechen verantwortlich. Den irregulären Kämpfern werden Entführung, Verschwindenlassen, Folter und Massenmord sowie die Vertreibung von zehntausender Menschen und die illegale Inbesitznahme derer Ländereien angelastet.

Im Juni 2009 hatte die Regierung die Zahl der Verschwundenen mit 27.000 angegeben. Ende des gleichen Jahres wurde die Zahl von der Staatsanwaltschaft auf 49.000 nach oben korrigiert. Die Nationale Kommission für die Suche nach den Vermissten legte die Zahl im Juli 2010 auf 46.329 fest.

Als 2006 mit Unterstützung der Vereinten Nationen die Internationale Konvention für den Schutz vor Verschleppungen verabschiedet worden war, konnten die Familien dieser Opfer Hoffnung schöpfen. Ein von der Konvention eingesetzter Ausschuss hätte die Möglichkeit, den Opfern tatkräftig zu helfen.


Widerstand gegen Teilratifizierung

Die kolumbianische Regierung will die Befugnisse des Ausschusses jedoch nicht anerkennen und die Konvention deshalb nur teilweise ratifizieren. Bogotá vertritt die Ansicht, dass das Interamerikanische Menschenrechtssystem der Organisation Amerikanischer Staaten als Instanz völlig ausreichend sei. Gegen diese Haltung regt sich in dem südamerikanischen Land aber zunehmend Widerstand. Immer mehr politische Beobachter fordern die Konvention vollständig in Kraft zu setzen.

"Der Ausschuss könnte den Kampf gegen die Verantwortlichen der Entführungen entscheidend voranbringen", sagte Andres Peña von der Nationalen Suchkommission kürzlich auf einem Treffen, das die Vereinigung von Angehörigen Festgenommener Verschwundener (Asfaddes) organisiert hatte.


Internationale Unterstützung für Bürgerkriegsopfer

Die nach einer Verschwundenen benannte Nydia-Erika-Bautista-Stiftung und Asfaddes gehörten im vergangenen Jahr zu den Initiatoren einer Kampagne, die die vollständige Ratifizierung der Konvention durchsetzen will. Der Forderung schlossen sich rund 300 Delegierte aus 23 Ländern Asiens, Afrikas, Amerikas und Europas an, die an einem internationalen Kongress im April in der Hauptstadt Bogotá teilgenommen hatten.

Hache rechnet nicht damit, dass die Mörder ihres Mannes zur Rechenschaft gezogen werden. Sie vertritt aber die Meinung, dass sich die kolumbianische Gesellschaft dazu verpflichten sollte, nie wieder Verschleppungen zuzulassen. (Ende/IPS/ck//2010)


Links:
http://www2.ohchr.org/english/law/disappearance-convention.htm
http://www.hrea.org/index.php?doc_id=413
http://www.comisiondebusqueda.com/
http://www.nydia-erika-bautista.org/index.php?option=com_content&task=view&id=64&Itemid=71
http://www.ipsnoticias.net/print.asp?idnews=95918

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 20. Juli 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2010