Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

LATEINAMERIKA/1220: Haiti - Lokale Hilfsorganisationen ausgegrenzt, Entwicklungschancen vertan (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. Januar 2011

Haiti: Lokale Hilfsorganisationen ausgegrenzt - Entwicklungschancen vertan

Von Kanya D'Almeida


New York, 25. Januar - Keine zwei Monate vor dem ersten Jahrestag der Geberkonferenz für Haiti am 31. März haben Entwicklungsexperten erneut Kritik an der Ausgrenzung haitianischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) beim Wiederaufbau geübt. Von dem Bruchteil der tatsächlich ausgezahlten Gelder sei das meiste den internationalen Akteuren zugegangen.

Nach Ansicht von Lisa Davis, Professorin der 'International Women's Human Rights Clinic' der 'UNY School of Law' und Leiterin der Menschenrechtsabteilung der Frauenorganisation MADRE, hätte sich die Zusammenarbeit mit der lokalen Wurzelbewegung durchaus ausgezahlt.

MADRE arbeitet eng mit KOFAVIV, einer haitianischen NGO, zusammen, die sich für Frauen einsetzt, die in den 22 landesweit verteilten Auffanglagern untergekommen sind. Der UN-Stabilisierungsmission in Haiti bescheinigte Davis zwar den Willen, mit der KOFAVIV zu kooperieren, doch finanzielle Mittel, um die Kapazitäten der Organisation zu erhöhen, seien nicht bereitgestellt worden.


Kritik an UN-Mission

"Die MINUSTAH-Friedenstruppen sind schlecht organisiert, sprechen die Landessprache nicht, kontrollieren nicht alle Auffanglager und gehen dort nachts nicht auf Patrouille. Das heißt, dass ein großer Geldbetrag für einen Posten verwendet wird, der völlig ineffizient ist", kritisiert die Professorin.

Das die UN-Untergruppe, die gegen geschlechterbedingte Gewalt vorgehen soll, Probleme hat, alle 22 Auffanglager im Land zu identifizieren, aber nicht KOFAVIV um Hilfe bittet, zeigt ihrer Ansicht nach, "dass es zwischen Gebern und Graswurzelorganisationen keine Verbindung gibt."

Davis kritisiert ferner, das im Wiederaufbau-Komitee für Haiti (Interim Haiti Recovery Commission - IHRC), dem Vertreter der größten internationalen Finanzorganisationen und Geberstaaten angehören, kein einziges Mitglied einer einflussreichen haitianischen Graswurzelorganisation zu finden ist. Die Stimmen der lokalen Gruppen, die sich für den Wiederaufbau einsetzen, hätten offenbar keine Priorität.

Nach Ansicht von Beverly Bell, Programmdirektorin der US-Hilfsorganisation 'Other Worlds', verfügt Haiti über eine bestens organisierte Graswurzelbewegung, "die den Kampf ihrer versklavten Vorfahren niemals aufgegeben haben". Sie kritisiert, dass keines der im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit umgesetzten Projekte den Willen der Bevölkerung widerspiegelt. Vielmehr erweckten die größeren Geber den Eindruck, alles zu unternehmen, um die Arbeit der haitianischen Demokratiebewegung zu schwächen, in Misskredit zu bringen und zu entwerten.


Spielball fremder Interessen

Sayres Rudy, Politikprofessor am Hampshire College, erinnert daran, dass vor sechs Jahren die USA und Frankreich den demokratisch gewählten ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide nach einer zehn Jahre lang "absichtlich herbeigeführten Paralyse" entführt und ins Exil abgeschoben hätten. Seit dem Fall des Duvalier-Tontons Macoutes-Regimes 1986, der darauffolgenden Wahl von Aristide 1990, seinem Exil, seiner Rückkehr und seinem erneuten Exil könne keine Rede davon sein, dass Haitis Wahlen frei und ohne äußeres Eingreifen stattgefunden habe.

Davis zufolge erklärt sich das Chaos bei den letzten Wahlen durch System- und Strukturschwächen der haitianischen Regierung. "Geberstaaten hätten sich nicht auf die Entwicklung von Kapazitäten und Infrastruktur konzentriert", moniert sie. "Und sie versagten dabei, die wenigen Gelder, die für die Stärkung der lokalen Behörden feigesetzt wurden, zur Stärkung der Regierung zu verwenden."


Land systematisch kaputtgemacht

Nach Ansicht von Peter Hallward, Autor des Buches 'Damning the Flood - Haiti, Aristide and the Politics of Containment' sind Haitianer nicht hilflos, sondern hilflos gemacht worden. Schuld seien zwei langfristige Prozesse gewesen: Zum einen sei da der neoliberale Wirtschaftskurs gewesen, der zur Zerstörung des Staates, zur Privatisierung der staatlichen Vermögenswerte sowie zur Vernichtung von Landwirtschaft und zum Verlust der Kapazität geführt habe, in die eigene Bevölkerung zu investieren. Zum anderen die unverhohlene Einmischung von außen in das politische System mit dem Ziel, den von den Eliten als Gefahr wahrgenommenen demokratischen Wandel zu verhindern.

Einem Bericht des 'North American Congress on Latin America' (NACLA) zufolge geht die derzeitige Entwicklungskrise auf das Jahr 1804 zurück, als eine Rebellion von Sklaven in der ehemaligen französischen Kolonie Saint-Domingue die Kolonialmächte in die Knie zwang und es zur Gründung der ersten schwarzen Republik der Welt kam.

Dem Bericht zufolge belegten Großbritannien, Frankreich und die USA das neue Haiti mit einem lähmenden Embargo. Es wurde erst aufgehoben, nachdem sich Haiti zur Zahlung von 90 Millionen Gold-Francs für den "Verlust von Eigentum" - Sklaven - bereit erklärte. Somit musste der kleine Staat seine Existenz mit einem riesigen Schuldenberg beginnen.

Seither sah sich Haiti gezwungen, eine Reihe von Schlägen durch die westlichen Mächte hinzunehmen, denen vor allem an der Bestrafung, Kontrolle und Ausbeutung des ressourcenreichen Landes gelegen war. Hand in Hand mit einer kleinen Elite verwandelten die USA, Großbritannien und Frankreich das Land von Bauern in ein Land von Tagelöhnern und die Städte in Zentren für den Export von Produkten ausländischer Unternehmen.

Alex Dupey, Autor von 'The Prophet and the Power: Jean Bertrand Aristide, the International Community and Haiti' schreibt: "Die Liberalisierung des Handels verschlimmerte den Niedergang der Landwirtschaft und die Besitzlosigkeit der Bauern, doch kombiniert mit einer Industriestrategie, die die Fertigung nach Port-au-Prince verlagerte, verschlug es auch die Landarbeiter in die Hauptstadt. Somit wuchs Port-au-Prince von einer Stadt mit 150.000 Einwohnern 1950 zur Metropole mit drei Millionen 2008."

Nach dem Erdbeben im letzten Jahr wurde die Überkonzentration von Slumbewohnern wiederholt als Ursache für Nahrungsmittelknappheit, sexuelle Gewalt und Instabilität in Port-au-Prince angeführt. Das Übel sehen Experten in internationalen Entwicklungsmaßnahmen, die lange vor dem Erdbeben ergriffen wurden. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.otherworldsarepossible.org/
http://www.un.org/en/peacekeeping/missions/minustah/
http://www.madre.org/index/meet-madre-1/our-partners-6/haiti-kofaviv--zanmi-lasante-36.html
http://www.madre.org/index.php
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=54220

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 25. Januar 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2011