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LATEINAMERIKA/1343: Chile - Dezentralisierungsforderungen im Norden, Proteste in Aysén machen Schule (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. März 2012

Chile: Dezentralisierungsforderungen im Norden - Proteste in Aysén machen Schule

von Marianela Jarroud



Santiago, 28. März (IPS) - Die Sozialproteste in der südchilenischen Stadt Aysén haben auch in anderen Teilen des Landes Unruhen ausgelöst. So gingen die Menschen in Arica und Calama im Norden des Landes auf die Straße, um wirtschaftliche Unterstützung und Investitionen in die regionale Entwicklung einzufordern.

"Die regionalen Proteste wurzeln in Problemen des letzten Jahrzehnts. Sie waren vorhersehbar und nehmen an Fahrt auf", meint der Anthropologe Juan Carlos Skewes. Die Erhebung in Aysén rund 1.640 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago begann am 18. Februar, nachdem die Menschen in einer der unwirtlichsten und teuersten Zonen des Landes den Staat vergeblich gebeten hatten, ihnen aus der Misere zu helfen.

Die nächsten Proteste brachen in Arica aus, einer Stadt an der Grenze zu Bolivien und Peru. Am 17. März kam es zu einer friedlichen Demonstration gegen die "jahrelange Vernachlässigung durch die Zentralregierung". Dann fanden in Calama, einer verarmten Bergbaustadt, Kundgebungen statt. Dor verlangten die Menschen am 20. März fünf Prozent der Einnahmen aus der regionalen Kupferproduktion.

"Calama ist Schauplatz sozialer Proteste", sagte Bürgermeister Esteban Velásquez. "Auch wenn das viele nicht glauben wollen: wir haben ein politisches und soziales Programm. Wir wollen den Zentralismus abschütteln, der uns erstickt." Am Tag zuvor hatten Velásquez und die Bürgermeister weiterer 13 Städte im Norden Chiles einen Sieben-Punkte-Forderungskatalog für Chiles Präsidenten Sebastián Piñera vorbereitet, in dem sie Investitionen in die regionale Entwicklung, den Bau von Verbindungsstraßen und einen fairen Anteil an den Gewinnen der Gasproduktion anmahnten.

Nach Ansicht von Skewes, Direktor der anthropologischen Fakultät der Alberto-Hurtado-Universität, haben die Ereignisse in Aysén den anderen Regionen die Botschaft übermittelt, dass es durchaus Mittel und Wege gibt, sich Gehör zu verschaffen. Solange der Staat konkrete Angebote zugunsten einer gerechteren Verteilung der finanziellen Mittel und einer demokratischen Wahl von Regionalbehörden schuldig bleibe, würden die Kundgebungen weitergehen.

In Chile ist es Aufgabe der Zentralregierung, die Gouverneure der Bundesstaaten und die Provinzbehörden zu bestimmen. Lediglich die Bürgermeister werden durch das Volksvotum bestimmt. Skewes zufolge erklärt sich die soziale Unzufriedenheit aus der fehlenden politischen Repräsentanz der Bürger.

Die Demonstrationen in Aysén zwangen die Zentralregierung dazu, einem Gesetzesprojekt oberste Priorität einzuräumen, der die Wahl von Regionalräten vorsieht. Doch das Parlament hat bereits gewarnt, dass das Gesetz nicht rechtzeitig zu den Kommunalwahlen im Oktober verabschiedet werden kann. Beide Wahlen sollen am gleichen Tag stattfinden.

Menschenrechtsorganisationen und Abgeordnete haben in diesem Monat auf die massive Polizeigewalt aufmerksam gemacht, der die Menschen in Aysén ausgesetzt waren. Die Situation spitzte sich am 19. März zu, als die Regierung die Militärpolizei losschickte, um die Demonstrationen aufzulösen.

Als die Menschen in Aysén versuchten, die Polizeifahrzeuge zu blockieren, kam es zu regelrechten Schlachten. Augenzeugen berichteten, dass die Sicherheitskräfte mit Gummigeschossen auf die Köpfe der Demonstranten gezielt und Tränengas und Steine in Privathäuser geworfen hätten.


Brutale Polizeigewalt

"Ganze Nächte lang herrschte so etwas wie der Kriegszustand", berichtete die Journalistin Claudia Torres von der lokalen Radiostation 'Santa María de Aysén', einem der wichtigsten Informationskanäle der Region. "Die Repression war brutal. Es liegen Berichte von Menschen vor, die geschlagen, angeschossen und festgenommen wurden. Frauen wurden gezwungen, sich vor männlichen Polizisten auszuziehen."

Die Polizeigewalt veranlasste das staatliche Nationale Menschenrechtsinstitut, zum Schutz der Bevölkerung und insbesondere von Kindern und Jugendlichen Verfassungsbeschwerde einzulegen. Darüber hinaus forderte das Gremium die Abgeordneten der Opposition dazu auf, Verfassungsklage gegen Chiles Innenminister Rodrigo Hinzpeter zu erheben, der am Abend des 22. März im Präsidentenpalast in der Hauptstadt Santiago mehr als drei Stunden mit den Wortführern der Sozialproteste verhandelt hatte.

Beide Seiten erklärten sich zur Fortsetzung der Verhandlungen unter bestimmten Bedingungen bereit. So verlangte die Regierung das Ende der Straßenblockaden, während die Unterhändler aus Aysén den Rückzug der Sondereinheiten und die Rücknahme von 22 gerichtlichen Eingaben der Exekutive auf der Grundlage des chilenischen Sicherheitsgesetzes forderten.


An echter Krisenbewältigung desinteressiert

"Man hofft immer, dass die Regierung begreift, dass es sozialen Bewegungen darum geht, gehört zu werden", meinte die Journalistin Torres. "Doch fürchte ich, dass wir es erneut mit einer weiteren Strategie von Minister Hinzpeter zu tun haben, nur so zu tun, als ob man an einem Dialog interessiert sei."

Skewes zufolge zeichnet sich die derzeitige chilenische Regierung durch einen Mangel an politischer Kultur und Erfahrung bei der Beilegung von Konflikten aus. Ohne konkrete Gesten sei nicht damit zu rechnen, dass in den Unruheprovinzen Ruhe einkehre. "Dass Menschen ihre Rechte einfordern und ihren Unmut in sozialen Protesten zum Ausdruck bringen, ist die Folge sozialer Einschränkungen, Ungleichheit, Vernachlässigung, Widersprüche innerhalb der chilenischen Gesellschaft und des Bestrebens, endlich anerkannt zu werden." (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2012