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LATEINAMERIKA/1374: Kolumbien - FARC-Unterhändler Ricardo Téllez im Interview (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Oktober 2012

Kolumbien: 'Der Frieden braucht seine Zeit' - FARC-Unterhändler Ricardo Téllez im Interview

von Patricia Grogg


FARC-Unterhändler Ricardo Téllez - Bild: © Patricia Grogg/IPS

FARC-Unterhändler Ricardo Téllez
Bild: © Patricia Grogg/IPS

Havanna, 15. Oktober (IPS) - Wenige Tage vor Beginn der Gespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen steht noch nicht fest, ob Washington dem in den USA inhaftierten Guerillaführer Simón Trinidad die Teilnahme an dem Dialog in Oslo erlauben wird. "Simón wird am Verhandlungstisch sitzen", meinte hingegen FARC-Unterhändler Rodrigo Granda im IPS-Interview in Havanna.

Die kolumbianische Justizministerin Ruth Stella Correa hatte kürzlich erklärt, dass einer virtuellen Teilnahme des FARC-Führers an den Gesprächen ab dem 17. Oktober juristisch gesehen nichts im Wege stünde.

Trinidad sitzt seit Anfang 2005 eine 60-jährige Gefängnisstrafe wegen Verschwörung und Geiselnahme in den USA ab. Es sei zwar Sache der Vereinigten Staaten zu entscheiden, ob sie Trinidad erlaubten, nach Oslo und dann nach Havanna zu reisen, dem ständigen Sitz der Friedensgespräche. Doch dürfe den Kolumbianern nicht ein Mann vorenthalten werden, der die nationale Situation genauestens kenne und zu einer Lösung des Konflikts beitragen könne.

Es folgen Auszüge aus dem Interview mit Granda, der im zivilen Leben Ricardo Palmera heißt.

IPS: Ist die Teilnahme Trinidads eine Vorbedingung für den Dialog? Was geschieht, wenn die Erlaubnis ausbleibt?

Granda: Simón wird immer am Verhandlungstisch sitzen. Er ist einer der zehn Unterhändler - und zwar einer der ganz wichtigen.

Die Regierung von Juan Manuel Santos hat ihrerseits ein zehnköpfiges Team zusammengestellt. Wir hatten keine Einwände gegen die Mitglieder erhoben. Wir erwarten von unseren Verhandlungspartnern das Gleiche, damit auch die FARC-Delegation vollständig ist.

IPS: Sollten die USA ebenfalls am Verhandlungstisch sitzen?

Granda: Die FARC sind keine Feinde des US-amerikanischen Volkes. Doch hat das Land zwölf Milliarden US-Dollar zu dem grausamen Krieg in Kolumbien beigetragen. Das bedeutet, dass es an dem internen Konflikt beteiligt war. Eine Teilnahme an den Verhandlungen würde sicherlich helfen. Wir hätten nichts dagegen.

Ebenso sinnvoll wäre, wenn die USA den Kameraden Simón Trinidad als politischen Gefangenen anerkennen und ihm erlauben würden, nach Oslo und später nach Havanna zu kommen, damit er leibhaftig seinen Beitrag zum kolumbianischen Friedensprozess leisten kann.

Wir dürfen den Kolumbianern nicht einen Mann vorenthalten, der das nationale Problem kennt und viel zu diesem Prozess beitragen könnte.

IPS: Was erwarten Sie von den Verhandlungen in Oslo?

Granda: Man darf sich keine großen Illusionen machen. Wir werden uns zunächst einmal kennenlernen. Es geht um zwei Feinde, die sich teilweise erstmals ins Gesicht blicken werden. Es geht zunächst darum, Vertrauen aufzubauen. Wir werden dort sicherlich das ein oder andere Problem lösen, das für das Funktionieren der Gespräche, Normen, Gesprächsorte und Gesprächszeiten wichtig ist. Es wird aber um nichts Weltbewegendes gehen.

Die Verhandlungen werden einige Wochen danach in Havanna fortgeführt. Dann beginnt die ernste und tiefgehende Analyse der im Allgemeinen Abkommen zur Beendigung des Konflikts und des Aufbaus eines stabilen und dauerhaften Friedens aufgeführten Punkte.

IPS: Das Agrarthema scheint Ihnen wichtig zu sein. Warum?

Granda: Kolumbien ist das einzige Land Lateinamerikas, das keine Agrarreform auf den Weg gebracht hat. Dabei haben wir bis zu 100.000 Hektar große Latifundien, obwohl es 87 Prozent der Bauern an Böden fehlt.

Wir sprechen von einer integralen Agrarreform, die die Konfiszierung von Ländereien zur Verteilung an jene vorsieht, die sie bearbeiten können. Die Regierung hat ihrerseits mitgeteilt, ein integrales ländliches Entwicklungsprojekt anzustreben. Wir werden uns entgegenkommen. Alle Diskussionspunkte sind wichtig. Wir werden allen Problemstellungen offen gegenüber treten, mögen sie noch so schmerzhaft sein, und nach Lösungen suchen.

IPS: Teilen Sie die Meinung derer, die von einer letzten Chance für den Frieden sprechen?

Granda: Für Frieden gibt es überall und in allen Konflikten der Welt immer Chancen. Kolumbien ist da keine Ausnahme. Derzeit jedoch sind die Voraussetzungen besonders günstig, um auf dem Verhandlungswege zu einem Arrangement zu kommen.

Ich habe den Eindruck, dass die Regierung in diesem Augenblick besonders realitätsbezogen ist. Man weiß, dass die Guerilla militärisch nicht zu besiegen ist.

Der Verhandlungsprozess wird seine Hochs und Tiefs haben, aus denen wir nur mit großer Hingabe herauskommen können, indem wir den Frieden als übergeordnetes Prinzip im Auge behalten. Das ist der große Dienst, den die FARC unserem Lande und den lateinamerikanischen Revolutionen leisten kann. Wir sind der Meinung, dass sich auch heute noch unser bewaffneter Krieg rechtfertigen lässt. Wenn sich die Lage ändert, ändern auch wir uns.

IPS: Im regionalen Kontext gibt es für den bewaffneten Weg keinen Zuspruch. Warum bestehen Sie auf dieser Form des Kampfes?

Granda: Im besonderen Fall Kolumbien sind die Faktoren, die dem bewaffneten Kampf zugrunde lagen, nach wie vor vorhanden. Dass es inzwischen einen Präsidenten gibt, der ihn beenden, seine Ursachen ergründen und die Bremse ziehen will, steht auf einem anderen Blatt.

Santos findet in der FARC einen wertvollen Gesprächspartner, der ihm sagen wird: "Wenn ihr die Faktoren, die zum bewaffneten Kampf geführt haben, angeht und abschafft, hören wir auf und werden eine andere Form des Kampfes führen, der offen, legal und politisch sein wird." Ein stabiles und dauerhaftes Friedensabkommen braucht seine Zeit.

Wir wollen den Krieg beenden, auch wenn die Mentalität der Regierung und der militärischen Führung die physische Vernichtung der Guerilla ist und man in einem solchen Zusammenhang alle möglichen Formen des Kampfes praktiziert. Sie haben uns Schläge versetzt, so wie wir ihnen Schläge versetzen. Derzeit befinden wir uns in einer militärischen Pattsituation, die eine politische Lösung erforderlich macht.

Der Konflikt könnte sich theoretisch noch 20 bis 30 Jahre in die Länge ziehen. Doch ist das gut für unser Land und für Lateinamerika? Wir meinen, dass dies nicht der Fall ist und auch nicht vom kolumbianischen Volk gewünscht ist.

IPS: Kürzlich hat sich das FARC-Sekretariat mit dem Zentralkommando des Nationalen Befreiungsheeres (ELN) getroffen. Gibt es einen Vorschlag zur Beteiligung dieser weiteren Guerilla an dem Verhandlungsprozess?

Granda: Nein. Allerdings lässt das Abkommen mit der Regierung, das wir unterzeichnet haben, die Beteiligung anderer Rebellenorganisationen zu, um den Friedensprozess zu unterstützen.

Jede Guerillaorganisation ist autark, und das ELN verfügt über ausgezeichnete und intelligente Mitglieder. Wir glauben, dass auf ihrer Seite die Bereitschaft besteht, am Frieden in Kolumbien mitzuwirken. Gabino (Nicolás Rodríguez Bautista, Chef des Zentralen ELN-Kommandos) hat das öffentlich eingeräumt. Wir sind recht zuversichtlich, dass es mit dem ELN zu einem ähnlichen Prozess kommen könnte.

IPS: Unabhängig voneinander?

Granda: In diesem Monat kommt unser Prozess schnell voran. Die Regierung und das ELN haben offenbar erst einige Kontakte geknüpft. Wir sind bereit, dem ELN Hilfestellung zu leisten und alle Informationen und Erfahrungen, die wir in den letzten Monaten während der Geheimgespräche sammeln konnten, bereitzustellen (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://ipsnoticias.net/fotos/104925455_Acuerdo_Terminacion_Conflicto.pdf
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=101716

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2012