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LATEINAMERIKA/1477: Kuba - 20 Jahre nach Bootsflüchtlingskrise, Wunden noch nicht geheilt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. August 2014

Kuba: 20 Jahre nach Bootsflüchtlingskrise - Wunden noch nicht geheilt

von Ivet González


Bild: © Creative commons

Ob aus Holz oder aus Plastikrohren - Hauptsache, die Flöße der Balseros gingen nicht unter
Bild: © Creative commons

Havanna, 8. August (IPS) - Wenn Kubaner nach den 'Balseros' gefragt werden, brechen sie entweder in Tränen aus, schweigen oder geben ausweichende Antworten. 20 Jahre sind vergangen, seitdem Kubaner in Scharen auf selbstgebauten Flößen die Heimat verließen. Doch der für lateinamerikanische Verhältnisse beispiellose Exodus ist nach wie vor ein Tabuthema im karibischen Inselstaat.

Der Begriff der 'Balseros' wurde geprägt, als die Menschen erstmals 1961 versuchten, mit Flößen die gefährliche Reise von Kuba über das Meer in die USA zu unternehmen. Doch 1994 kam es zum Massenexodus. Trotz der Reform der lokalen Einwanderungsgesetze stechen auch heute noch Kubaner in Richtung USA in See.

"Über die Balseros wird hier in der (ausschließlich staatlichen) Presse nicht gesprochen", meint der 66-jährige Frank López, der sich noch gut daran erinnern kann, wie seine Landsleute in Massen Kuba verließen. "Diejenigen, die darüber etwas wissen, haben sich über die Antenne informiert", meint er in Anspielung auf den geheimen Zugang zu ausländischen Fernsehsendern.

Nach Angaben der US-Küstenwache ist die Zahl der Kubaner, die ihre Heimat verlassen, inzwischen stabil. Obwohl die beiden Länder nur 145 Kilometer auseinanderliegen, nutzen Kubaner die schwierigeren Routen über Mexiko, die Cayman-Inseln oder über Puerto Rico, um in die USA zu gelangen.

Rund 1.271 Bootsflüchtlinge wurden zwischen Oktober 2012 und September 2013 auf See aufgegriffen. Im Vergleichszeitraum Oktober 2011 bis September 2012 waren es 1.275 gewesen. Sie alle wurden gemäß den bilateralen Abkommen nach Kuba zurückgeschickt.

Das kubanische Anpassungsgesetz, das in den USA seit 1966 in Kraft ist, gibt allen Kubanern, die US-amerikanischen Boden erreichen, ein Aufenthaltsrecht von einem Jahr und einen Tag - unabhängig davon, ob die Einreise legal oder ohne Papiere erfolgte. Diese Regelung hat bereits viel Konfliktstoff in dem bilateralen Konflikt geboten.

Havanna zufolge fördert das Gesetz die illegale Auswanderung der Kubaner, während Washington argumentiert, dass die Kubaner aus Unzufriedenheit mit der politischen Situation und der seit 1959 amtierenden sozialistischen Regierung das Land verlassen wollten.


36.000 Balseros im Sommer 1994

Doch hatte das Anpassungsgesetz wenig mit dem zu tun, was sich in jenem turbulenten Sommer 1994 abspielte, als mehr als 36.000 Kubaner in Fischerbooten oder auf selbst gezimmerten, mit und ohne Motoren ausgestatteten Holz- oder Plastikflößen in See stachen.

Die Zahl derer, die versuchten, die USA über die Florida-Straße zu erreichen, war Anfang 1994 stark angestiegen. Die Spannungen zwischen beiden Ländern, die keine formellen diplomatischen Beziehungen zueinander unterhalten, nahmen damals zu. Das US-Embargo gegen Kuba, das seit 1962 in Kraft ist, hatte die Beziehungen bereits empfindlich belastet.

Im Juli und Anfang August entführten Gruppen von Kubanern mindestens vier Regierungsboote, um mit ihnen - zum Teil erfolgreich - in Richtung USA zu fliehen. Das Flüchtlingsproblem war auch die Triebfeder für den sogenannten 'Maleconazo' am 5. August, den ersten heftigen Protest seit 30 Jahren, der in die Krise mündete.

Der damalige Präsident Fidel Castro (1959-2008) teilte daraufhin seinem US-amerikanischen Amtskollegen Bill Clinton (1993-2001) mit, dass seine Regierung die Flüchtlingsströme nicht mehr aufhalten werde. Castro erklärte damals, dass der Exodus vor allem darauf zurückzuführen sei, dass die USA die Balseros willkommen hießen und unterstützten, anstatt sich an das 1984 eingegangene Versprechen zu halten, jährlich 20.000 Kubanern Visa auszustellen. Zwischen 1987 und 1994 wurde statt der möglichen 160.000 gerade einmal 11.112 Menschen ein Visum erteilt.

Den Beginn der Flüchtlingskrise im Jahr 1994 geben Experten mit dem 12. August an. Damals wurde die kubanische Küstenwache nach einem weiteren Zwischenfall mit einem Boot angewiesen, ihre Patrouillen einzustellen und die Flüchtlinge ziehen zu lassen. Die Kontrollen wurden erst wieder am 13. September - nach neuen Gesprächen zwischen beiden Regierungen - aufgenommen.

Viele Kubaner, die diese Zeit erlebt haben, erklären, von ihr auf ewig geprägt worden zu sein. "Menschenmassen strömten zu den Stränden, um zu sehen, wer alles das Land verlässt", berichtet López. "Ich ging damals an den Pier von Cojímar (einem Stadtteil Havannas), um mir das mit eigenen Augen anzusehen."

Es gibt viele Dinge, an die er sich nur allzu gut erinnert, wie die Schilder, die an den Häusern hingen, auf denen 'Flöße zu verkaufen' zu lesen war, der ständige Strom ankommender Autos, die selbstgemachte Flöße transportierten, und die Trauben von Menschen, die sich fertig machten, um in See zu stechen.

Wie die im US-amerikanischen Miami lebende Clara Domínguez im IPS-Interview erklärte, hat sie nie bereut, am 21. August 1994 mit ihrem Mann und ihrem Sohn von Havanna aus die Reise in Richtung USA angetreten zu haben, wohlwissend, dass die Balseros, die aufgegriffen wurden, auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo im Osten Kubas festgehalten wurden.


Zwei Jahre in Auffanglagern

Dort und in ähnlichen Einrichtungen in Panama und dem Kome-Flüchtlingslager in Florida hielt die Clinton-Regierung tausende kubanische Migranten bis zur Klärung der Frage fest, wie man mit ihnen verfahren sollte. Sie wurden dort zwei Jahre lang festgehalten, ohne zu erfahren, was mit ihnen geschehen würde.

Kuba erklärte sich im Rahmen des ersten am 9. September erzielten, bilateralen Abkommens bereit, die rückkehrwilligen Bürger wieder aufzunehmen. Das Angebot wurde von einigen Balseros angenommen. Doch die meisten knüpften ihr Schicksal an den unsicheren Ausgang der Gespräche zwischen beiden Regierungen, die im Mai 1995 erfolgten, nachdem Washington aus humanitären Gründen mit der Ausstellung von Visa begann.

Formell endete die Krise im Januar 1996, als der letzte Flüchtling Guantánamo verließ. Unfähig, die Tränen zurückzuhalten, erklärte die 68-jährige Domínguez, dass der Jahrestag ein trauriger Tag sei. "Wir mussten Kuba verlassen, weil es keine Freiheiten und Perspektiven gab", meinte sie. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hatte Kuba seinen Haupthandelspartner verloren und das Land versank in einer wirtschaftlichen Depression, von der es sich bis heute nicht erholt hat.

Bild: © Ivet González/IPS

Die Balsera Clara Domínguez in ihrem Garten in Miami, Florida
Bild: © Ivet González/IPS

Für Domínguez war der positivste Aspekt der 1994 und 1995 erreichten Abkommen, dass die USA mit der Ausgabe von jährlich 20.000 Visa begannen, um eine sichere, legale und geordnete Einwanderung zu ermöglichen. Besonders tragisch an dem Exodus, nicht nur aus Kuba, sondern auch aus Haiti und der Dominikanischen Republik, ist der Verlust so vieler Menschenleben in der von Haien heimgesuchten Florida-Straße, in der zudem Drogen- und Menschenhändler agieren.

Die 74-jährige Nancy Reyes hat seit 1992 nichts mehr von ihrem einzigen Sohn gehört. "Das einzige, was ich in Erfahrung bringen konnte, war, dass er das Land verlassen wollte. Seitdem lebe ich mit der Ungewissheit", sagte Reyes, die in der 87 Kilometer östlich von Havanna gelegenen Stadt Matanzas lebt.


Ähnliche Krise unwahrscheinlich

Der Kampf gegen die illegale Auswanderung und die Schlepper gehörte zu den zentralen Gesprächen zwischen Havanna und Washington, die immer wieder durch Höhen und Tiefen gekennzeichnet sind. "Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass es nochmals zu einer solchen Krise kommt", meint der Wissenschaftler Antonio Aja.

2013 wurden die kubanischen Einwanderungsgesetze reformiert. Die Änderungen erleichtern Kubanern die Aus- und Wiedereinreise in die alte Heimat. Inzwischen hat das US-Interessenbüro in Havanna mit der Ausgabe von Fünfjahresvisa für eine wiederholte Einreise an diejenigen Kubaner begonnen, denen der Besuch der USA erlaubt wurde. Ein Jahr zuvor waren nach offiziellen Angaben 46.662 Kubaner emigriert. Die meisten wählen inzwischen den Luftweg. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/08/los-balseros-siguen-como-herida-abierta-en-cuba-20-anos-despues/
http://www.ipsnews.net/2014/08/cubas-balsero-crisis-still-an-open-wound-20-years-on/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2014