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LATEINAMERIKA/1497: Chile - Bachelet-Regierung setzt Schlüsselreformen zur Stärkung der Demokratie durch (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Februar 2015

Chile: Bachelet-Regierung setzt Schlüsselreformen zur Stärkung der Demokratie durch

von Marianela Jarroud



Bild: © Ximena Navarro/Regierung von Chile

Chiles Staatspräsidentin Michelle Bachelet auf einer Veranstaltung, auf der sie das Gesetz gegengezeichnet hat, das Schwangerschaftsabbrüche in drei Indikationen erlaubt
Bild: © Ximena Navarro/Regierung von Chile

Santiago, 10. Februar (IPS) - Chiles Staatspräsidentin Michelle Bachelet hat in den insgesamt zehn Jahren ihrer Regierungszeit entscheidende Reformen zur Konsolidierung der nach wie vor jungen Demokratie durchgesetzt. So sorgte sie für die Erneuerung des Wahlsystems, für eine erste große Bildungsreform und ein Eherechtsabkommen, das das Zusammenleben von gleich- und nicht gleichgeschlechtlichen Paaren regelt.

Darüber hinaus will sie den Frauen ihres Landes zu einem Gesetz verhelfen, das Abtreibungen in Fällen erlaubt, in denen die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande kam, der Fötus nicht überlebensfähig oder das Leben der werdenden Mutter gefährdet ist.

"Die Regierung reagiert auf die Bedürfnisse der Bürger, die sie in den vergangenen 15 Jahren angemeldet haben", meint dazu die politische Analystin Francisca Quiroga. Tatsächlich arbeitet Bachelet, deren Popularität den neuesten Umfragen zufolge nicht über die 50-Prozent-Grenze steigt, rigoros ihr Regierungsprogramm ab, das ihr am 11. März 2014 die Rückkehr ins höchste Staatsamt ermöglicht hatte. Ihre erste Regierungszeit erstreckte sich von 2006 bis 2010.

Quiroga hält die Reform des binomialen Wahlgesetzes, ein Erbe der Diktatur von 1973 bis 1990, zugunsten des Proporzwahlrechts für ihre bisher bedeutungsvollste Leistung. Das binomiale Wahlrecht kam ohne Wahlregister aus und grenzte die kleineren politischen Parteien aus.

Jede Partei konnte pro Wahlkreis zwei Kandidaten aufstellen. Beide Kandidaten einer Partei waren gewählt, wenn ihre Liste doppelt so viele Stimmen wie die zweitstärkste Liste errang. Ansonsten konnten der Kandidat der Liste mit den meisten Stimmen und der mit den zweitmeisten Stimmen ins Parlament einziehen. Trotz dieses in repräsentative Hinsicht defizitären Systems konnte es sich in den 25 Jahren der Demokratie halten.

"Die Spielregeln dieses binomialen Systems zu ändern, bedeutete das Ende der historischen Ausgrenzung etlicher Akteure und eines in Misskredit geratenen Parlaments", unterstreicht Quiroga.


Ungleichheit bleibt ein Problem

Ein weiteres Vermächtnis der Diktatur ist die große Ungleichheit in dem 17 Millionen Einwohner zählenden Land. Zwei von drei Haushalten müssen mit weniger als 1.200 US-Dollar im Monat auskommen. Die Hälfte aller Arbeiter verdienen keine 500 Dollar im Monat. Demgegenüber stehen den 4.500 reichsten Familien mehr als 40.000 Dollar im Monat zur Verfügung.

"Die Ungleichheit ist in Chile so groß, dass die Menschen der fünf Prozent ärmsten Haushalte pro Kopf mehr als 270 Mal schlechter dastehen als die der fünf Prozent reichsten Haushalte", rechnet der Wirtschaftswissenschaftler Gonzalo Durán von der 'Fundación Sol' vor. "Wir sprechen von einem Graben, der im Zeitraum 1990 bis 2011 doppelt so breit geworden ist. Danach hat die Ungleichheit in den letzten 20 Jahren um 100 Prozent zugenommen."

Aus Unzufriedenheit über ihre Benachteiligung macht sich insbesondere in den unteren gesellschaftlichen Schichten eine große Wahlmüdigkeit bemerkbar. Zu ihnen gehört auch die 66-jährige Consuelo Acevedo. "Politiker versprechen vieles, doch sind sie erst gewählt, vergessen sie, was sie dem Volk versprochen haben. Außerdem verfügen sie selbst über riesige Gehälter, während in unserem Land tausende Menschen hungern müssen", meint die Rentnerin.

Quiroga zufolge trug dazu das Problem der politischen Repräsentanz bei, das jedoch durch die am 22. Januar gebilligte Reform fortan der Vergangenheit angehört. "Wir befinden uns in einem für die Demokratie wichtigen Augenblick", betont sie und weist darauf dahin, dass das Gesetz die politische Partizipation von Frauen, Minderheiten und unabhängigen Gruppierungen begünstigt.

Dass die Reformen möglich waren, verdankt Bachelet der Stärke ihrer Mitte-Links-Koalition 'Neue Mehrheit' im Zwei-Kammer-Parlament des Landes. Die Opposition ist hingegen geschwächt, seit sich die stärkste konservative Partei, die Unabhängige Demokratische Union, mit Korruption, Steuerhinterziehung und einem Wahlkampfspendenskandal selbst ins Abseits befördert hat.


Internationalen Standards angepasst

Das am 28. Januar beschlossene neue Eheschließungsabkommen und das kürzlich eingebrachte Gesetz für therapeutische Schwangerschaftsabbrüche sind in Chile durchaus auf Kritik gestoßen. Doch Quiroga zufolge passt sich Chile mit den Reformen an internationale Rechtsstandards an. "Chile gehörte aufgrund der Einschränkungen hinsichtlich der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen zu den konservativsten Gesellschaften der Welt", fügt sie hinzu.

Die erste große Bildungsreform, wie sie im Rahmen der Studentenproteste seit 2011 gefordert wurde, setzt einem Bildungssystem Grenzen, das vor allem den Kindern reicher Familien zu Bildung verhilft. Die Reform erstreckt sich auch auf die privaten Einrichtungen, die staatlich subventioniert werden. Allerdings räumt Quiroga ein, dass der Status quo gewahrt bleibe, ein struktureller Wandel noch immer auf sich warten lasse.


Bild: © Claudio Riquelme/IPS

Seit 2001 gehen Studenten in Santiago de Chile für Bildungsreformen auf die Straße
Bild: © Claudio Riquelme/IPS

Die am 26. Januar gebilligte Reform ist deshalb auf die breite Ablehnung der politischen Rechten wie auch der Studenten gestoßen, die sich eine Beteiligung gewünscht hatten. "Uns war ein tiefgreifender Transformationsprozess versprochen worden, in dem wir ein Mitbestimmungsrecht haben sollten", kritisiert die Studentenvereinigung der Universität von Chile.

Die Seniorin Acevedo begrüßt die von Bachelet vorangebrachten Reformen. "Die Bildungsreform halte ich für grundsätzlich gut, weil sie jungen Menschen aus ärmeren Schichten höhere Bildungschancen ermöglicht." Doch trotz aller Fortschritte gebe es noch viel zu tun, damit es weiten Kreisen der Bevölkerung besser gehe. (Ende/IPS/kb/2015)


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http://www.ipsnoticias.net/2015/02/chile-comienza-a-saldar-las-deudas-de-la-democracia/

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IPS-Tagesdienst vom 10. Februar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2015

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