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LATEINAMERIKA/1502: Brasilien - Kaum Land für Landlose unter Regierung Rousseff (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. März 2015

Brasilien: Kaum Land für Landlose unter Regierung Rousseff

von Fabiola Ortiz


Bild: © Mit freundlicher Genehmigung der MST

Bauern von der brasilianischen Landlosenbewegung MST auf einer Solidaritätsveranstaltung für die Teilbesetzung der Farm 'Agropecuaria Santa Mônica' 150 Kilometer südlich von Brasilia am 21. Februar 2015
Bild: © Mit freundlicher Genehmigung der MST

Rio de Janeiro, 3. März (IPS) - Brasilien gehört zu den Staaten der Welt mit der höchsten Konzentration von Landbesitz. Rund 200.000 Kleinbauern sind Landlose, die im Zuge der Landreform eine kleine Parzelle erhalten sollen. Doch unter der Regierung von Staatspräsidentin Dilma Rousseff hat sich der Prozess drastisch verlangsamt.

Die geringsten Fortschritte der letzten 20 Jahre wurden im Zeitraum 2011 bis 2014 gemacht, der ersten Amtszeit von Rousseff, heißt es in einem Untersuchungsbericht der Brasilianischen Pastoralen Landkommission (CPT). Am 1. Januar hat die Staatschefin ihre zweite Amtszeit angetreten.

"Die hohe Landkonzentration in Brasilien mag zwar ein historisches Problem sein, doch ist es sehr beunruhigend, dass sie unter Rousseff wieder zugenommen hat", meint Isolete Wichinieski, die Koordinatorin der CPT. "Während die ländlichen Neuansiedlungen und die Vergabe von Landtiteln für indigene Territorien und Quilombos [den Gemeinden der Nachfahren afrikanischer Sklaven] rückläufig sind, haben sich die Investitionen ins Agrobusiness und die Agroindustrie erhöht."

Sozialverbände hatten gehofft, dass Rousseff, die wie ihr Amtsvorgänger Luíz Inácio Lula da Silva (2003-2011) der linken Arbeiterpartei angehört, sich für die Demokratisierung der Landbesitzverhältnisse einsetzen würde. Stattdessen räumte sie der industriellen und kommerziellen Landwirtschaft, dem Bergbau und größeren Infrastrukturprojekten Priorität ein.


Landreform ausgebremst

Dem CPT-Bericht zufolge waren in den ersten fünf Jahren ihrer Präsidentschaft 103.746 Familien im Rahmen des staatlichen Agrarreformprogramms mit Land ausgestattet worden. Was nach viel klingt, ist in Wirklichkeit eine Mogelpackung. Denn 73 Prozent der Neuansiedlungen waren bereits vor ihrem Amtsantritt weit fortgeschritten. Unter Rousseff kamen lediglich 28.000 zusätzliche Familien zu eigenen Parzellen. Die Regierung hat eingeräumt, dass sie im letzten Jahr gerade einmal 6.289 Familien Land zugewiesen hat, laut CPT eine verschwindend geringe Zahl.

Seit 1995 hatte die Agrarreform durch die Gründung eines Sonderministeriums, das dem Präsidenten rechenschaftspflichtig ist, und die Einführung anderer rechtlicher Instrumentarien eine erhöhte Schubkraft erhalten. Treibende Kraft hinter den vielen landesweiten Aktionen und Demonstrationen war die brasilianische Landlosenbewegung MST.

Die starke Mobilisierung führte dazu, dass unter der Präsidentschaft von Luis Henrique Cardoso (1995-2003), 540.704 Familien Land erhielten. Unter Lula wurden sogar 614.088 Familien mit eigenen Parzellen versorgt, wie Zahlen des Nationalen Instituts für Ansiedlung und Agrarreform (INCRA) belegen. Seit dem Jahr 2000 wurden insgesamt 9.128 ländliche Siedlungen gegründet.

Die Wirksamkeit der Landreform kann laut CPT nur durch die Gründung neuer Siedlungen und eine Abnahme der Landbesitzkonzentration in den ländlichen Gebieten erreicht werden. Wichinieski zufolge deutet nichts darauf hin, dass das unter Rousseff der Fall sein wird.

Im Wahlkampf der Präsidentin, die im Oktober wiedergewählt wurde, hatte die Landreform keine Rolle gespielt. Außerdem gehören dem neuen Parlament einflussreiche Großgrundbesitzer an, die die Interessen der Agro- und Agrobusinessindustrie vertreten.

Landwirtschaftsministerin ist die ehemalige Senatorin Kátia Abreu, Vorsitzende des Nationalen Agrarverbands. Sie hatte in einem Interview am 5. Februar gegenüber der Zeitung 'Folha de Sao Paulo' erklärt, in Brasilien gebe es keinen Großgrundbesitz.

"Abreu hat rückständige und veraltete Vorstellungen von der Landwirtschaft", kritisiert Wichinieski. "Sie streitet ebenso ab, dass es in den ländlichen Gebieten Zwangsarbeit gibt, und schert sich nicht um ökologische Probleme, sondern befürwortet den intensiven Einsatz von Agrochemikalien in der Nahrungsmittelproduktion."

Der Landkonflikt hat sich mit der Ausweitung von Viehzucht und dem monokulturellen Anbau von Soja, Zuckerrohr, Mais und Baumwolle weiter verschärft. Auch wird Großgrundbesitzern mit engen Verbindungen zur Politik vorgeworfen, mit Land zu spekulieren.


Modellfall

150 Kilometer von der brasilianischen Hauptstadt Brasilia entfernt, im Bundesstaat Goiás, liegt das 20.000 Hektar große Anwesen 'Agropecuaria Santa Mônica', das von Familien, die der MST angehören, besetzt gehalten wird. Die Farm gehört Senator Eunício Oliveira, der bei den letzten Gouverneurswahlen als der reichste Kandidat ins Rennen gegangen war.

Innerhalb des Senats leitet Oliveira die Brasilianische Demokratische Bewegungspartei, dem Hauptverbündeten Rousseffs im Parlament. Unter Lula war er von 2004 bis 2005 Kommunikationsminister und verlor im letzten Jahr die Gouverneurswahlen im Bundesstaat Ceará.

Wie Valdir Misnerovicz, einer der MST-Führungskräfte, erklärt, wird die Farm nicht bewirtschaftet. Seit 15 Jahren ist die Besetzung der zwischen den Ortschaften Alexânia, Abadiânia und Corumbá gelegenen Hazienda der größte Coup der MST seit 15 Jahren. So nahmen am 21. August 2014 3.000 Familien das Grundstück ein, die zu Fuß und in insgesamt 1.800 Fahrzeugen gekommen waren. Seitdem harren 2.000 Frauen, Männer und Kinder in einem Camp aus und kontrollieren 400 Hektar Land. Sie sind fest erschlossen, sich einen Teil dieses Territoriums zu eigen zu machen.


Bild: © Mit freundlicher Genehmigung der MST

Die Besetzer von 400 Hektar Land der Farm Santa Mônica verkaufen ihre Erzeugnisse in den benachbarten Gemeinden
Bild: © Mit freundlicher Genehmigung der MST

Misnerovicz erläutert die MST-Strategien: "Wir kommen zu Tausenden. Wir sind nie bewaffnet. Wir besetzen riesige Flächen Land, das brachliegt. Dort kultivieren wir grüne Blattsalate, Gemüse, Maniok, Mais, Reis, Bohnen und Kürbis. Die Familien kultivieren ausschließlich gesunde und chemiefreie Nahrungsmittel in Gemeindegärten."

Die Zelte des Lagers Dom Tomás Balduíno wurden am Ufer eines Flusses aufgestellt, der quer durch das Areal verläuft, das sich aus 90 unterschiedlichen Grundstücken zusammensetzt, die sich der Senator in den letzten 20 Jahren beschafft hat.


Bild: © Mit freundlicher Genehmigung der MST

Teil des Dom-Tomás-Balduíno-Zeltlagers am Ufer des Flusses, der durch die Farm 'Agropecuaria Santa Mônica' verläuft
Bild: © Mit freundlicher Genehmigung der MST

Im November jedoch entschied ein Gericht, dass das Land an Oliveira zurückgegeben werden müsse. Dennoch ist die MST zuversichtlich, dass es nach den Spielregeln der Landreform Santa Mônica den Bauern langfristig zufallen wird.


Hoffen auf neue Siedlung

Wie Misnerovicz erklärt, hat die Regierung die Familien, die das Land besetzt halten, zu Verhandlungen ermuntert. Man hoffe nun, nach einem Jahr die größte ländliche Siedlung der letzten Jahre in Brasilien gründen zu können. Bei einem Treffen im Januar habe die Präsidentin Rousseff versprochen, die landesweit kampierenden MST-Familien anzusiedeln.

Nach Aussagen des Verwalters von Santa Mônica, Ricardo Augusto, werden auf dem besetzten Gebiet Soja, Mais und Bohnen angebaut. "Auch die Aussage der MST, dass der Grundbesitz nicht notariell bestätigt wurde, ist unwahr. Wir wünschen auf jeden Fall eine friedliche Lösung des Konflikts. Produktives Land darf nicht enteignet werden. Und es besteht auch kein Interesse daran, es zu verkaufen."

Doch Joao Pedro, der eine Parzelle in einer Ortschaft nahe von Santa Mônica erhalten hat, widerspricht der Darstellung und rechtfertigt die Besetzung der Hazienda als Akt, die Regierung zur Einhaltung geltenden Rechts anzuhalten. "Land kommt eine soziale Funktion zu. Und wir wollen nichts weiter, als dass die Landesverfassung angewendet wird." (Ende/IPS/kb/2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/02/brasil-no-es-pais-para-los-sin-tierra-en-tiempos-de-rousseff/
http://www.ipsnews.net/2015/02/rousseffs-brazil-no-country-for-the-landless/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 3. März 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2015

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