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LATEINAMERIKA/1714: Ecuador - Barocke Moderne (medico international)


medico international - 25. September 2017

Ecuador
Barocke Moderne


Auch in Ecuador steht ein linkes Staatsprojekt vor dem Scheitern.
Das liegt nicht nur am niedrigen Ölpreis.

Von Katja Maurer


Wenige Maler aus "unserem Amerika" seien so mächtig wie dieser Ecuadorianer, der nirgendwo sonst sein könnte. Die Worte des chilenischen Dichters Pablo Neruda über seinen 1996 verstorbenen Freund Osvaldo Guayasamín finden sich auf einem vergilbten Blatt Papier, das im Wohnhaus des großen ecuadorianischen Malers ausgestellt ist. Das Haus mit angefügtem Museum in Quito, in dem die übergroßen Bilder wie in einer Kathedrale gehängt sind, liegt im Stadtteil Bellavista, auf Deutsch Schöne Aussicht, mit Blick auf die Anden. Guayasamín sei ein "Gastgeber vieler Wurzeln", schreibt Neruda und spielt nicht nur auf dessen indigene Herkunft an. Denn das historische Leid der Indigenen, das aus seinen Bildern herausschreit, ist zugleich das Leid aller Unterdrückten.

Wer durch das Guayasamín-Museum geht, wird in vielen Bildern mit einer Idee konfrontiert, die Lateinamerikas Linke viele Jahrzehnte prägte. Gut und Böse, Täter und Opfer - all das war leicht auszumachen und prägte das kollektive Gedächtnis der Linken. Guayasamín zeigt das in seinem Chile-Zyklus. Da ist der im Nationalstadion ermordete Volkssänger Victor Jara im Triptychon als Christus am Kreuz; oder das Porträt eines Gefolterten, der sich die Hände vors Gesicht schlägt in einer sich selbst verletzenden Art des Nicht-Wahrhaben-Wollens, was sich vor dem einen doch geöffneten blutunterlaufenen Auge abspielt: das gewaltsame Ende einer linksdemokratischen Hoffnung. Gerade bei diesen Bildern schießt einem durch den Kopf, wie sehr die Generation der lateinamerikanischen linken und linksliberalen Regierungen von eben dieser Erfahrung aus den 1970er und 1980er Jahren geprägt ist. Viele von ihnen waren selbst Verfolgte, saßen im Gefängnis oder haben Folter am eigenen Leib erlebt. Die Lulas, Mujicas, Bachelets, Rousseffs, Correas, Chavezes wollten es besser machen und nicht in das offene Messer ihrer Gegner laufen. Sie schlugen einen vorsichtigen sozialdemokratischen Kurs ein, der nicht an der strukturellen Ungleichheit rührte. Nach der Dekade linker Regierung in Lateinamerika aber hat sich genau das als nicht nachhaltig erwiesen. Ecuador, das Land Guayasamíns, ist dafür ein beredtes Beispiel.

Autobahnen sind Fortschritt

"Tenemos carretera, tenemos patria" (Wir haben Autobahnen, wir haben ein Vaterland) - dieser Slogan prangt über das ganze Land verteilt auf großen Werbetafeln. Die "Bürgerrevolution", die unter der zehnjährigen Präsidentschaft von Raffael Correa bis 2016 das Motto war, sollte das Land in eine nachhaltige Moderne führen - und hat immerhin das vollbracht: Das ganze Land wird durchzogen von mehrspurigen Autobahnen, manche sogar mit Fahrradspur. Der ecuadorianisch-mexikanische Philosoph Bolívar Echeverría sagte, dass diese Vorstellung von Modernität in Südamerika eine barocke Form trage: Die spektakulären Erscheinungen würden der materiellen Wirklichkeit vorgezogen.

Manuel Bayón, ein spanischer Humangeograf gehört zu den vielen ausländischen Wissenschaftlern, die von dem ecuadorianischen Experiment angezogen worden waren. Eine linke Regierung - samt Verfassung, die Plurinationalismus, die Gleichberechtigung unterschiedlicher Eigentumsformen, und Buen Vivir indigenen Ursprungs sowie Naturrechte predigt - plante tatsächlich strukturelle Transformationen, um sich aus den globalen Abhängigkeitsverhältnissen zu befreien. Um den renommierten US-amerikanisch-britischen Sozialtheoretiker und Humangeografen David Harvey herum siedelten sich zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an einer staatlichen Universität an, die Verwaltungsfachleute ausbildet. Für alle wurde es ein kurzer Aufenthalt.

Modernes Amazonien

Der enthusiastische Schnellredner Bayón beschäftigte sich im Rahmen dieser internationalen Gruppe mit dem Projekt der Modernisierung des ecuadorianischen Teils Amazoniens. Hier sollte eine neue "Form der Akkumulation" entstehen, "eine diversifizierte und nachhaltige Ökonomie mit angepassten Technologien". Drei Pfeiler hat dieses Megaprojekt: Der Bau einer interozeanischen Trasse zwischen Manta (Ecuador) und Manaus (Brasilien), die Errichtung von sogenannten Milleniumsstädten und die Einrichtung einer amazonischen Regionaluniversität. "Die Correa-Regierung war die erste in der ecuadorianischen Geschichte, die versuchte, Amazonien auf umfassende und totale Weise dem nationalen Raum einzuverleiben", meint Bayón. Sie tat es zu Beginn mit der Unterstützung der vorwiegend indigenen Bevölkerung, die sich den Anschluss an die Moderne erhoffte. Tatsächlich wurde mit dem Machtantritt der neuen Regierung 2006 die Erdölindustrie erheblich höher besteuert. In Zeiten hoher Erdölpreise bescherte das dem Staat ungeahnte Mehreinnahmen und kühne Pläne, wie eine rasche Modernisierung des Landes gelingen könnte. So kamen die Autobahnen. So kam es zu einer gesetzlichen Krankenversicherung nach deutschem Vorbild, in die Arbeitgeber die Hälfte einzahlen müssen. So kam es zu großen Wohnungsprogrammen für Arme, zu den Megaprojekten in Amazonien und vielem mehr. Ein sozialstaatliches Füllhorn wurde über Ecuador ausgeschüttet, so viel Geld gab es.

Als die Studiengruppe von Manuel Bayón 2014 ihre Arbeit aufnahm, war der Ölpreis allerdings wieder im Keller. Und als die Gruppe ein dreiviertel Jahr später ihre ersten Ergebnisse präsentierte, stellte sie fest, dass alle drei Komponenten der Amazonas-Modernisierung gescheitert sind. Daraufhin wurde die staatliche Unterstützung für das Forschungsprojekt eingestellt. Auch die anderen Wissenschaftler wurden entlassen. Bayón kam bei der von der Regierung zwischenzeitlich verbotenen Umweltorganisation Acción Ecológica unter und präsentierte im Sommer 2017 die fertige Studie. Sie beschreibt die emblematischen Projekte der ecuadorianischen Bürgerrevolution als "Weiße Elefanten". Danach wird die Trasse Manta-Manaus nicht entstehen. Die Gründe dafür sind übrigens die ebenso unrealistischen Pläne in Nicaragua zum Bau einer schiffbaren Trasse und die Straßenbaupläne in Costa Rica zur interozeanischen Verbindung. Neben kaum passierbaren Straßen, so Bayón, sei vor allen Dingen der Binnenhafen am Río Napo in Providencia gebaut worden. Wozu? Um sehr schnell den umstrittenen Block 43 zur Förderung einer der größten Rohölreserven des Landes im Yasuní-Nationalpark in Gang setzen zu können.

Die Milleniumsstädte wiederum glichen reinen Fassaden der Moderne: "Straßen, auf denen keine Autos fahren, Schulen ohne Lehrer, Kliniken ohne Ärzte und Bewohnerinnen und Bewohner ohne Arbeit." Bayón erzählt, dass die Bewohner von Pañacocha und Playas del Cuyabeno bereitwillig aus ihren Dörfern in diese Städte gezogen seien. Nur hätten sich die Versprechen schnell als Entwicklungsfarce herausgestellt. Manche kehrten wieder in ihre ehemaligen Gegenden zurück, um wenigstens Landwirtschaft betreiben zu können. Aber die Dörfer und das dort angelegte Generationenwissen waren durch das Urbanisierungsprojekt unwiederbringlich zerstört. Mit der Umsiedlung kam eine indigene Bewegung an ihr Ende, die das in ihren amazonischen Dörfern vorhandene Erdöl selber fördern wollte. Bayón zweifelt, dass dieser Nebeneffekt Zufall ist.

Zu guter Letzt sei auch die Amazonien-Universität Ikiam nicht zu dem geworden, was angekündigt worden war. Als Materialisierung des "Biosozialismus", den einer der wichtigsten Vordenker der Bürgerrevolution, René Ramírez Gallegos, vertritt, sollte sie eine sozialistische Wissensökonomie befördern, die sich auf der Biodiversität Amazoniens gründet und die Erdölförderung ersetzen kann. Auch dieses Projekt leidet unter den fehlenden Erdöleinnahmen. Es gibt keine Laboratorien und die wenigen Wissenschaftler, die dort arbeiten, seien damit beschäftigt, das Wissen um die Wirksamkeit der örtlichen Pflanzenwelt aus den indigenen Gemeinden abzuschöpfen und zu kommerzialisieren. Wobei die Patentmöglichkeiten für den ecuadorianischen Staat durch die Unterzeichnung des Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, das noch unter Correa geschlossen wurde, extrem eingeschränkt sind. Manche nennen das Biopiraterie.

Die Studie kommt zu einem bitteren poetischen Schluss: "Das Megaprojekt steckt voller Träume und Wünsche, die dazu beitrugen, es überhaupt zu verwirklichen. Sie haben aber die komplexen Dynamiken einer ungleichen geografischen Entwicklung verdeckt. Gerade diese verdeckten Dynamiken aber haben zu seinem Scheitern geführt." Die Bürgerrevolution war angetreten den Neoliberalismus zu überwinden. Sie war im Grunde ein sozialdemokratisches Projekt, in dem der Staat eine Schlüsselrolle zur Umverteilung spielte. Solange es etwas zu verteilen gab, funktionierte es. Mit den niedrigen Rohstoffpreisen brach jedoch das ganze Modell in sich zusammen. Aus der Sicht von Manuel Bayón trifft das auf alle linken und linksliberalen Regierungen Lateinamerikas zu. Und soziale Wohltaten sind flüchtig.

Linke ohne demokratische Idee

Was also ist falsch gelaufen? Das lässt sich an dieser Stelle nur anekdotisch beantworten. José Ignacio López Vigil, ein ehemaliger Jesuitenpriester und Journalist, geboren in Mexiko, der seit Jahrzehnten in Ecuador lebt und voller Geschichten über koloniale und postkoloniale Ausgrenzung der Indigenen und der Linken in Lateinamerika ist, hat eine Antwort. Die Linke in Lateinamerika sei nie demokratisch gewesen. Auch die Correa-Regierung habe die Modernisierung von oben mit einem starken Staat erzwungen und gezielt die indigene Bewegung gespalten. Diese war in den 1990er Jahren so einflussreich, dass sie ganze Regierungen stürzen konnte. Aus der Correa-Dekade ist sie erheblich geschwächt hervorgegangen. Mit José Ignacio geht es nach Saraguro, eine Kleinstadt in den südlichen Anden. Dort leben zum größten Teil Indigene, die von den spanischen Kolonialherren mit einer besonderen Tracht ausgestattet wurden: Breite Hüte, deren untere Krempe mit einem Kuhmuster bedruckt ist. Für die Männer Dreiviertelhosen, für die Frauen lange Röcke mit breiten Falten. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sich diese Form der kolonialen Markierung trotzig zu eigen gemacht und tragen sie noch heute.

Bei den letzten Wahlen stimmte diese Stadt mehrheitlich gegen den Nachfolger von Correa, Lenín Moreno - wie viele andere indigene Gemeinden auch. Denn während der Amtszeit Correas wurden in den Modernisierungskonflikten viele ihrer Führer verhaftet und mit dem Vorwurf des Terrorismus zum Teil zu hohen Haftstrafen verurteilt. Manche sitzen noch immer im Gefängnis. In Saraguro dürfen 26 Personen den Ort nicht verlassen, sie warten seit zwei Jahren auf ein Verfahren. Festgenommen wurden sie bei Straßenprotesten eher willkürlich, einige davon Minderjährige, andere ehemalige Bewohner der Stadt, die nur kurz auf Besuch aus Spanien vor Ort waren. Seither erleben sie anhaltende Willkür. Das meint José Ignacio wohl mit der fehlenden Demokratie der Linken. Wer sich dem vermeintlichen Fortschritt in den Weg stellt, muss mit harten Strafen rechnen. Dass das besonders brutal indigene Gruppen trifft, kann angesichts des nach wie vor verbreiteten kolonialen Bewusstseins unter der ecuadorianischen Elite nicht verwundern. Und vielleicht hat es auch mit dem Bild zu tun, das der eingangs erwähnte Guayasamín vom Indio als Opfer immer wieder beschwor: Ein Opfer, das im traditionellen linken Denken von anderen, im Zweifel dem Staat, gerettet werden muss. Die Opfer selbst sind in diesem Szenario nicht mehr als ein Objekt.

Unter https://www.medico.de/lateinamerika finden Sie ein Dossier über Lateinamerika. Darunter auch ein Interview mit dem Gesundheitsexperten Juan Cuvi zur Gesundheitspolitik in Ecuador und eine ausführliche Beschäftigung mit der Situation in Brasilien nach dem Sturz von Dilma Rousseff. medico unterstützt in Lateinamerika zahlreiche Projekte, darunter viele zu den Themen Extraktivismus, Umweltschutz, Demokratie und Menschenrechte.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2017.

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Quelle:
medico international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2017

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