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LATEINAMERIKA/1768: Marielle Franco und die Zukunft in Brasilien - Hoffnung oder Barbarei (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Hintergrund
Marielle Franco und die Zukunft in Brasilien: Hoffnung oder Barbarei

Von Breno Bringel*



Menschenansammlung vor der Casa das Pretas - Foto: Felipe Uruatú / Mídia NINJA (CC BY-NC-SA 2.0) [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0]

Casa das Pretas ehrt Marielle Franco, Río de Janeiro
Foto: Felipe Uruatã / Mídia NINJA
(CC BY-NC-SA 2.0)
https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/

(Río de Janeiro, 17. März 2018, openDemocracy) - Die Ermordung der Stadträtin Marielle Franco am 14. März 2018 hat Brasilien erschüttert und an vielen Orten Lateinamerikas und der Welt Trauer und Wut ausgelöst. Und das hat Gründe. Es ist ein grausames politisches Verbrechen gegen eine der führenden Repräsentant*innen der neuen brasilianischen Linken zu einem Zeitpunkt, an dem Río de Janeiro unter massiver Misswirtschaft leidet und das gesamte Land einen beängstigenden demokratischen Rückschritt erlebt.

Marielle wurde in Maré geboren, einem der größten Favela-Komplexe in Río de Janeiro, in dem etwa 130.000 Menschen leben. Schon als Heranwachsende erlebte sie, teils am eigenen Leib, Menschenrechtsverletzungen: Einschüchterungen und Waffengewalt inklusive der Straflosigkeit für die Täter*innen. Sie wurde als sehr junge Frau Mutter und engagierte sich für die Rechte von Frauen, insbesondere schwarzer Frauen und Favela-Bewohnerinnen. Den formalen Bildungsweg zu beschreiten war für sie sehr schwer, trotzdem schaffte sie es bis zum Postgraduiertenstudium und begann, sich für eine qualitative Verbesserung des öffentlichen Bildungssystems und die Demokratisierung der Universitäten einzusetzen.

Im Laufe der Zeit verlor sie geliebte Gefährt*innen; 2005 starb eine Freundin, die bei einer Schießerei zwischen Polizist*innen und Drogendealer*innen von einer verirrten Kugel getroffen wurde. Marielle entwickelte sich daraufhin zu einer unermüdlichen Kämpferin für die Menschenrechte, insbesondere für das Grundlegendste aller Rechte, das in Río de Janeiro tagtäglich missachtet wird: das Recht, sich frei zu bewegen, das Recht zu existieren - wobei die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Klassen, Ethnien, Gendern und die jeweilige sexuelle Orientierung den Grad der Ungleichheit bestimmen.

Anders jedoch als ihre Freundin vor 13 Jahren, wurden Marielle und Anderson Gomes, der Fahrer des Wagens, in dem sie saß, absichtlich getötet. Die Schüsse wurden gezielt auf die Schwarze Frau aus den Favelas abgefeuert, die im Jahr 2006 der kurz zuvor gegründeten Partei für Sozialismus und Freiheit PSOL (Partido Socialismo e Libertade) beigetreten war, um die Kandidatur von Marcelo Freixo für die Wahl ins Abgeordnetenhaus zu unterstützen, zehn Jahre bevor sie selbst zur Stadträtin von Río de Janeiro gewählt wurde. Mehr als 46.000 Menschen hatten 2016 für sie gestimmt, nur vier Kandidaten hatten bei der Wahl noch mehr Stimmen erhalten als sie.


"Wie viele Menschen müssen denn noch sterben, bevor dieser Krieg aufhört?"

In der Öffentlichkeit wurde Marielle zusehends stärker wahrgenommen. Dem Establishment und den Parallelmächten war sie unbequem, nicht zuletzt, weil sie die Mitte Februar von Putsch-Präsident Michel Temer eingeführte Militärintervention in Río de Janeiro scharf kritisierte. Ende Februar hatte man Marielle zur Referentin der vom Stadtrat gegründeten Kommission zur Begleitung und Auswertung der militärischen Intervention in Río ernannt. Wenige Tage vor ihrer Ermordung prangerte Marielle das Verhalten der Militärpolizei in der Favela Acari auf ihrer Facebookseite an: "Wie viele Menschen müssen denn noch sterben, bevor dieser Krieg aufhört?".

Die Nachricht von ihrer Ermordung trat bei einem großen Teil der brasilianischen Bevölkerung eine Lawine verschiedenster Gefühle los: Schock, Schmerz, Fassungslosigkeit, Empörung und Wut. Ein Meer von Tränen, Lobreden, Katharsis, lange, feste Umarmungen und schließlich auch geballte Fäuste und Schreie der Empörung. Schreie aus den Kehlen Tausender Brasilianer*innen, die bei zahlreichen Kundgebungen an vielen verschiedenen Orten widerhallten; Schreie nach Gerechtigkeit, die Marielles Überzeugungen und ihren Kampf für die Demilitarisierung der Polizei und Menschenrechte und gegen Rassismus vervielfachten, die Stimmen der Favelas und der Frauen.

Nach Angaben der Initiative Monitoring der Gewalt (Monitor de la Violencia [1]), wurden in Brasilien im vergangenen Jahr 4473 Frauen vorsätzlich ermordet. Der Atlas der Gewalt von 2017 (Atlas de la Violencia 2017 [2]) erklärte, besonders beunruhigend sei der hohe Anteil von Schwarzen Jugendlichen mit geringer Schulbildung bei Opfern von Gewalttaten. 71 von 100 Mordopfern sind Schwarz. Laut dem Jahresbericht 2017/2018 von Amnesty International [3] nehmen die Exzesse der Polizei, Gewalttaten und Morde, gesetzliche Rückschritte, die die Menschenrechte direkt angreifen sowie Morde an Menschenrechtsaktivist*innen kontinuierlich zu. Die Hinrichtung Marielles ist eine weitere traurige Bestätigung dieser Tendenz, jedoch ist ihre Ermordung viel mehr als eine Zahl in der Statistik. In dem tödlichen Angriff auf Marielle offenbart sich eine besondere Symbolkraft. Hier geht es um den Angriff auf das, wofür sie stand, was sie sichtbar gemacht hat und wogegen sie sich auflehnte. Und um ihr politisches Amt, das Schwarzen, jungen Menschen, Frauen, der armen Bevölkerung aus der Peripherie und Feminist*innen normalerweise verwehrt wird.


Krise, Polarisierung und Widerstand in Río de Janeiro und in Brasilien

Wer die Bedeutung der Ermordung von Marielle Franco erfassen will, muss sich mit der aktuellen Situation in Río de Janeiro und in Brasilien befassen. Neben der immensen Trauer, die ihr Tod bei Freund*innen, Kolleg*innen, Gefährt*innen und Familienmitgliedern ausgelöst hat, muss ein politischer Mord auch im Kontext der politischen Gegebenheiten betrachtet werden: Seit einigen Jahren findet in Brasilien, wie in einigen anderen Ländern der Welt, eine politische Polarisierung statt, die die gesellschaftliche Realität stark vereinfacht, tatsächliche (und dringende) Probleme verschleiert und neue politische Kräfte blockiert, die sich für einen Wandel einsetzen. Die Polarisierung, also die Gegenüberstellung von zwei Lagern oder Polen, die sich als gegensätzlich darstellen, führt dazu, dass die gesellschaftliche Realität auf zwei Vorgehensweisen, zwei Diskurse und zwei Vorstellungswelten reduziert wird, während sämtliche gesellschaftliche Akteure, Kräfte und Positionen, die sich nicht mit dieser polarisierenden Dynamik identifizieren, außen vorgelassen werden.

Anders als in vergangenen Zeiten des Umbruchs und der Konsolidierung von Weltordnungen (denken wir zum Beispiel an den Kalten Krieg) entsteht die politische Polarisierung heute zwischen systemischen Kräften, das heißt, zwischen Akteur*innen und Positionen, die nicht den Kapitalismus bekämpfen und die trotz bestehender Widersprüche nicht für die Auflösung des zerrütteten Systems eintreten, sondern dessen vielfältige (wirtschaftliche, politische, ökologische, ...) Krisen nutzen, um sich darin neu einzurichten, sich zu stabilisieren oder, im besten Fall, für bereits errungene Reformen und Menschenrechte einzustehen.

In Brasilien waren die letzten fünf Jahre - nach den vielfältigen massiven Protesten in 2013 - von einer komplexen Verkettung von Ereignissen und Persönlichkeiten geprägt, die keiner linearen oder kausalen Logik folgten. Die gesellschaftliche Öffnung in jenem Augenblick, die in anderen openDemocracy-Artikeln [4] bereits ausgiebig erörtert wurde, führte zu einer intensiven Debatte über die Kursrichtung der brasilianischen Politik und zu einer fortschreitenden Polarisierung, die durch die Wahlen 2014 vertieft wurde und sich 2015 weiter zuspitzte. Obwohl es Dilma Rousseff gelang, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, war der gewählte Kongress der Konservativste in der Geschichte Brasiliens seit dem Staatsstreich von 1964, während die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) zunehmend an Rückhalt in der Exekutive verlor.

Das Klima der politischen Instabilität wurde auch in den sozialen Netzen und auf den Straßen mit der Gründung rechter Bewegungen befeuert. Diese organisierten Demonstrationen und verstärkten die Auseinandersetzungen über moralische Werte sowie die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Obwohl weit davon entfernt sich politisch einig zu sein, konsolidierte sich die Rechte in einem breiten Anti-PT-Protest und Anti-Korruptions-Diskurs, der schließlich zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff führte. Der Staatsstreich wurde ohne stichhaltige Beweise durchgeführt, aber durch das Amtsenthebungsverfahren gebilligt und durch die Mittäterschaft von Politiker*innen verschiedenster Couleur, der richterlichen Gewalt und mächtigen Medien-, Finanz- und Unternehmensgruppen vorangetrieben.

Die PT und ihr gesamtes politisches Umfeld zogen sich in die Defensive zurück. Statt sich selbstkritisch mit ihren Irrtümern auseinanderzusetzen, verwiesen sie auf die Errungenschaften ihrer Legislaturperioden. Sie versuchten den Fortschritt in den Debatten zu kritisieren und gleichzeitig alle progressiven Kräfte an sich zu binden, während jede Kritik mit dem Vorwurf, der Rechten in die Hände zu spielen, gekontert wurde. So sah die Polarisierung aus und führte u.a., auch wenn das bis heute nicht immer im Gedächtnis geblieben ist, zu Blockierung, Unterdrückung, Infantilisierung und Ignoranz gegenüber den für Demokratisierung und Veränderung eintretenden Kräften, die sich in den letzten Jahren formiert hatten und die kritischste und emanzipatorischste Strömung bei den Protesten im Jahr 2013 darstellten.


Während die zersplitterte Linke sich auf kein aussagekräftigeres Motto als "Temer raus!" einigen konnte, übernahm Temer das Präsidentenamt

Während die zersplitterte Linke sich auf kein aussagekräftigeres Motto als "Temer raus!" einigen konnte, übernahm die unrechtmäßige und unpopuläre Regierung Temer das Amt und setzte mit Hilfe von Privatisierungen, Kürzungen und Austerität die systematische Beschneidung der Sozial- und Arbeitsrechte durch. Der Diskurs der "Ordnung" und der "Ausnahmeregelung" wurde verstärkt und diente so als Rechtfertigung für Maßnahmen, die Frauen, Arbeiter*innen und die Ärmsten der Armen - also die, die immer als erste von den Folgen der Krisen betroffen sind - zu spüren bekamen, sich dann aber bald auf weite Teile der Gesellschaft ausdehnten und massive Schikane und Kriminalisierung aller kritischen Stimmen mit sich brachten.

Zeitgleich mit den Turbulenzen auf nationaler Ebene durchlebte der Bundesstaat Río de Janeiro seinen ganz eigenen Albtraum. Nach einem Jahrzehnt der Misswirtschaft und des Größenwahns, in dem man versucht hatte, Río durch die Organisation von Mega-Events international hervorzuheben, forderten eine jahrelange verantwortungslose Führung sowie geschichtliche und strukturelle Schwächen nun ihren Preis. Angeschlagen durch die Deindustrialisierung und die immense Abhängigkeit vom Ölgeschäft, fiel der Stadt die Verschuldung durch die Ausrichtung der Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 mächtig auf die Füße. Das Fehlen entsprechender Planungskonzepte und die sich häufende Korruption, die u.a. Ex-Gouverneur Sergio Cabral (2007 - 2014) ins Gefängnis brachte, taten das Ihrige.

Wie Mariana Cavalcanti in openMovements [5] darlegt, begannen die eigens für die Olympiade aufgebauten Sportstätten schon vor dem Ende der Spiele wieder zu verfallen und sich viel zu früh in Ruinen zu verwandeln. Die Regierung in Río geht lediglich von einem technischen Problem, verbunden mit ungeklärten Verwaltungsfragen aus. Der von ihr vorgeschlagene Lösungsweg besteht darin, sich abhängig und unterwürfig an der nationalen Regierung zu orientieren, alles auf Basis einer Politik der Kürzungen und Austerität.


Marielle brachte frischen Wind in die verkrusteten Strukturen

In dieser angespannten, verfahrenen Lage fegte Marielles Kandidatur im Jahr 2016 wie ein frischer Wind dazwischen und weckte neue Hoffnung bei Hunderten von Menschen, die von der politischen Entwicklung enttäuscht waren. Die Entwicklung ihrer Kampagne zeugte von einer ungewöhnlichen Offenheit und Empfindsamkeit, begründete neue Empathien und Vernetzungen und beschränkte sich nicht allein auf den Aufbau der Kandidatin Marielle, sondern stärkte gleichzeitig auch die kollektiven Kämpfe, in die sie sich einbrachte. Ihr umwerfender Wahlerfolg brachte neue Impulse in die Institutionen, ohne, dass sie dabei den Kontakt zur Basis auf der Straße verlor.


Foto: Marcelo Freix (CC BY 2.0) [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0]

Marielle Franco bei einer Ansprache, 2016
Foto: Marcelo Freix (CC BY 2.0)
https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Marielle solidarisierte sich mit unseren Streiks und Kämpfen an der Universität in Río de Janeiro [6], deren Mitarbeiter*innen monatelang ohne Gehalt auskommen und bis heute die Folgen der verantwortungslosen Politik tragen müssen, die Bildung und wissenschaftlich-technische Entwicklungen als unproduktiv diffamiert. Sie unterstützte die Forderungen der urbanen Bewegung, die für mehr Kindertagesstätten und gegen den Abbau der öffentlichen Kinderbetreuung eintrat.

Aber vor allem widmete sie ihr Leben in den vergangenen letzten Jahren dem Ausbau der feministischen und der LGBT-Bewegung in Río de Janeiro, der Stärkung der Schwarzen Bewegung und dem Kampf der Favelas. Sie setzte sich dafür ein, die Kämpfe Schwarzer Frauen in einer rassistischen und patriarchal geprägten Gesellschaft sichtbar zu machen, Wertschätzung der eigenen Ursprünge und der Schwarzen Kultur wiederzubeleben und ins Bewusstsein zu rücken. Sie kämpfte gegen Vertreibung und Räumungen und gegen den alltäglichen Machtmissbrauch des Staates.

Im ersten Jahr ihrer Amtszeit war sie eine der aktivsten Stadträt*innen im Abgeordnetenhaus von Río de Janeiro. In ihrer Arbeit verbanden sich kollektiver Aufbau und Transparenz mit aktivem Zuhören und dem Versuch, die sozialen Bewegungen und ihre wichtigsten Kampfziele mit kreativen Aktionen und Initiativen zu unterstützen - und das zu einem Zeitpunkt, als die Linke alles andere als geeinigt dastand und Río und das ganze Land in einer zutiefst angespannten Situation feststeckten.


Nach der Ermordung von Marielle Franco: Diskussionen, Gefühle und politisches Erbe

Marielle wurde zu einem Zeitpunkt ermordet, in dem nach einem langen Gerichtsprozess die Verhaftung des Ex-Präsidenten Lula da Silva möglicherweise kurz bevorsteht und die ersten Turbulenzen des Wahlkampfs um die Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 bereits im Gange waren. Lulas mögliche Verhaftung und die Wahlen sind bereits zwei Szenarien, die die Polarisierung vorantreiben können, dieses politische Attentat von beispielloser Tragweite bringt jedoch neue unbekannte Variablen ins Spiel:

Wer hat sie umgebracht und warum? Wird die Militärpräsenz in Río de Janeiro nun aufgestockt? Oder wird es uns nun gelingen, sie als Farce zu entlarven? Werden die rassistischen und patriarchalen Eliten das feindselige Klima und die derzeitige Polarisierungstendenz für sich nutzen können, um ihre gängigen Stereotype über die Menschen in den Favelas zu bestärken und damit versuchen, der Person Marielle und dem tödlichen Angriff auf sie die politische Bedeutung zu entziehen? Werden die Favelas und die autonome, antikapitalistische Linke, die sich nicht von der Polarisierung einfangen lässt, es schaffen, ihre Stimme von Neuem zu erheben? Werden der Dialog und die zwingend notwendige umfassende Berücksichtigung der fortschrittlichen Kräfte mit der gebotenen Sensibilität intensiviert werden?

Unabhängig davon, wie die Antworten lauten: Marielles politisches Vermächtnis und die unmittelbaren Auswirkungen ihres Todes stehen symbolisch für die besten und die schlechtesten Seiten der aktuellen brasilianischen Gesellschaft. Obwohl der Schmerz noch keine zu Ende gedachten Antworten zulässt, hat die authentische Auseinandersetzung um Narrative bereits begonnen.

Einerseits ist es alarmierend wie sich der Hass, das Misstrauen gegenüber öffentlichen Institutionen, die Angst, die Militarisierung des öffentlichen Raums, die Straflosigkeit und die Rechtsverletzungen durch die Eskalation des autoritären Regierungsverhaltens vervielfacht hat. Die sozialen Netzwerke sind voll von diskreditierenden Kommentaren, während einige Journlist*innen, Politiker*innen und andere Oportunist*innen den Mord an Marielle zum Anlass nehmen, um die Notwendigkeit einer erhöhten Polizeipräsenz und einer stärkeren Militarisierung zu rechtfertigen.

Andere, wie Michel Temer, erklären ihre Ermordung zynischerweise zum "Anschlag auf die Demokratie". Aber machen wir uns nichts vor: 1. Die Kugeln die auf Marielle abgefeuert wurden, entstammen dem Klüngel aus Polizei, Militär, den Milizen der Parallelmächte und der Regierung; 2. Wie die Erfahrung aus der Geschichte zeigt, hat eine militärische Intervention in Río de Janeiro noch nie dazu beigetragen, das Problem der öffentlichen Sicherheit zu lösen; und 3. Was heute in Brasilien herrscht, hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Demokratie.


Marielle war kein Versprechen, sie war schon da

Nach der Mord an Marielle hat auch Solidarität und den Stolz der Favela zutage gefördert, die Stimmen der Schwarzen Frauen und der jungen Menschen, die sich politische Veränderungen wünschen. Er hat ein Brasilien aufgerüttelt, das sich nicht zur Abscheulichkeit der Barbarei und den Operationen des Staatsstreichs bekennt, sich aber auch nicht in dem reduzierten Politikverständnis wiederfindet, für das die Polarisierung steht. Insofern ist es wichtig, sich immer wieder für Neues zu öffnen, wie Marielle es selbst Anfang des Jahres in der brasilianischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique [7] erklärt hat.

In den letzten Tagen haben viele Menschen Marielle als junge, vielversprechende Politikerin bezeichnet. Sie irren. Marielle war kein Versprechen, sie war schon da. Während Brasilien und die ganze Welt in einer tiefen Krise um die Frage der politischen Repräsentanz stecken, steht Marielle da und repräsentiert die Frauen, die Schwarzen Frauen, die lesbischen Frauen, die Menschenrechtsvertreterinnen und viele andere, die daran glauben, dass es andere Möglichkeiten gibt, Politik zu machen. Sie vertrat auch jene, die gewöhnlich den formellen Politikbetrieb kritisieren, denn sie fanden in ihr nicht nur eine Identifikationsfigur, Empathie, Anerkennung und eine Symbolhaftigkeit, sondern erlebten mit ihr auch den Bruch mit der üblichen Distanz zwischen Repräsentant*in und Repräsentierten.

Nach Marielles Tod waren in den Straßen von Río und an anderen Orten in Brasilien auch immer wieder die Slogans zu hören, die in den ersten Tagen der Proteste im Juni 2013 zu hören gewesen waren, zum Beispiel: "Es ist nicht zu Ende. Es muss aufhören. Schluss mit der Militärpolizei."

Die kritischsten Stimmen der brasilianischen Gesellschaft und alle, deren Widerstand im Zuge der Proteste von 2013 zwar unsichtbar gemacht worden waren, aber weiterhin fortbestanden, sind nun zurück in die Öffentlichkeit gekehrt. Wir wissen nicht, wie stark sie sind und ob ihre Präsenz von Dauer sein wird. Aber es steht einiges auf dem Spiel. Viele Menschenleben und die Zukunft des gesamten Landes. Hier wäre eine unvoreingenommene Untersuchung notwendig, eine breite Solidarität der populären Bewegungen auf der ganzen Welt und eine respektvolle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft, die sich nicht bereits in den ersten Tagen nach dem tödlichen Angriff auf Marielle wieder zurückzieht.


Eine Brücke in der geteilten Stadt

Río de Janeiro wird gewöhnlich als "geteilte Stadt" bezeichnet, in der rigide kulturelle, wirtschaftliche, durch Wissen bedingte, geografische und soziale Grenzen Welten voneinander trennen. In dieser Stadt war Marielle eine Brücke. Sie verband die Favelas der Randbezirke (ihr Geburtsort) mit der Zona Sur von Río (wo die Sinnbilder des Tourismus und der Privilegien zuhause sind). Sie riss die Mauern der Schande ein, die nicht bloß symbolischer und metaphorischer, sondern durchaus physischer Art sind, wie zum Beispiel die, die entlang der Autobahn zum Flughafen Río de Janeiro den Blick auf den Favela-Komplex Maré versperrt. Sie versuchte auch eine Verbindung zwischen der Schwarzen und der feministischen Bewegung herzustellen, wobei sie bemüht war, nicht allein den Schwarzen Feminismus zu unterstützen, sondern die Unterschiede und vielfältigen Visionen ähnlicher, aber eben doch anderer Kämpfe wahrzunehmen und zu respektieren.


Marielle Franco zu Fuß unterwegs in den Straßen von Río - Foto: Mídia NINJA (CC BY-SA 2.0) [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0]

Marielle Franco im Wahlkampf 2006
Foto: Mídia NINJA
(CC BY-SA 2.0)
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Eine Brücke, die dafür eintrat, dass sich Institutionen nicht von der Straße und von den Menschen entfernen; die Aktionen, Ideen und Vorschläge einbrachte, damit Institutionen in den Augen der Menschen nicht als fremd und unbeteiligt wahrgenommen werden, sondern als Orte, an denen Diskussionen stattfinden, in die man sich einbringen muss. Und schlussendlich schlug Marielle auch eine Brücke zwischen Aktivismus und Forschung, denn sie war nicht nur Stadträtin und militante Kämpferin sondern auch Soziologin.

Ihre verschiedenen Arbeitsfelder hat sie nicht voneinander getrennt, ebenso wenig, wie sie eine Trennung zwischen den verschiedenen Welten aufrechterhielt. Sie war eine militante Wissenschaftlerin. In ihrer Abschlussarbeit untersuchte sie das Vorgehen der öffentlichen Sicherheitspolitik, wie den Einsatz der Befriedungspolizei UPP (Unidades de Policía Pacificadora) in Río de Janeiro, und kam zu dem Schluss, dass diese - statt Lösungen anzubieten - auf das Prinzip des strafenden Staats als Teil des neoliberalen Projekts setzt.

Sie war der Überzeugung, dass eine militante Universitätspolitik Lebendigkeit und Demokratie in den Hochschulalltag bringe und dass es für den Aktivismus nur von Vorteil sei, wenn er sich mehr Raum für Reflexion gäbe, statt sich auf die Reproduktion von Dogmen und festgeschriebenen Phrasen zu beschränken.

So war Marielle. Oder wie gesagt, es kann nicht heißen: Sie war. Marielle ist und wird es sein: Eine Brücke, die durch Schüsse nicht zum Einsturz gebracht werden kann. Eine Brücke, die weiter bestehen wird in der Erinnerung vieler anderer Kämpferinnen, der berühmten und der unbekannten. Sie wird fortbestehen und wachsen, neue Verbindungen, neue Wege und neue Kämpfe schaffen. Und neue Brücken. Brücken der Hoffnung gegen die Barbarei, die in Brasilien Fuß gefasst hat.


* Breno Bringel ist Soziologieprofessor an der Universität von Río de Janeiro und Herausgeber von Dados und openMovements. Twitter: @brenobringel


Anmerkungen:
[1] https://twitter.com/hashtag/MonitorDaViolencia?src=hash
[2] http://www.ipea.gov.br/portal/images/170602_atlas_da_violencia_2017.pdf
[3] https://www.es.amnesty.org/en-que-estamos/paises/pais/show/brasil/
[4] https://www.opendemocracy.net/breno-bringel/2013-2016-polarizaci-n-y-protestas-en-brasil
[5] https://www.opendemocracy.net/mariana-cavalcanti/rio-s-olympic-ruins
[6] http://www.uerjresiste.com/
[7] https://diplomatique.org.br/marielle-franco-o-novo-sempre-vem/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/hintergrund-marielle-franco-und-die-zukunft-in-brasilien-hoffnung-oder-barbarei/


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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
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Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2018

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