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LATEINAMERIKA/1935: Haiti - Noch immer läuft der Kampf um die Befreiung von der Sklaverei (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Haiti

Noch immer läuft der Kampf um die Befreiung von der Sklaverei


(Buenos Aires, 23. November 2019, ANRed/Enredando Las Mañanas) - "Haiti ist das einzige Land auf der Welt, in dem sich die Sklaven gemeinsam erhoben haben und eine Nation gründeten. Die Bevölkerung hat im Kampf gegen die Ideen der Moderne gesiegt, gegen den Kolonialismus und die Sklaverei." Dies ist eines der zentralen Schlüsselelemente, das die aktuelle Situation in Haiti und den Schleier der Desinformation, der über dem Land liegt, erklärt, so Henry Boisrolin, Koordinator des Demokratischen Komitees in Haiti.

In einem bewegten Amerika sprechen wir mit Henry Boisrolin, Koordinator des Demokratischen Komitees in Haiti, einem Land, das seit Jahren stärker in den Medien thematisiert werden müsste. Leider jedoch herrscht in Bezug auf Haiti ein großer Informationsmangel, der es uns schwer macht, stärker an den Ereignissen des Nachbarvolkes teilzuhaben. Im Dialog mit Enredando Las Mañanas erklärte uns Boisrolin mehr über die Hintergründe der Desinformation.


Die Desinformation über Haiti hat verschiedene Gründe

"Haiti ist praktisch völlig aus der Medienberichterstattung verschwunden, außer es ereignet sich ein Erdbeben, ein Hurrikan oder ein Staatsstreich. Dies lässt sich auf zwei oder drei Ursachen zurückführen: Erstens, aus historischer Perspektive betrachtet, ist Haiti weltweit das einzige Land, in dem sich die Sklaven gemeinsam erhoben haben und eine Nation gründeten. Die Bevölkerung hat im Kampf gegen die Ideen der Moderne gesiegt, gegen den Kolonialismus und die Sklaverei. Diese historische Entwicklung in Haiti ging von den Sklaven aus. Im Rest Lateinamerikas dagegen wurde die Unabhängigkeitsbewegung maßgeblich monopolisiert von der kreolischen Elite, während die Sklavinnen und Sklaven meist als Kanonenfutter verwendet wurden.

Als sich Haiti befreite, war die Sklaverei noch weit verbreitet. Die USA wurde 1776 unabhängig, innerhalb der Landesgrenzen existierte die Sklaverei jedoch bis zum Ende der Amerikanischen Befreiungskriege 1865. Erst dann wurde auch Haiti anerkannt.

Dies ist der erste wichtige Aspekt, der zweite ist ein idiomatisches Thema. Unsere Sprachen sind Kreolisch und Französisch, während im Rest Lateinamerikas Spanisch gesprochen wird. Brasilien bildet mit Portugiesisch die Ausnahme, fällt aber auch durch seine Wirtschaftskraft und Größe ins Gewicht.

Der dritte Aspekt begründet sich in dem Bild, das die Kolonialmächte von Haiti in der Welt geprägt haben. Demnach ist das haitianische Volk, besonders in den Augen linksgerichteter Gesellschaften, geprägt von Elend und erweckt bei ihnen hauptsächlich Mitleid. Viele sehen uns an wie wenn man gerade die Kirche verlässt, einen Bettler auf der Straße sieht und ihm eine Münze gibt, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Man begegnet uns nicht mit Solidarität, sondern betrachtet uns als hilfsbedürftig - man sieht uns an und denkt 'die armen Schwarzen'.

Viertens wird Haiti als ein gescheiterter Staat verstanden. Für mich ist Haiti aber nicht gescheitert, sondern ein Land, geprägt durch den Neokolonialismus, im Dienste der Oligarchen und ihrer imperialen Interessen. Doch die Strukturen, welche uns auferlegt wurden, sind zusammengebrochen. Als einen letzten Aspekt würde ich nennen, dass man die Realität in Haiti nicht mit den Theorien der Moderne erklären und in westliche Kategorien einordnen kann. Haiti wird als ein Stück Afrika in Lateinamerika verstanden, doch dies ist ein falsches Bild unseres Landes. Hollywood hat die Religion unseres Volkes, den Voodoo, als Hokuspokus verkauft und die böse Magie auf rassistische Weise als schwarze Magie bezeichnet. Hinzu kommt, dass Kreolisch lediglich als ein Dialekt verstanden, jedoch nicht als eigene Sprache anerkannt wird.


Verlorenes Land?

Und somit ist unser Land verloren, im Meer falscher Darstellungen, Veruntreuungen, Stigmen und Vorurteilen. Dennoch müssen wir auch unsere eigenen Fehler anerkennen, denn die Haitianer*innen wussten nicht oder waren nicht in der Lage, sich besser in Lateinamerika zu integrieren. Diese Aspekte erklären, warum eine Ignoranz und Desinformation über Haiti liegen.

Somit bleibt unsere Geschichte im Dunkeln. Fragt man, wer die Befreiungskämpfer Lateinamerikas waren, so lautet die Antwort Bolívar, San Martín oder O'Higgins, Miranda und weitere. Jedoch würde niemals der Name Dessalins genannt, der als erster die Unabhängigkeit ausrief und die Sklaverei auf amerikanischem Gebiet beendete. Außer in Venezuela und im Kreise einiger Fachexpert*innen spricht niemand von Alexander Petión, obwohl Bolivar seinen Erfolg der Hilfe Haitis in Form von Waffen, Munition, Geld, Druckmaschinen, Lebensmitteln und Freiwilligen zu verdanken hat. Mehr als 500 Haitianer*innen starben für die Unabhängigkeit Venezuelas, Kolumbiens und anderer Länder. Das ist der Teil der Geschichte, der nicht erzählt wird. Um ein weiteres Beispiel zu geben: Liest man in den Geschichtsbüchern über Napoleon, so lernt man viel über die Schlacht bei Waterloo. Die erste Niederlage musste Napoleon jedoch bereits am 18. November 1803 erfahren, als er nach der Schlacht von Vertieres kapitulierend die französische Expedition in Haiti beenden musste. Dennoch ist Napoleon gefeiert als ein Kriegsheld, obwohl er ebenso ein Verbrecher war, der die Sklaverei in Guadalupe und in Martinica aufrechterhielt. Auch in Haiti wollte er die Sklaverei wiederherstellen, hätte er gekonnt.

Es zeigt sich, dass es historische, kulturelle und sprachliche Aspekte gibt, die uns entfremden. Es ist eine Vielzahl von Faktoren, die zusammenkommt, ebenso wie die Tatsache, dass viele von uns noch immer an den Theorien der Moderne und dem Eurozentrismus festhalten. Eine kritische Perspektive fehlt uns dagegen. Der Theoretiker Walter Mignolo würde sagen, dass sich noch keine postkoloniale Denkweise verfestigt hat.


Über die aktuellen Proteste wird kaum berichtet

Seit mehr als zwei Monaten - zehn Wochen, um genau zu sein - befindet sich das Land nun im Ausnahmezustand und ist praktisch stillgelegt. Die Bürger*innen ziehen durch die Straßen und Millionen fordern den Rücktritt des Präsidenten. Doch im Vergleich zu anderen Ländern wird über Haiti nur wenig berichtet.

Für den Anfang wollen wir den Informationsmangel beheben, der in der Berichterstattung großer Medien besteht. Eine Vielzahl von Nachrichtenkanälen wurden aufgegeben, doch diese wären wichtig, um die aktuelle Situation in Haiti mit der Öffentlichkeit zu teilen. Man fragt sich, was passiert eigentlich im Moment in Haiti?

Zunächst muss man am Anfang beginnen. Ich denke, Haiti ist ein Land mit einer großartigen Geschichte. Mit der Ermordung Dessalins im Jahr 1806 verlor die Bewegung jedoch an Momentum und es siegte die Gegenrevolution. 1915 bis 1934 war Haiti von den USA besetzt und wurde in das Paradebeispiel einer Post-Kolonie verwandelt. Genau diese postkolonialen Strukturen sind es allerdings, die anschließend über uns zusammengebrochen sind und bis heute für die große Armut in der Bevölkerung sorgen. Millionen Bürger*innen leben unter menschenunwürdigen Bedingungen und es ist an der Zeit, dies zu ändern.

In Haiti kämpft die Bevölkerung nun ein weiteres Mal für die Befreiung aus der Sklaverei. Täglich gibt es Demonstrationen, bei denen laut 'peilok' gerufen wird, was auf Kreolisch 'blockiertes Land' bedeutet. Die Menschen versperren mit Barrikaden die Straßen, indem sie aus Gummi ganze Wände errichten.


"Das Land steht komplett still"

Die Geschichte des Vorjahres wiederholt sich nun. Bereits im Juli 2018 entstanden soziale Unruhen aufgrund des Preisanstiegs von Treibstoff. In Puerto Príncipe kam es praktisch zu einer bürgerlichen Revolution, die den Präsidenten in die Knie zwang, sodass er den Preisanstieg zurücknehmen, die Regierung auflösen und den Premierminister zum Rücktritt auffordern musste. Und damit war es noch nicht genug. Am 16. Oktober des vergangenen Jahres versammelten sich über drei Millionen Menschen in Puerto Príncipe. Ich war bei dem Protestmarsch am 18. Dezember mit mehr als zwei Millionen Teilnehmer*innen. Dauerhaft kam es zu Auseinandersetzungen. Sicherheitskräfte der Regierung richteten in einigen belebten Stadtvierteln ein regelrechtes Blutbad an. Nichtsdestotrotz leisteten die Bürger*innen so gut sie konnten Widerstand, mit Steinen und Molotov, Flaschen und einigen Waffen. Man konnte uns nicht in die Knien zwingen, trotz der starken Repressionen und der bedingungslosen Unterstützung der Regierung durch Nordamerika, durch die Botschaften der USA, Kanadas, Frankreichs, Spaniens, Brasiliens, der Europäischen Union sowie der Organisation Amerikanischer Staaten.

Doch die evangelische Kirche, die katholische und die voodooistische, ebenso wie die Akademiker, Anwalts- und Ärztekammern sowie die Studentenvertretung - alle haben sie gemeinsam gegen diese Politik protestiert. Seit zwei Monaten können die Kinder nun nicht zur Schule. Das Land steht komplett still und die Läden sind geschlossen. Es ist unmöglich zum Flughafen zu gelangen. Fast keine Flugzeuge landen und sämtliche Flüge müssen gestrichen werden, hauptsächlich aufgrund der Unsicherheit.

Wacht man morgens in Puerto Príncipe auf, ist es manchmal unmöglich, den Himmel zu sehen - wegen des Rauches durch verbranntes Gummi. In einigen Vierteln halten die Schießereien die ganze Nacht an. Vier oder fünf Journalisten wurden allein in diesem Jahr ermordet. Es ist unglaublich, was für ein Massaker hier stattfindet. Inzwischen wurde eine internationale Untersuchung eingeleitet, denn auch die Vereinten Nationen erkennen die Gewalt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, die sich in diesen Stadtteilen abspielen. In einem dieser Viertel, genannt La Salina, wurden mehr als 80 Personen getötet, Frauen und Kinder vergewaltigt und Menschen zerstückelt. Leichen haben sie auf freie Felder geworfen, alles wurde gefilmt und auf Whatsapp veröffentlicht. Es ist unbegreiflich, was hier vor sich geht. Einige Gebiete kann man nicht mehr betreten, ohne zu riskieren von bewaffneten Banden erschossen zu werden.

In Haiti spielt sich ein Volksaufstand ab, nicht nur in Puerto Príncipe, sondern auch in anderen großen Städten, genauso wie auf dem Land, wo es noch nie zuvor Demonstrationen gegeben hat. Und nun sieht man die Menschen überall auf die Straße ziehen. Es gibt ein neues Bewusstsein, einen qualitatives und quantitatives Umdenken, das die Menschen vereint, um gemeinsam zu kämpfen. Denn wir wissen, das einzige was passieren kann, ist, dass uns der Kampf, den wir anführen müssen, befreien wird. Dabei wird uns keiner helfen und nichts wird uns geschenkt, das ist klar. Hoffentlich können unsere lateinamerikanischen Brüder und Schwestern dies auch verstehen, um uns zur Seite zu stehen."


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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2019

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