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NAHOST/1021: Libyen - Gewalt durch Milizen bringt das Land an den Rand eines neuen Krieges (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. November 2013

Libyen: Fragiler Frieden - Gewalt durch Milizen bringt das Land an den Rand eines neuen Krieges

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Demonstranten in Tripolis
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Tripolis, 20. November (IPS) - Ein Autounfall in der Omar-Mokhtar-Straße in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Verletzt wurde niemand, doch die hintere Stoßstange des Wagens hängt herab. Bereits nach ein paar Sekunden hat sich eine Menge Schaulustiger am Unfallort versammelt.

"Die Versicherungsgesellschaften in Libyen kann man vergessen", sagt Mansur, der Satellitenschüsseln installiert. "Das größte Problem ist, dass man leicht mit jemandem zusammenstoßen kann, der eine Waffe zieht. Jeder hat eine Pistole im Handschuhfach." In so einem Fall gebe es nur zwei Möglichkeiten, erklärt der 30-Jährige: "Man geht ganz schnell zu seinem Auto zurück und fährt los. Oder aber man ruft einen Bruder oder Cousin an, der Mitglied einer Miliz ist und mit schwerer Artillerie anrückt."

In dem nordafrikanischen Land existieren Polizei und Armee nur noch auf dem Papier. Für die prekäre Sicherheitslage sind unzählige Rebellengruppen verantwortlich, die einst gegen den ehemaligen Diktator Muammar al Gaddafi gekämpft hatten. Sie dienen keinem Staat, sondern nur den Interessen lokaler Gruppen oder Einzelpersonen. Die Regierung schätzt die Zahl dieser Milizionäre auf etwa 250.000. Genaue Angaben liegen nicht vor.

Seit dem 15. November, als Tripolis die schwersten Auseinandersetzungen seit Kriegsende 2011 erlebte, nimmt der Volkszorn zu. Ein friedlicher Protest gegen die Straffreiheit für Milizen in der Hauptstadt mündete in eine Gewaltorgie: 48 Menschen wurden getötet und fast 500 verletzt.

Viele Einwohner von Tripolis demonstrieren seitdem an zentralen Orten der Stadt, wie kürzlich auf dem Algier-Platz. "Gaddafi hätte ebenso gewalttätig reagiert", sagt der Rechtsanwalt Abdul Hamid Najah, der sich an der Kundgebung beteiligte. "Wir alle wussten aber, dass er ein kaltblütiger Mörder war. Und nun werden wir genauso von den Leuten behandelt, die uns geholfen haben, ihn zu stürzen. Einer meiner Nachbarn wurde getötet, und ein anderer so schwer verletzt, dass er sofort nach Italien ausgeflogen werden musste."

Najah sieht die "Passivität" der Regierung als hauptsächlichen Grund für die Instabilität im Nachkriegs-Libyen. "Solange die Milizen in Tripolis bleiben, kann die Gewalt nur weiter zunehmen", meint der Demonstrant Mosarek Hobrara, Mitarbeiter des Friedensforschungsinstituts 'Centre for Humanitarian Dialogue' mit Hauptsitz in der Schweiz. "Je früher sie abziehen, umso besser wird es für uns Libyer sein."


Notstand nach Gewaltausbruch in Tripolis

Hinter ihm steht die Schülerin Maha Hamid, auf deren selbstgebasteltem Transparent 'Tripolis ruft um Hilfe' steht. Nachdem die Regierung nach dem Gewaltausbruch am 15. November für 48 Stunden den Notstand verhängt hatte, lag das Leben in dem sonst sehr geschäftigen Stadtzentrum lahm. Auch Schulen und Universitäten waren geschlossen.

"In Tripolis fühle ich mich nur in Gorji im Südwesten vollkommen sicher, weil die dortigen Milizionäre Amazigh (Berber) sind", berichtet Shokri, ein Mitglied dieser größten libyschen Minderheit. "Normalerweise fahre ich an den Wochenenden nach Hause, aber ich meide die Hauptstraße durch Aziziyah im Süden von Tripolis. Das Gebiet wird von der Volksgruppe der Warshafana kontrolliert, die Gaddafi treu waren."

Per SMS warnen sich die Menschen gegenseitig vor Gefahren. "Milizen bekämpfen sich im Osten von Tripolis, nehmt besser die Ringstraße", lautet eine typische Nachricht. Andere wagen sich erst gar nicht mehr aus dem Haus. Zu ihnen gehört der Tunesier Kemal Hassan, der wegen der Tourismusflaute in seiner Heimat in Tripolis arbeitet. Seit dem 15. November hat er das Hotel nicht mehr verlassen. "Auf den Straßen wird immer wieder geschossen. Die meisten hier haben sich daran gewöhnt, ich nicht", sagt er.

Die Lage in der Stadt ist unberechenbar. So kann plötzlich eine Gruppe von vier Männern aus einem klapprigen Fahrzeug steigen und diejenigen, die im Feierabendstau festsitzen, nach ihren 'Papieren' fragen. Manchmal sind es Teenager, die keine Uniformen tragen, aber Sturmgewehre mit sich führen. Allerdings sind sie das geringere Übel.


Rebellen machen Jagd auf angebliche Gaddafi-Getreue

Abu Muntalib wurde am 16. November von Milizionären im Flüchtlingslager Fallah südlich von Tripolis erschossen. Ein anderer Vertriebener, der aus der inzwischen völlig verlassenen Stadt Tawargha stammt, erzählt, dass eine Gruppe von Männern, die offensichtlich aus der ehemaligen Rebellenhochburg Misrata stammten, die Lagerinsassen gefragt hätten, ob sie aus Tawargha kämen. Vier andere Milizionäre seien tags darauf angerückt und hätten einen Menschen getötet und zwei weitere verletzt.

Gaddafi hatte die einst pulsierende Stadt Tawargha mit 30.000 Einwohnern zu seinem Hauptquartier gemacht, als er die nahegelegene Stadt Misrata, 187 Kilometer von Tripolis entfernt, zwei Monate lang von seinen Truppen belagern ließ.


Vertriebene werden verschleppt

Vertriebene Familien haben eine Liste mit den Namen von Angehörigen erstellt, die in den vergangenen Wochen vermutlich von Misrata-Milizen verschleppt worden sind. Die meisten Opfer wurden am Lagereingang entführt. "Wir trauen uns nicht, das Camp zu verlassen. Doch auch hier drin können wir angegriffen werden", erklärt der 20-jährige Yousef Mohamed, der an einer Schussverletzung leidet.

Menschen aus allen Schichten beklagen sich über die miserable Sicherheitslage in Libyen. Wail Brahimi gehört zu den Libyern, die während der Revolution gegen Gaddafi aus dem Exil zurückkamen, "um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen".

Zwei Jahre nach der brutalen Ermordung des Diktators durch die Rebellen überlegt sich der Jurist, der in London studierte, wieder nach Großbritannien zurückzugehen. "Dank des fragilen Gleichgewichts der Mächte haben wir bisher einen neuen Krieg vermeiden können. Uns allen ist aber klar, dass dieser Zustand nicht ewig andauern wird. Nach den jüngsten Vorfällen dürften wir bereits am Rand eines Bürgerkriegs stehen." (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.hdcentre.org/en/
http://www.ipsnews.net/2013/11/libyas-fragile-peace-cracks/

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IPS-Tagesdienst vom 20. November 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2013