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NAHOST/468: Einseitige Waffenruhe der israelischen Armee im Gazastreifen (Al Mezan)


Al Mezan Center for Human Rights / Al Mezan-Zentrum für Menschenrechte
Pressemitteilung vom 18. Januar 2009

Die israelische Besatzungsarmee (IOF) stellt das Feuer einseitig ein;
Truppenverlegungen innerhalb Gazas

Dutzende verweste Leichen unter zerstörten Häusern gefunden und enorme Zerstörung in Wohnorten


Israel hat einen einseitigen Waffenstillstand im Gazastreifen ausgerufen, während es seine Truppen in Positionen beläßt, die diese im Zuge der sogenannten Operation Gegossenes Blei erobert haben. Mitarbeiter des Al Mezan-Zentrums besuchten einige der Gebiete, aus denen die IOF gestern abend und heute morgen abgezogen ist. Sie stellten fest, daß eine Katastrophe diese wochenlang nicht zugänglichen Regionen verheert hat. Indizien wurden gefunden, die darauf hindeuten, daß die IOF in diesen Gebieten Kriegsverbrechen begangen hat. Insbesondere wurden unter dem Schutt zerstörter Häuser Dutzende Leichen von Zivilisten in schlechtem Zustand entdeckt. Darüber hinaus, legt das Bild der Verwüstung nahe, daß die IOF systematisch eine weiträumige Zerstörung von Wohnhäusern vorgenommen hat.

Die Mitarbeiter des Al Mezan-Zentrums im Außeneinsatz berichteten, daß in den Gebieten Ezbet Abed-Rabu, As-Salatin, Al-Atatra und Al-Israa' im nördlichen Distrikt von Gaza sowie in Al-Kashif und Al-Rayis Hills und auch in den östlichen Vororten von Gaza-Stadt ganze Häuserblocks verschwunden sind. Bis 14.00 Uhr hatten medizinische Teams 62 Leichen unter dem Schutt von Gebäuden und unter Geröll gefunden, das israelische Bulldozer beseitegeräumt hatten. Acht von ihnen waren Kinder, zehn Frauen. Es ist nicht bekannt, ob sie tot oder lebend unter den Trümmern begraben worden sind.

Nach Erkenntnissen des Al Mezan-Zentrums hat die IOF die einseitig erklärte Waffenruhe gebrochen. Den ganzen Tag über gab es Schüsse in verschiedenen Gebieten sowie Feuer aus Artilleriegeschützen, Panzern und Kriegsschiffen. Israelische Kampfflugzeuge haben zudem Angriffe auf offenes Gelände geführt. Um 10:30 eröffneten israelische Truppen das Feuer auf Zivilisten, die versuchten, ihre Häuser im Ort Khuza'a östlich von Khan Younis zu erreichen. Ein 22jähriger Mann, Mahir Abu Irjila, wurde dabei getötet. Das Opfer und seine Familie hatten ursprünglich ihr Haus verlassen und die Zeit in einer UN-Unterkunft verbracht.

Zusammen mit diesen Opfern steigt die Zahl der durch die IOF seit Beginn der Operation Gegossenes Blei am 27. Dezember 2008 im Gazastreifen getöteten Palästinenser auf 1.253, unter ihnen mindestens 280 Kinder und 95 Frauen. 4.009 Menschen wurden verwundet, davon 860 Kinder und 488 Frauen.

Das Al Mezan-Zentrum hat eine Untersuchung initiiert, die die Folgen der IOF-Operationen für Leben und Eigentum im Gazastreifen detailliert dokumentieren soll. Es hat zudem damit begonnen, Dutzenden von Fällen nachzugehen, in denen aller Wahrscheinlichkeit nach Kriegsverbrechen verübt wurden.

Das Al Mezan-Zentrum unterstreicht die Notwendigkeit sicherzustellen, daß die IOF ihre unverhältnismäßigen und unterschiedslosen Militäraktionen im Gazastreifen nicht wiederholt. Das Zentrum hat als Augenzeuge miterlebt, auf welche Weise die IOF ihre Operationen unter eklatanter Mißachtung des geltenden internationalen Rechts und von Menschenleben durchgeführt hat. Während das Zentrum mit seiner Erkundung und Dokumentation dessen, was in Gaza geschehen ist, fortfährt, fordert es, daß die internationale Gemeinschaft eindeutig Position gegen das Vorgehen der IOF bezieht: Zivilisten dürfen nicht zum Ziel werden, und internationales Recht ist in jedem Fall zu befolgen, insbesondere in bewaffneten Konflikten. Al Mezan bleibt in Sorge aufgrund der aktuellen, unsicheren Zustände, bedingt durch einseitige Festlegungen, die die Kampfhandlungen möglicherweise nicht beenden.

Al Mezan bringt seine Empörung angesichts der vorgefundenen Fakten in jenen Gebieten zum Ausdruck, in die die IOF vor über zwei Wochen einmarschiert war. Die Erkenntnisse bestätigen, wie berechtigt die Befürchtungen waren, daß Zivilisten und ziviles Eigentum in diesen Gebieten auf grauhafte Weise behandelt wurden. Dutzende Leichen wurden in Krankenhäuser transportiert, und die Vermutungen wachsen, daß Zivilisten getötet oder sterbend zurückgelassen wurden, weil die IOF keinerlei Versuch unternommen hat, Verwundeten oder Überlebenden zu helfen. Al Mezan verurteilt dieses Vorgehen, das einen schweren Verstoß gegen internationales Recht und internationale Normen im Falle eines bewaffneten Konflikts darstellt.

Das Al Mezan-Zentrum fordert die internationale Gemeinschaft auf, unverzüglich humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen bereitzustellen; insbesondere für jene, die aufgrund der israelischen Angriffe ihre Ernährer, Eltern, ihr Heim sowie Hab und Gut verloren haben. Das Zentrum ruft das UNWRA dazu auf, seine Bemühungen, den vertriebenen Menschen zu helfen, fortzusetzen. Tausende von ihnen haben durch die IOF-Angriffe und -Zerstörungen ihr Heim verloren. Da am 23. Januar die Schulen wieder geöffnet werden sollen, werden für diejenigen, die nicht in ihre Häuser zurückkehren können, alternative Unterkünfte benötigt.

Al Mezan drängt darüber hinaus auf ein sofortiges internationales Eingreifen, um weitere IOF-Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen in Gaza für die Zukunft zu verhindern und um die IOF-Operationen zu untersuchen, von denen viele nach internationalem Recht Kriegsverbrechen darstellen.

Das Al Mezan-Zentrum erneuert zudem seinen Appell an die Hohen Vertragsparteien der Vierten Genfer Konvention von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, ihrer gesetzlichen und moralischen Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Verpflichtungen unter Artikel 1 nachzukommen, indem sie selbst das Abkommen einhalten und seine Einhaltung durchsetzen.


Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

(1) Das Al Mezan-Zentrum für Menschenrechte ist eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz im palästinensischen Flüchtlingslager Jabalia im Gazastreifen.
(2) Uhrzeit in Gaza = Mitteleuropäische Zeit plus 1 Stunde - d.h. Gaza-Zeit 14.00 Uhr = MEZ 13.00 Uhr
(3) UNWRA: United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East = UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser im Nahen Osten


Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext:
http://www.mezan.org/site_en/press_room/press_detail.php?id=958


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Quelle:
Pressemitteilung 21/2009 vom 18.01.2009
Al Mezan Center for Human Rights /
Al Mezan-Zentrum für Menschenrechte
Palästina - Gazastreifen
Büro Jabalia: Telefon: ++972-(0)8-2453555, Fax: ++972-(0)8-2453554
Büro Gaza: Telefax: ++972-(0)8-2820447
Büro Rafah: Telefax: ++972-(0)8-2137120
Internet: http://www.mezan.org/site_en/index.php


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2009