Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/524: Libyen - Gefangen in Misratah (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 47 - Frühling 2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Libyen - Gefangen in Misratah
Die Wahrheit über die 600 eritreischen Häftlinge

Von Gabriele Del Grande


Flüchtlinge, die den Sprung über den großen Teich nach Europa nicht schaffen, werden auch in den nordafrikanischen Transitländern verfolgt. Gabriel del Grande berichtet das beispielhafte Schicksal eritreischer Flüchtlinge in Libyen.


Wir sind in Misratah, 210 km östlich von Tripolis, in Libyen. Die Häftlinge sind alle politische Asylsuchende aus Eritrea, die im Meer vor Lampedusa oder in den Wohnvierteln der Einwanderer in Tripolis verhaftet wurden. Sie sind kollaterale Opfer der italienisch-libyschen Zusammenarbeit gegen die Einwanderung. Es sind mehr als 600 Personen, davon 58 Frauen und mehrere Kinder und Neugeborene. Sie sind seit mehr als zwei Jahren inhaftiert, aber niemand von ihnen hat einen Prozess vor Gericht bekommen. Sie schlafen in fensterlosen Zimmern von 4 mal 5 Metern, bis zu 20 Personen liegen auf Matten und Schaumstoffmatratzen auf dem Boden. Tagsüber versammeln sie sich unter den wachsamen Augen der Polizei auf dem 20 mal 20 Meter großen Hof, um den die Zimmer angeordnet sind. Viele sind junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren. Ihr Vergehen? Sie haben versucht, nach Europa zu gelangen, um dort Asyl zu beantragen.

Die eritreische Diaspora kommt seit Jahren nach Lampedusa. Seit April 2005 sind mindestens 6.000 Flüchtlinge der ehemaligen italienischen Kolonie an den sizilianischen Küsten gelandet, auf der Flucht vor der Diktatur von Isaias Afewerki. Die Situation in Asmara ist weiterhin kritisch. Amnesty International klagt ständige Verhaftungen und Schikanen von Opponenten und Journalisten an. In Äthiopien herrscht weiterhin hohe Anspannung, so dass mindestens 320.000 Jungen und Mädchen zum Militärdienst auf unbestimmte Zeit gezwungen werden, und das in einem Land mit nur 4,7 Millionen Einwohnern. Viele desertieren und fliehen, um ein neues Leben zu beginnen. Die meisten Flüchtlinge bleiben im Sudan: mehr als 130.000 Personen. Dennoch durchqueren jedes Jahr Tausende Männer und Frauen die Sahara, um nach Libyen zu gelangen und sich von dort illegal nach Italien einzuschiffen.


Gefangen in Misratah

Im Juli 2007 haben wir den ersten telefonischen Kontakt nach Misratah. Die Häftlinge beschwerten sich über Überfüllung, mangelhafte Hygiene und prekäre Gesundheitszustände, vor allem von Schwangeren und Neugeborenen. Sie beschuldigten die Polizeibeamten, einige Frauen während der ersten Wochen der Haft sexuell belästigt zu haben.

Der Leiter des Zentrums, Oberst 'Ali Abu 'Ud, kennt die internationalen Berichte über Misratah, doch er weist die Anschuldigungen zurück. "Alles, was sie sagen, stimmt nicht", sagt er selbstsicher.


Folter und Überbelegung

S. steht auf dem Hof: "Bruder, unsere Lage ist sehr schlimm, wir werden mental und körperlich gefoltert. Wir sind seit zwei Jahren hier und wissen nicht, wie unsere Zukunft sein wird. Sieh selbst!" Inzwischen ist der Dolmetscher dazu gekommen und übersetzt alles für den Leiter der Einrichtung, der das Interview unterbricht und S. fragt, ob er vielleicht nach Eritrea zurückkehren möchte. S. verneint.

Wir schlängeln uns durch die Menschenmenge im Hof, um den vier Zimmer gelegen sind. Drinnen sitzen 18 junge Männer auf Decken und Schaumstoffmatratzen auf dem Boden. Das Zimmer ist vier mal fünf Meter groß. In der Mitte des Zimmers blubbert ein Kochtopf auf einem Campingkocher. Es gibt keine Fenster. "Wir sind zu viele, es ist zu eng", sagt S., "wir sehen kein Sonnenlicht und können nicht lüften. Während der Hitze im Sommer werden die Leute krank. Und auch im Winter, nachts ist es sehr kalt, werden die Leute krank." Es ist Ende November und die Männer tragen Badelatschen und dünne Pullover. Das Nebenzimmer ist größer, dort sind nur Frauen und Kinder, aber sie sind mindestens doppelt so viele.

J. ist 34 Jahre alt und sagt, er sei in 13 verschiedenen Gefängnissen in Libyen gewesen: "Einige von uns sind seit vier Jahren hier. Ich persönlich bin seit drei Jahren in Misratah. Unsere Lage ist extrem schlimm. Wir haben keine Verbrechen begangen, wir verlangen nur politisches Asyl. Und das wird uns nicht gewährt. Sagt uns wenigstens, warum? Denn niemand informiert uns. Nicht einmal das UNHCR. Sie sagen uns nie etwas. Ich habe keine Hoffnung mehr, wenn ich dort hingehe, hören sie mir nicht einmal zu. Ich wog 60 kg als ich hierher kam, jetzt wiege ich noch 48 kg, du kannst dir vorstellen, wieso...".

Der Oberst Abu 'Ud verfolgt die ins Arabische übersetzte Unterhaltung. Er unterbricht abrupt das Interview und fragt alle, die Kritik üben, ob sie zurück nach Eritrea wollen. "Wenn ihr euch hier misshandelt fühlt, werden wir augenblicklich eure Abschiebung organisieren. Ihr habt euch schon geweigert, in euer Heimatland zurückzukehren, deshalb seid ihr hier. Aber jedem von euch steht es frei, nach Eritrea zurückzukehren! Wer möchte nach Eritrea?", fragt er in die Menge. "Niemand!", antworten sie ihm.


Europa verlangt das Schließen der Grenzen

Der Begriff des politischen Asyls ist den libyschen Behörden fremd. Eritreer oder Nigerianer, alle wollen nach Europa. Und da Europa verlangt, dass die Grenzen kontrolliert werden, sind Abschiebungen die einzige Lösung. Wer nicht mit den Botschaften zusammenarbeitet - wie die eritreischen Flüchtlinge, die sich den Gesprächen zur Identifizierung verweigern - bleibt auf unbestimmte Zeit inhaftiert. Um wieder in Freiheit zu leben, bleiben also nur zwei Möglichkeiten. Entweder man hat das Glück, in ein Weiterwanderungsprogramm des UNHCR aufgenommen zu werden, oder man versucht zu fliehen.

Haron ist 36 Jahre alt. Zu Hause hat er seine Frau und zwei Kinder zurückgelassen. Er ist nach 12 Jahren unbezahltem Militärdienst aus Eritrea geflohen. Nach zwei Jahren Haft in Misratah hat Schweden seinen Antrag auf Weiterwanderung bewilligt. Er ist drei Tage nach unserem Besuch, am 27. November 2008, mit einer Gruppe von weiteren 26 eritreischen Flüchtlingen aus dem Lager Misratah abgereist. Die Weiterwanderung ist die einzige Karte, die das UNHCR seit nunmehr einem Jahr in Libyen spielen kann.


Perspektive: Flucht, Flucht, Flucht

Denjenigen, die nicht in die Weiterwanderungsprogramme des UNHCR aufgenommen werden, bleibt nur die wiederholte Flucht. Koubros ist einer von ihnen. Wir treffen ihn nach der Morgenmesse in Tripolis. Koubros war ein Jahr lang in Misratah. Er war während einer Razzia im Viertel Abu Selim in Tripolis verhaftet worden. Während eines Krankenhausaufenthalts flüchtete er. Dann jedoch wurde er erneut verhaftet und ins Tuaisha-Gefängnis, in der Nähe des Flughafens von Tripolis, gebracht. Dort ist es ihm gelungen, einen Polizisten zu bestechen, indem er sich von eritreischen Freunden in der Stadt 300 Dollar schicken ließ.

Wir besuchen die Wohnung einer Familie aus dem Tschad, die zwei kleine Zimmer auf der Terrasse an sieben Eritreer vermietet hat. Auf dem Fußboden liegen Teppiche und Decken. Fünf junge Männer schlafen dort. Es ist ein sicherer Ort, sagen sie, da der Eingang zu der Wohnung durch die Wohnung der Familie aus dem Tschad geht, deren Papiere in Ordnung sind.

Auch Robel war in Misratah. Er hat ein Jahr dort verbracht. Er zeigt uns seinen vom UNHCR ausgestellten Ausweis als Asylbewerber. Er läuft am 11. Mai 2009 ab. Aber er fühlt sich damit nicht sicher. "Ein Freund von mir ist trotzdem verhaftet worden, sie haben den Ausweis vor seinen Augen zerrissen."


Gabriele Del Grande ist Journalist und lebt in Italien.

Übersetzung aus dem Italienischen: Renate Albrecht, aus
redaktionellen Gründen gekürzt.


*


Quelle:
Der Schlepper Nr. 47 - Frühling 2009, Seite 44-45
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/73 50 00, Fax: 0431/73 60 77
E-Mail: office@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
Nichtmitglieder können ihn für 18,00 Euro jährlich
abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2009