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NAHOST/548: Türkei/Kurdistan - Eine kritische positive Phase (Cenî)


Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e. V., Nr. 23, September 2009
Eine alternative Frauensicht

Eine kritische positive Phase

Von Nilüfer Koç


Seit einigen Wochen gibt es in der Türkei eine öffentliche Diskussion, die wir vorher in dieser Form und Qualität nicht kannten. Unter dem Motto "kurdische Öffnung" wies erstmals der türkische Staatspräsident Abdullah Gül öffentlich auf die Dringlichkeit einer Lösung der kurdischen Frage hin. Ähnlich äußerte sich daraufhin auch der türkische Ministerpräsidenten Recep Tavvip Erdogan. Gül und Erdogan nannten die kurdische Frage das primär zu lösende Problem der Türkei. Ferner handele es sich um eine interne Frage der Türkei, die durch die Türkei selbst gelöst werden müsse. Diese Äußerungen entfachten eine neue Debatte.

Journalisten, Kolumnisten, Intellektuelle, linke aller Couleur sowie die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, Künstler meldeten sich zu Wort. Parallel dazu beauftragte die AKP-Regierung Innenminister Besir Atalay, die Meinungen der Oppositionsparteien sowie der im Land bekannten Persönlichkeiten, der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einzuholen. Diese Debatten fanden ihren Höhepunkt mit dem Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates. Hier wurde zum ersten Mal in dessen Schlusserklärung der Regierung die Unterstützung ausgesprochen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat das höchste staatliche Entscheidungsgremium nicht von der Eliminierung der Kurden, welche bisher üblicherweise in die Kategorie "Terrorismus" fielen, gesprochen.

Doch ist die öffentliche Meinung in der Türkei in Bezug auf die Politik der Öffnung gegenüber den Kurden gespalten. Viele, die sich seit Jahren mit der kurdischen Frage befassen, äußern ihre Skepsis, da die AKP-Regierung unter Premier Erdogan auch in den vergangenen Jahren offensive und radikale Töne in der kurdischen Frage hatte verlauten lassen. Das letzte Mal im Jahre 2005 hatte Erdogan in Diyarbakir erklärt, er sehe die kurdische Frage als eine primäre und eigene an. Kurz danach folgten Repressionen und Militäroperationen in Kurdistan.

Doch die Skepsis resultiert nicht nur aus der Erfahrung der Vergangenheit: Die Regierung redet und redet über ihre Öffnungspolitik. Nur scheint es, dass dies niemand versteht. Denn konkret ist dieser ganzen Debatte nichts zu entnehmen. Oder niemand weiß, ob all dies seriös ist. Denn Hinweise auf konkrete Lösungsansätze gibt es nicht. Nur ist ständig die Rede davon, dass die kurdische Frage eine ernstzunehmende interne Frage der Türkei sei und ihre Lösung folglich in der Türkei zu erfolgen habe. Die Opposition, verhaftet in ihrer Kurden-Phobie, sieht in dieser Debatte eine Gefahr für den Einheitsstaat, da sie der Meinung ist, es handele sich um ein von auswärtigen Kräften initiiertes Projekt. Nach mehreren Wochen sind die Diskussionen in eine neue Etappe eingetreten. Anstelle des Begriffs "kurdische Öffnung" ist die "demokratische Öffnung" in den Vordergrund gestellt worden.


Kurze Vorgeschichte des neuen Prozesses

Es muss erwähnt werden, dass neben globalen politischen Veränderungen der Freiheitskampf der Kurden in dieser neuen Etappe den Ausgangspunkt für die erwähnte Debatte darstellt. Es ist ein klassischer Fall, dass in einem Konflikt bisher angewandte Mittel und Methoden ab einem bestimmten Punkt keine Wirkung mehr zeigen. Die Türkei hat seit dem Beginn des 29. Aufstands der Kurden durch die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) 1978 alle Mittel, Wege und Methoden zur Vernichtung und Leugnung der Kurden probiert. Die Kurden auf der anderen Seite haben trotz eines hohen Blutzolls auf ihrem Freiheitskampf für ihre Identitätsrechte beharrt und die Türkei zu dem heutigen Punkt gebracht, dass der türkisch-kurdische Konflikt militärisch nicht mehr aufzulösen ist.

Ganz entscheidend waren hierbei die letzten zwei Jahre. Die AKP-Regierung berechtigte im Frühjahr 2007 die Armee per Parlamentsbeschluss zu grenzüberschreitenden Operationen, um die PKK-Guerillakämpfer zu vernichten. Hierbei genoss die Türkei die volle Unterstützung der USA und teilweise der EU.

Die USA hatten die Türkei zuvor durch Geheimdienstinformationen unterstützt, gewonnen mithilfe modernster Luftaufklärungstechnologie. Es folgten mehrere große militärische Offensiven gegen die Guerilla. Allerdings blieben alle erfolglos, da die PKK sehr früh die kommende türkische Aggression vorausgesehen und Präventivmaßnahmen ergriffen hatte. Die Erfolge der Guerilla waren der Ausgangspunkt für die Qualität und das Ausmaß der neuen Volksaufstände in Kurdistan. Das Ergebnis dieses Prozesses entstieg den Urnen der Kommunalwahl am 29. März dieses Jahres.

Mit astronomischen Summen hatte die AKP-Regierung Wahlpropaganda in Kurdistan betrieben, um einem Erfolg der DTP vorzubeugen. Die AKP fand hierbei auch die volle Unterstützung des Militärs, der staatlichen Bürokratie, aller Kräfte des paramilitärischen Kriegsapparates wie Dorfschützer und Spezialeinheiten. Auch erhielt sie umfassenden politischen und diplomatischen internationalen Beistand. Trotz allem schaffte die DTP nicht nur den Durchbruch, sondern einen vollständigen Wahlsieg in den kurdischen Provinzen.

Aufgrund des Wahlerfolges empfing auch US-Präsident Obama während seines Türkeibesuchs den DTP-Co-Vorsitzenden Ahmet Türk. Ferner betonte Obama in seiner Rede im türkischen Parlament die Lösung der kurdischen Frage.

Um einer solchen politischen Lösung eine Grundlage zu bieten, leitete die PKK am 13. April 2009 für zwei Monate eine von militärischen Aktionen freie Phase ein. Am 14. April folgte die Furie der Festnahmen von Mitgliedern der DTP und der Gewerkschaften, die sich für eine politische Lösung der kurdischen Frage ausgesprochen hatten. Bislang sind 450 DTP-Mitglieder inhaftiert worden. Gegen 3000 Kinder und Jugendliche laufen Verfahren nach dem Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus, weil sie sich an Friedensdemonstrationen beteiligt hatten. Repressionen gegen kurdische Medien und DTP halten ununterbrochen an.


Die Haltung der kurdischen Seite

Im Wahlerfolg der DTP sahen sowohl Abdullah Öcalan als auch die PKK den festen Willen des kurdischen Volkes zum Frieden, weshalb auch die PKK kurz nach der Wahl die gefechtsfreie Phase für zwei Monate anbot.

Abdullah Öcalan rief daraufhin die türkische Regierung über seine Anwälte öffentlich mehrmals zum Frieden auf, was sowohl in der kurdischen als auch der türkischen Öffentlichkeit auf positive Resonanz stieß. Er wiederholte mehrmals die kurdischen Forderungen, die sich im Grunde im Rahmen des internationalen Rechts bewegen. Priorität setzte er auf den Punkt, dass militärische Operationen in Kurdistan gestoppt werden müssten, um dem Dialog den Weg öffnen zu können.

Ferner stellte er die Ausarbeitung eines Fahrplans für die Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts in Aussicht. Hierfür ließ er über seine Anwälte die Meinungen aller Beteiligten einholen. Kurdische Intellektuelle, Politiker, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, politische Parteien sowie Einzelpersonen äußerten ihre Vorschläge öffentlich. Auch legte Öcalan großen Wert auf die Haltung der europäischen, arabischen, amerikanischen Welt zur Lösung der kurdischen Frage.

Anhand all dessen erarbeitete er seinen Fahrplan, der gegenwärtig in den Händen der Gefängnisleitung liegt. Alle an dem Konflikt beteiligten Seiten haben ihre Erwartung des Fahrplans geäußert. Die kurdische Seite hatte sich in der Zwischenzeit kaum öffentlich geäußert, da einerseits auf den Fahrplan Öcalans gewartet wurde, andererseits der Zivilgesellschaft Freiraum für die Meinungsbildung geboten werden sollte. Daraus hat die AKP-Regierung versucht, Nutzen zu ziehen, und damit die Diskussionen um die "kurdische Öffnung" gestartet.


Ein kritischer neuer Beginn

Für die Bemühungen um eine politische Lösung sind natürlich, neben der öffentlichen Meinungsbildung der Zivilgesellschaft, die Verantwortungsbewusste Haltung beider Konfliktparteien sowie die friedensfördernde Haltung von unter anderem internationalen Kräften von großer Bedeutung. Während die kurdische Seite durch die gefechtsfreie Zeit vertrauensbildende Maßnahmen traf, sorgte die AKP-Regierung mit den Festnahmen der 450 DTPler sowie der Beleidigung und Ablehnung der kurdischen Seite für Skepsis. Dass der Anwaltsbesuch bei Öcalan erneut mit fragwürdigen Argumenten verhindert wurde, mit dem Ziel, den Fahrplan nicht von der Gefängnisinsel Imrali herunterzulassen, hat die Debatte der Regierung um die Öffnung in der kurdischen Frage überschattet.

Für die kurdische Seite ist es nun wichtig, ob der am 20. August von Öcalan der Gefängnisleitung persönlich übergebene Fahrplan an die Öffentlichkeit kommen wird oder nicht. An dieser Frage wird sich auch entscheiden, ob die PKK ihre im Juni bis zum 1. September verlängerte Pause militärischer Aktionen zum zweiten Mal ausweiten wird.

Auch wenn es sich um den vagen Versuch einer friedlichen Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts handelt, kann im Allgemeinen von einer positiven Entwicklung gesprochen werden. Ein neuer Prozess hat begonnen, da in der Türkei zum ersten Mal in diesem Ausmaß nicht über den Konflikt, sondern über seine Lösung debattiert wird. Man könnte sagen, dass dadurch alle Beteiligten wie Think tanks agieren und nach Wegen abseits des kriegerischen suchen. Fraglich wird bleiben, was die AKP-Regierung nach dem Statement des Militärs anstellen wird, welches diese Woche wie üblich von der Eliminierung des "Terrors" sprach.


Dritte Kräfte können friedensfördernd sein

In dem neuen Prozess wird nicht nur die Haltung der kurdischen oder der türkischen Seite ausschlaggebend sein. Die kurdische Seite geht sehr seriös und verantwortungsbewusst damit um. Dies darf allerdings nicht als Schwäche oder Notlage verstanden werden, denn sie verfügt auch über andere Alternativen. Neben ihrer starken Organisierung besitzt sie auch eine starke Mobilisierungskraft unter den Kurden.

Ebenso ist die Haltung der EU-Mitgliedsstaaten sowie der USA wichtig, da sie mit der Türkei eine rege Bündnispolitik auf vielen Ebenen pflegen. Sie können bei der Motivierung der Türkei zum Frieden eine positive und damit förderliche Rolle spielen. Natürlich kommt es hierbei auch darauf an, dass vor allem diese Kräfte ihrer bisherigen Kurdenpolitik neue Impulse geben und dadurch der Türkei ein Vorbild bieten können. Dazu gehört vor allem, dass Berlin sich erneut dem Thema PKK widmet und seine Rolle für die Kurden einsieht. Das gleiche gilt für alle anderen EU-Staaten sowie die USA. Dritte Kräfte sind, sobald Interesse an einer Beteiligung besteht, verpflichtet, minimales Vertrauen auf beiden Seiten zu gewinnen.

Es wird ein schwieriger Weg werden, denn bei der kurdischen Frage handelt es sich um einen Konflikt mit überregionalen Ausmaßen. Es darf nicht vergessen werden, dass die kurdische Frage neben der Türkei auch Iran und Syrien beschäftigt. Ebenso steht die Zukunft im irakischen Kurdistan noch offen. Eine Lösung der kurdischen Frage kann also auch zu Stabilität, Sicherheit und Demokratie im Mittleren Osten beitragen.

Nilüfer Koç
(Mitglied im Exekutivrat des Nationalkongresses Kurdistan - KNK)


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Quelle:
Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e. V., Nr. 23, September 2009, S. 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2009