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NAHOST/556: Israelische Schülerinnen ziehen Gefängnis dem Dienst in der Besatzungsarmee vor (EI)


The Electronic Intifada, 6. Oktober 2009

Israelische Highschoolabsolventen ziehen das Gefängnis dem Dienst in der Besatzungsarmee vor

Von Nora Barrows-Friedman


Als Hellfire-Raketen und Weißer Phosphor aus US-Produktion auf die im Gaza-Streifen in der Falle sitzenden Menschen herunterregneten, versuchte eine Gruppe von "Refuseniks" - junge israelische Männer und Frauen, die den obligatorischen Militärdienst nach der Highschool verweigern - gemeinsam mit Besatzungsgegnern den israelischen Luftwaffenstandort in der Nähe von Tel Aviv zu schließen. Denn von dieser Basis aus starteten die Maschinen mit ihren Kriegswaffen, geflogen von ihren früheren Klassenkameraden, in die Luft, um Palästinenser nur wenige Meilen den Strand entlang entfernt in Gaza zu töten.

Von chronischer Prügel an den Checkpoints, über den Einsatz palästinensischer Kinder als menschliche Schutzschilde beim Einmarsch, über die weitverbreitete Anwendung von Folter und Verhören in Gefangenenlagern, bis zur Tötung unbewaffneter Zivilisten während der Invasion und zu Massakern großen Ausmaßes, die internationale Verurteilung nach sich zogen, zeigen Israels Soldaten das Gesicht der sich ausweitenden und illegalen Besetzung und Kolonisierung Palästinas durch den israelischen Staat. Und eine neue Generation von Rekruten hat gerade das Trainingslager abgeschlossen, die es danach drängt, diese verwerfliche Besatzungstradition fortzusetzen.

Der Mainstream der israelisch-jüdischen Gesellschaft betrachtet die obligatorische Einberufung zum Militär als einen Übergangsritus; ein normalisiertes Gewaltabenteuer, das den Nationalismus und die zionistische Vorherrschaft kodifizieren soll, während Israel seine Angriffspolitik verfolgt. (Paradoxerweise, haben auch einige Tausend nichtjüdische, "arabisch-israelische" Bürger in der Armee gedient - siehe den jüngst erschienenen Artikel von Jonathan Cook: "False promise of integration for Palestinian soldiers in Israel.")[2] Vor kurzem hat der israelische Außenminister Avigdor Lieberman bei dem Versuch, die kriminellen Massaker des Staates in diesem Jahr in Gaza zu verteidigen, ein häufig gehörtes Mantra rezitiert. "Israel", behauptete Lieberman, "hat die Armee mit der weltweit höchsten Moral".

Trotzdem unterbricht eine wachsende Zahl junger Israelis, die vor der obligatorischen Einberufung zum Militär steht - die Shministim - die Kette der konventionellen Kooperation mit der Okkupation. Durch ihre Weigerung, Teil eines Systems zu sein, das sie übereinkommend als so unmoralisch wie illegal begreifen, sind diese jungen Menschen ein Beispiel für den Einklang mit ihren ethischen Werten, statt mit der kolonialen Politik ihres Staates.

Die Shministim haben zudem begonnen, sich mit amerikanischen Kriegsdienstverweigerern zu vernetzen und eine internationale Widerstandsbewegung gegen staatlich getragene Besatzungsgewalt aufzubauen - von der Westbank und Gaza bis zum Irak und Afghanistan. Gleichzeitig sprechen diese jungen Menschen USA-weit direkt vor einem jüdischen Publikum, das die von Israel empfundene "Notwendigkeit" eines aggressiven militärischen Systems romantisieren könnte, und verbinden damit die Hoffnung, zu kritischen Gedanken anzuregen, die sich mit der tatsächlichen Lage der Palästinenser befassen, die unter den israelischen Aktionen leiden.

Seit 1970 stemmen sich wiederholt Gruppen von Shministim - Hebräisch für Zwölftkläßler - gegen die überwältigende militaristische Strömung ihrer Generation. Mit offenen Briefen an die israelische Staatsführung verweigern Scharen von Shministim die Teilhabe am Besatzungssystem, und greifen auf breiterer Ebene den nationalen Standpunkt der eigenen Vorherrschaft und des rassistischen Anrechts gegenüber der einheimischen Bevölkerung des historischen Palästina mit lauter Stimme an.

Auch wenn persönliche Geschichten einzigartig sind, die jedem jungen Menschen unwiderruflich die Augen öffnen, der sich widersetzt, ist doch der Schock angesichts einer kollektiven Realität und persönlichen Verantwortlichkeit eine allgemeine Frage. Nachdem sie Zeugin brutaler Gewalt israelischer Besatzungssoldaten in der Westbankstadt Bilin geworden ist, sagt das 19jährige Shministim-Mitglied Maya Wind: "Für mich kam als moralische Option nur die Verweigerung infrage".

Es überrascht nicht, daß die israelische Regierung Winds Erkenntnis nicht beipflichtet. Shministim-Refuseniks erwarten drakonische, sich wiederholende Gefängnisstrafen bis sie 21 sind oder bis es ihnen gelingt, eine Entlassung aus medizinischen oder psychischen Gründen zu erreichen. Israelische Jugendliche, die sich weigern, mit Israels militärischer Besatzung zu kooperieren, werden durch ein anhaltendes Labyrinth schonungsloser Kriegsgerichtsverfahren und darauf folgender Gefängnisstrafen geschickt, das der israelische Anwalt Michael Sfard, der Shministim vertritt, als "Etikett" bezeichnet, dessen Funktion darin besteht, andere junge Israelis von der Nichtbeteiligung abzuhalten. "Anderenfalls", meint er, "lautet das Argument [der israelischen Regierung], würde jeder - aus ideologischen oder persönlichen Gründen - den Dienst verweigern."

Ich habe vor kurzem Wind und ihre Shministim-Mitstreiterin Netta Mishly auf ihrer Tour in der San Francisco Bay Area [1] interviewt.

Wind erzählt, daß das politische und ultrareligiöse Umfeld ihrer Highschool sie dazu gebracht hat, die Tatsachen, auf denen die Ideologie ihrer Regierung und ihrer Mitschüler gründet, zu hinterfragen. "Viele meiner Klassenkameraden waren Siedler, darunter auch Extremisten aus [Siedlungen in] der Westbank ... mir kamen eine Menge Fragen. Ich habe zu der Zeit nicht einmal das Wort 'Besatzung' benutzt." Durch eine Diskussionsgruppe mit Palästinensern in Jerusalem, sagt Wind, sei sie zu einer anderen Realität erwacht als der ihr innerhalb der israelisch-jüdischen Gesellschaft gebotenen. "Ich kam zu dem Schluß, daß ich noch mehr erfahren müsse. Durch das Gespräch mit einem palästinensischen Mädchen fing ich an, mehr zu hinterfragen. Ich begann, die Westbank zu besuchen."

Wind wurde in der dritten Woche der Gaza-Massaker ins Gefängnis geschickt und verbrachte mehrere Wochen hinter Gittern. Im ganzen viermal verurteilt, verbrachte sie insgesamt zwei Monate in Haft und weitere 42 Tage in einem Militärgefängnis. Sie wurde einem "demütigenden" Aufgebot von Psychiatern und Psychologen ausgesetzt, die das Militär geschickt hatte, um sie auf ihre für den Dienst in der Armee erforderliche, psychische Gesundheit zu untersuchen. Wind erzählt, daß diese Gesundheitsexperten alle Shministim als psychisch labil abstempeln und Israel damit die Ausflucht verschaffen, daß das Problem nicht in der Politik oder der Moral des Militärs zu suchen ist, sondern bei den Shministim selbst.

Netta Mishly, ebenfalls 19 Jahre alt und aus Tel Aviv, war seit ihrer frühen Jugend in mehreren politischen Gruppen aktiv und wurde von Eltern unterstützt, die sie darin bestärkten, kritisch zu denken. Sie erzählte, daß ihre Entscheidung zu verweigern während ihrer Aktivitäten in der Westbank fiel. "Nachdem ich dort gewesen bin und gesehen habe, wie Soldaten ohne irgendeinen Sicherheitsanlaß Zivilisten angriffen, nachdem ich gesehen habe, wie der Staat Land von [Palästinensern] stiehlt ... Zu meiner Entscheidung, nicht zur Armee zu gehen, bin ich gekommen, nachdem ich die Westbank zum ersten Mal besucht habe."

Sie erklärt, daß ihr Leben sich völlig verändert hat, als sie wieder in der Schule war. "Ich habe [im Unterricht] immer wieder den gleichen Text gehört: daß wir uns selbst verteidigen müssen, daß wir zur Armee gehen müssen. Ich konnte das nicht mehr glauben, weil ich gesehen hatte, was die Soldaten vor Ort tun. Ich habe mich mit anderen Aktivisten zusammengeschlossen, und wir fingen an darüber nachzudenken, wie wir diesen schwierigen Schritt machen könnten, und wir haben beschlossen, bei der gleichen Tradition zu bleiben, die vor uns begonnen hatte. Wir setzten einen Brief an die Regierung auf, der besagte, daß wir uns an den schrecklichen Verbrechen, die Israel in unserem Namen verübt, nicht beteiligen würden. Danach ging jeder von uns, einer nach dem anderen, ins Gefängnis."

Mishly wurde zu einer Woche Haft in der Militärbasis verurteilt, weil es in den regulären Gefängissen "keinen Platz" gab (während der Dezember/Januar-Angriffe auf Gaza wurden Hunderte palästinensische Bürger Israels, die an Protesten teilnahmen, zusammengetrieben und unter dem Vorwurf des Verrats und der Aufwiegelung in israelische Gefängnisse gesteckt). Nach der Verhandlung entschied einer der hochrangigsten Militärrichter Israels, daß man Mishly erneut vor Gericht stellen könne, und sie erhielt weitere 20 Tage. "Wenn man beschließt, nicht zum Militär zu gehen, weiß man nicht wo [die Strafe] enden wird", sagt sie.

Unterdessen - während US-Präsident Obama eine neue "Welle von Soldaten" zur Verstärkung der nicht endenden amerikanischen Okkupation Afghanistans in Stellung bringt - treffen sich Wind und Mishly mit US-Kriegsdienstverweigerern, um, wie Wind sagt, die internationale Ablehnung des Militarismus weiter zu entwickeln. "Ich denke, das war der Grund für Netta und mich, in die USA zu kommen. Es geht nicht nur um die israelische Okkupation. Es ist nicht nur eine israelische Frage. Die USA besetzen. Und es gibt jede Form von Rassismus, Vorurteilen und Gewalt ... das sind keine spezifischen Erscheinungen des Nahen Ostens, das gibt es auch in den USA. Gegenüber Immigranten, Mexikanern, gegenüber dem Irak und Afghanistan. Ich denke, wir versuchen zu zeigen, daß es sich bei alldem um weltweite Phänomene handelt und daß wir alle eine breitere Bewegung für Gerechtigkeit gründen müssen."

Sarah Lazare von der Unterstützerorganisation für GI-Verweigerer "Courage to Resist" [3] in der Bay Area erzählt, daß sie hilft, eine bevorstehende Delegation von US-Kriegsdienstverweigerern nach Palästina-Israel zu organisieren, die mit israelischen Refuseniks in Verbindung treten werden. Die Gruppe nennt sich selbst "Dialog gegen Militarismus" und beabsichtigt, im Kampf gegen die Folgen des Militarismus in ihrer jeweiligen Gesellschaft ähnliche Erfahrungen zu diskutieren und von den jeweils genutzten Strategien gegen Krieg und Besatzung zu lernen.

"Daß Kriegsdienstverweigerer in Israel sich mit Kriegsdienstverweigerern in den USA verbünden, hat eine extreme Durchschlagskraft", erklärt Lazare. "Bei der engen Verwandtschaft zwischen dem sogenannten 'Antiterrorkrieg' und der israelischen Okkupation ist es von ausschlaggebender Bedeutung für die Verweigerer in diesen beiden Ländern, ihre Kräfte zu vereinen, um eine Bewegung aufzubauen, die stark genug ist, es mit den Kräften, gegen die wir uns stellen, aufzunehmen. Israelische und US-Kriegsdienstverweigerer führen aufgeregte Diskussionen, teilen ihre Erfahrungen und zeigen einander direkte Solidarität, und ich halte das für einen mächtigen Schritt in Richtung Beendigung der von den USA und Israel betriebenen Eroberungen."

Im Januar legte Maya Wind bei der Urteilsverkündung öffentlich ihren Gewissensstandpunkt vor dem Militärgericht dar: "Wir können unsere Armee nicht länger eine 'Verteidigungsarmee' nennen," bekundete sie.

"Eine Verteidigungsarmee erobert nicht das Land eines anderen Volkes. Eine Verteidigungsarmee hilft nicht beim Bau von Siedlungen auf diesem Land. Eine Verteidigungsarmee läßt weder zu, daß Siedler mit Steinen auf palästinensische Zivilisten werfen noch hindert sie diese daran, ihr Land und die Grundlage für ihren Lebensunterhalt zu erreichen. Nichts davon sind die Taten einer Verteidigungsarmee.

Die Besetzung hat keinen Verteidigungsnutzen. Im Gegenteil, die sinnlose Fremdherrschaft über Millionen Menschen führt nur zu einer Radikalisierung der Standpunkte, zu Haß und Eskalation von Gewalt. Gewalt ist ein Teufelskreis, der sich selbst antreibt. Dieser Kreislauf wird nicht aufhören bis jemand aufsteht und sich kompromißlos weigert, daran teilzuhaben. Und genau das tue ich heute."

Einige andere Shministim bereiten sich auf eine ähnliche Gesprächsrundreise im Oktober in Südafrika [3] vor.


Nora Barrows-Friedman ist Produktionsleiterin und Co-Moderatorin der "Flashpoints" - einer täglichen, investigativen Nachrichtensendung - von Pacifica Radio und lebt in Oakland, Kalifornien. Sie reist mehrmals im Jahr ins besetzte Palästina, um dort - mit Standort im Kulturzentrum Ibdaa [5] im Flüchtlingslager Dheisheh in der Nähe von Bethlehem - zu arbeiten, zu unterrichten und die Lage zu dokumentieren. Darüber hinaus arbeitet sie als freischaffende Journalistin für den Inter Press Service. Sie ist unter norabf AT gmail DOT com. zu erreichen. Ihre Website ist http://norabf.wordpress.com[6]

weitere Links
www.WhyWeRefuse.org
www.NewProfile.org
www.shministim.com


[1] San Francisco Bay Area: Großraum rund um die Bucht von San Francisco
[2] "False promise of integration for Palestinian soldiers in Israel."
    http://electronicintifada.net/v2/article10800.shtml
    (Falsches Integrationsversprechen für palästinensische Soldaten in Israel)
[3] "Mut zum Widerstand" - http://www.couragetoresist.org/x/
[4] www.shministim.com - vom 2.-12. Oktober 2009
[5] Ibdaa, aus dem Arabischen: "aus nichts etwas erschaffen" - "Graswurzel"-Initiative im seit
    60 Jahren bestehenden Flüchtlingslager Dheisheh. Das Kultur- und Bildungszentrum Ibdaa wurde 1994
    im wesentlichen zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Frauen gegründet - www.ibdaa194.org
[6] siehe auch http://flashpoints.net
[7] Kommentare in runden Klammern und Einfügungen in eckigen Klammern sind von der Autorin

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Die Refuseniks Maya Wind und Netta Mishly. (whywerefuse.org)

Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext:
http://electronicintifada.net/v2/article10816.shtml
© Nora Barrows-Friedman


The Electronic Intifada (EI), unter electronicIntifada.net, veröffentlicht Nachrichten, Kommentare, Analysen und Grundlagenmaterialien über den israelisch-palästinensischen Konflikt aus einer palästinensischen Perspektive. EI ist das führende palästinensische Portal für den israelisch-palästinensischen Konflikt und seine Darstellung in den Medien.


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Quelle:
The Electronic Intifada, 06.10.2009
MECCS/EI Project
1507 E. 53rd Street, #500
Chicago, IL 60615, USA
Fax: 001-(646) 403-3965
E-Mail: info@electronicIntifada.net
Internet: http://electronicintifada.net

übersetzt vom und veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2009