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NAHOST/678: Neue türkische Außenpolitik - Abkehr von Europa? (NG/FH)



Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

Neue türkische Außenpolitik - Abkehr von Europa?

Von Rana Deep Islam

Seit einigen Jahren demonstriert die Türkei ein neugewonnenes Selbstbewusstsein in ihrem Verhältnis gegenüber ihren muslimischen Nachbarstaaten. Damit vollzieht das Land einen Rollenwandel vom Bittsteller, der sich nach einer EU-Mitgliedschaft sehnt, zu einer regionalen Mittelmacht, die sich ihres strategischen Mehrwerts für die Europäische Union bewusst ist.


Zur vergangenen Jahrhundertwende sahen die Befürworter einer türkischen EU-Mitgliedschaft das Momentum auf ihrer Seite. 1999 hatte der Europäische Rat das Land am Bosporus offiziell zu einem Beitrittskandidaten erklärt. Fünf Jahre später wurden die von der Türkei so lange ersehnten Aufnahmegespräche initiiert. Eine vollwertige Integration der Türkei in die Europäische Union schien zum ersten Mal in der Geschichte der beiderseitigen Beziehungen mittelfristig realisierbar. Doch damit weit gefehlt. Denn seit geraumer Zeit befindet sich der Aufnahmeprozess in einer politischen Sackgasse. Der erlahmte Reformeifer der Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Weigerung der Türkei, ihre Häfen für zypriotische Frachter zu öffnen. Die Europäische Kommission sieht darin die Ungleichbehandlung eines EU-Mitgliedsstaates und hat daher die Fortführung der Beitrittsverhandlungen teilweise auf Eis gelegt. Außerdem darf nicht vergessen werden: Eine mögliche Aufnahme der Türkei muss von allen Staats- und Regierungschefs der EU befürwortet werden. Eine einzige Gegenstimme würde ausreichen, das ganze Projekt zum Kippen zu bringen. Erachtet man die offen vorgetragene Ablehnung politischer Schwergewichte, wie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, sowie die starken Ressentiments in Ländern wie Zypern und Österreich, darf zum jetzigen Stand offen bezweifelt werden, ob dem Aufnahmeprozess der Türkei ein positives Ende beschieden sein wird.

Auch den türkischen Entscheidungsträgern bleiben diese Stolpersteine auf ihrem Weg nach Europa nicht verborgen. Bezeichnenderweise verfolgt die Regierung in Ankara seit geraumer Zeit eine außenpolitische Neuausrichtung, die strategisch und konzeptionell vor allen Dingen auf den früheren Professor für Politikwissenschaften und derzeitigen Außenamtschef Ahmet Davutoglu zurückgeht. Die vollwertige Integration des Landes in die Europäische Union bleibt demnach auch weiterhin das oberste Gebot türkischer Außenpolitik. Jedoch definiert sich die Türkei nicht mehr als Staat am Rande der europäischen Hemisphäre, sondern vielmehr als Zentrum einer eurasischen Landmasse, die nicht nur den europäischen Kontinent, sondern auch das Kaspische Meer, Zentralasien sowie den Nahen Osten mit einschließt. Politikbeobachter sprechen an dieser Stelle von der türkischen "Null-Problem-Politik". Denn während in der Vergangenheit die Beziehungen der Türkei zu zahlreichen ihrer Nachbarstaaten durch Argwohn und gegenseitiges Misstrauen geprägt waren, versuchen Ankaras Entscheidungsträger neuerdings, solche regionalen Spannungen zu entschärfen und ihr Land gleichzeitig als Mittelmacht zu profilieren, die sich aktiv an der Lösung der umliegenden Krisenherde beteiligt. Diese geopolitische Verschiebung lässt sich gut an der türkischen Nahostpolitik ablesen. Ideologische Differenzen, welche eine Zusammenarbeit mit den arabisch-islamischen Nachbarstaaten bisher verhindert haben, wurden reduziert und durch eine pragmatisch-rationale Politik ersetzt.

So war das türkische Verhältnis zu den Machthabern in Damaskus über Jahrzehnte weitreichenden Spannungen ausgesetzt. Grund dafür boten zahlreiche Meinungsverschiedenheiten. Der territoriale Status der türkischen Provinz Hatay, auf die auch die syrische Regierung Ansprüche erhob, war dabei genauso umstritten wie die Nutzung der Wasservorkommen aus dem Euphrat-Tigris-Talbecken. Über alledem schwebte der Vorwurf Ankaras, dass syrische Sicherheitsbehörden die in der Türkei verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützen würden. Eine kriegerische Auseinandersetzung der beiden Länder konnte 1999 nur aufgrund der diplomatischen Initiative der USA im letzten Moment abgewendet werden. Was sich in der Folgezeit abspielte, grenzt nahezu an ein Musterbeispiel zwischenstaatlicher Krisenbewältigung, denn heute erweisen sich die türkisch-syrischen Beziehungen als überaus funktionstüchtig. Die politischen Scharmützel der Vergangenheit konnten erfolgreich beigelegt werden. Stattdessen prägen nun gemeinsame Wirtschaftsprojekte die Agenda. Das Freihandelsabkommen von 2004 sowie die Vereinbarung beider Staaten, ihren Bürgern den visafreien Verkehr zu ermöglichen, haben das gemeinsame Handelsvolumen in die Höhe schnellen lassen. Flankiert wurde der bilaterale Neuanfang von gegenseitigen Staatsbesuchen sowie vertrauensbildenden Maßnahmen, wie der Durchführung gemeinsamer Militärübungen oder dem Austausch von Armeeangehörigen.

Auch im Falle des Iran lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Die säkulare Staatsverfassung der mehrheitlich muslimischen Türkei sowie ihre traditionell guten Beziehungen zu Israel waren der theokratischen Elite in Teheran lange Zeit ein Dorn im Auge. Um die islamische Revolution auch außerhalb des Iran zu verbreiten, unterstützte das Land seit den 80er Jahren auf türkischem Gebiet operierende fundamentalistische Gruppierungen, was die gegenseitigen Beziehungen regelmäßig belastete. Obwohl sich an den konstitutionellen Zuständen beider Länder qualitativ nicht wirklich etwas Nennenswertes verändert hat, treten in jüngster Zeit alteingesessene Vorurteile zu Gunsten einer pragmatisch orientierten Politik in den Hintergrund. Der in der Region wachsende kurdische Nationalismus bereitet den Boden für die sicherheitspolitische Kooperation zwischen der Türkei und ihrem persischen Nachbarn, die sich vor allen Dingen gegen die grenzüberschreitend agierende PKK richtet. Gleichzeitig kommen neuerdings handfeste Wirtschaftsinteressen zum beidseitigen Verhältnis hinzu. Der Iran ist für das Land am Bosporus mittlerweile der zweitwichtigste Gaslieferant (hinter Russland), während sich türkische Konsortien in zunehmendem Maße an Förderkonzessionen iranischer Rohstoffe erfreuen dürfen. Auch die türkischen Direktinvestitionen nehmen heutzutage einen Spitzenplatz in der iranischen Handelsbilanz ein.


Wohin steuert die Türkei?

Das türkische Verhältnis gegenüber Iran und Syrien veranschaulicht beispielhaft das neugewonnene Selbstbewusstsein, mit dem die Türkei als Akteur in ihrer nahöstlichen Nachbarschaft auftritt. Nicht wenige europäische Politikbeobachter erkennen darin eine Abkehr des Landes von Europa. Der aktuelle Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission zu den laufenden EU-Aufnahmeverhandlungen wurde von der türkischen Regierung lediglich zur Kenntnis genommen, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken. Gleichzeitig wird der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad, in vielen Ländern Europas eine persona non grata, von Ministerpräsident Erdogan zum Freund der Türken und der syrische Nachbar kurzerhand zum musilimischen Bruderstaat erklärt. Solche Äußerungen stoßen die politische Klasse in der EU und ihre Mitgliedsstaaten vor den Kopf und tragen nicht dazu bei, kulturelle Vorurteile über die Andersartigkeit der Türkei zu entkräften. Dennoch wäre es irreführend, in dieser neuen Tonlage und der damit einhergehenden Neujustierung türkischer Außenpolitik ein Ausschlusskriterium für Ankaras Teilhabe am europäischen Integrationsprojekt herauszulesen.

Türkische Entscheidungsträger werden nicht müde zu betonen, dass das Ziel einer EU-Mitgliedschaft allen Hindernissen zum Trotz Maßstab ihres politischen Handelns bleiben wird. Doch gerade in einer Zeit, in der sich ihr Verhältnis zu Europa als nicht sehr dynamisch erweist, darf man es dem Land am Bosporus nicht verdenken, wenn es geopolitische Alternativen auslotet und Nachbarschaftspflege betreibt. Unabhängig davon soll nicht vergessen werden, unter welchen politischen Umständen die EU-Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei einst begonnen wurden: Zu Beginn des neuen Jahrhunderts suchten Europas Spitzenpolitiker nach Antworten auf den sich ausbreitenden islamischen Fundamentalismus, der erst kurz zuvor auch in den entferntesten Winkeln der Welt durch das Zusammenstürzen des New Yorker World Trade Centers seiner Bedrohlichkeit eine neue Dimension gegeben hat. Die Türkei wurde vor diesem Hintergrund zu einer "Brücke in die islamische Welt" ernannt. Das Land beweise schließlich, dass eine muslimische Gesellschaft sehr wohl in der Lage ist, sich einen modernen Wertekanon anzueignen, der Rechtsstaatlichkeit, demokratische Institutionen und die Achtung vor den elementaren Grund- und Menschenrechten in sich trägt. Damit liefere die Türkei einen positivistischen Kontrapunkt, der für andere muslimische Länder durchaus eine Modellfunktion entfalten könne. Europäische Politiker wären folglich gut beraten, das Land eine solche Rolle auch mit Leben ausfüllen zu lassen. Denn indem die Türkei ihr ehemals rivalisierendes Verhältnis zu zahlreichen ihrer nahöstlichen Nachbarn entspannt und durch einen neuen Geist der Zusammenarbeit ersetzt, entspricht sie genau jenem strategischen Kalkül, dass sich Brüsseler Entscheidungsträger von ihr versprochen haben. Dass sich eine solche Politik für die Europäische Union auszahlen kann, zeigen die Entwicklungen der letzten Zeit. So belebte die türkische Regierung die festgefahrenen Verhandlungen zwischen Tel Aviv und Damaskus über eine Rückgabe der von Israel besetzten Golanhöhen. In den Atomverhandlungen der westlichen Staatengemeinschaft mit dem Iran agiert die Türkei als ehrlicher Makler und entspannt somit die verhärteten Fronten zwischen den Vertragsparteien. Und auch im Rahmen der Organisation of the Islamic Conference (OIC), welche insgesamt 57 muslimische Staaten repräsentiert, hat die Türkei jüngst ihr Engagement ausgeweitet und bringt dabei regelmäßig die Notwendigkeit demokratischer Reformen in der islamischen Welt zur Sprache. Mit all diesen Initiativen agiert die Türkei in Übereinstimmung mit den Interessenschwerpunkten der europäischen Nahostpolitik. In letzter Konsequenz tritt dabei ebenso zu Tage, dass eine türkische Abkehr von Europa weder beabsichtigt ist, noch eintreten wird. Ganz im Gegenteil kann das neue außenpolitische Auftreten des Landes dazu beitragen, dem Bedürfnis der Europäischen Union nach einer verantwortungsvollen Rolle gegenüber der muslimischen Welt endlich die notwendige Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Rana Deep Islam (* 1982) studierte Internationale Beziehungen und Diplomatie am College of Europe in Brügge. Zur Zeit ist er Fellow am Düsseldorfer Institut für Außen- und Sicherheitspolitik und promoviert über die sicherheitspolitischen Aspekte eines türkischen EU-Beitritts.
rdislam@gmail.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 26-28
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2010