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NAHOST/817: Ein unabhängiges Heimatland oder ein verkapptes Bantustan? (EI)


The Electronic Intifada - 4. Mai 2011 - Opinion/Editorial

Ein unabhängiges Heimatland oder ein verkapptes Bantustan?

Von Haidar Eid


Die geplante "Unabhängigkeitserklärung" gibt dem palästinensischen Volk eine Fata Morgana

Die künstlich erzeugte Euphorie, die in den Mainstream-Medien die Diskussionen über die bevorstehende Erklärung eines unabhängigen palästinensischen Staates im September charakterisiert, ignoriert die harten Tatsachen vor Ort und die Warnungen kritischer Kommentatoren. Eine solche Erklärung als "Durchbruch" und als eine "Kampfansage" an den versiegten "Friedensprozeß" und die rechtsgerichtete israelische Regierung zu bezeichnen, dient der Verschleierung der fortwährenden israelischen Verweigerung palästinensischer Rechte und verstärkt im gleichen Zuge die stillschweigende Akzeptanz eines Apartheidstaates im Nahen Osten durch die internationale Gemeinschaft.

Der Vorstoß für die Anerkennung wird angeführt von Salam Fayyad, dem amtierenden Ministerpräsidenten der in Ramallah sitzenden Palästinensischen Autonomiebehörde. Er gründet auf der von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in den 1970er Jahren getroffenen Entscheidung, das flexiblere Programm einer "Zweistaaten-Lösung" zu verfolgen. Dieses Programm konstatiert, daß die palästinensische Frage, der Kern des arabisch-israelischen Konflikts, durch die Gründung eines "unabhängigen Staates" in der besetzten Westbank und im Gazastreifen, mit Ostjerusalem als Hauptstadt, einer Lösung zugeführt werden kann. Diesem Programm zufolge sollen die palästinensischen Flüchtlinge in den Staat "Palästina" zurückkehren, nicht jedoch an ihre Heimatorte in Israel, das sich selbst als "der Staat der Juden" definiert. "Unabhängigkeit" jedoch nimmt weder Bezug auf diese Frage, noch schenkt das den Forderungen der 1,2 Millionen palästinensischen Bürger Israels Beachtung, den Kampf in eine Anti-Apartheid-Bewegung umzuwandeln, weil sie als Bürger dritter Klasse behandelt werden.

Das alles soll nach dem Rückzug der israelischen Streitkräfte aus der Westbank und aus Gaza umgesetzt werden. Oder kommt es wieder lediglich zu einer Truppenverschiebung, wie in der Oslo-Ära zu erleben war? Ungeachtet dessen behaupten Verfechter dieser Vorgehensweise, Unabhängigkeit garantiere, daß Israel die Palästinenser in Gaza und in der Westbank als ein Volk behandeln werde und daß die palästinensische Frage internationalem Recht gemäß gelöst und auf diese Weise die politischen und nationalen Mindestrechte des palästinensischen Volkes gewährleistet würden. Vergessen Sie mal eben die Tatsache, daß Israel eine Zahl von 573 permanenten Sperren und Kontrollpunkten in der besetzten Westbank unterhält sowie weitere "wandernde" Kontrollpunkte ("Promoting employment and entrepreneurship ...," Welternährungsorganisation FAO 2010)[1]. Und vielleicht ziehen Sie es dann auch vor, die Tatsache zu ignorieren, daß mit den bestehenden ausschließlich-jüdischen Siedlungen und Straßen sowie weiterer israelischer Infrastruktur ganz real über 54 Prozent der Westbank annektiert wurden.

Auf der Konferenz von Madrid im Jahr 1991 akzeptierte die Falken-Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Jitzak Schamir nicht einmal des palästinensische "Recht" auf Verwaltungsautonomie. Wie auch immer, als die "taubenhafte" Meretz-Labor-Regierung kam, die von Jitzak Rabin und Schimon Peres angeführt wurde, führte die PLO- Führung in Norwegen Verhandlungen hinter den Kulissen. Durch die Unterschrift unter die Oslo-Verträge wurde Israel der schweren Last, Gaza und die sieben überfüllten Westbank-Städte zu verwalten, entledigt. Die erste Intifada wurde durch eine offizielle - und geheime - PLO-Entscheidung beendet, ohne ihre nationalen Zwischenziele, namentlich "Freiheit und Unabhängigkeit", zu erreichen und ohne die Zustimmung des Volkes, das angeblich von der Organisation vertreten wird.

Genau die gleiche Vorstellung von "Unabhängigkeit" war einst von der PLO abgelehnt worden, weil sie nicht einmal das "Minimum" der den Palästinensern "zustehenden Rechte" aufgriff und weil sie im Widerspruch zum palästinensischen Freiheitskampf stand. An Stelle dieser Rechte kommt ein Staat zum Vorschlag, der nur dem Namen nach einer ist. Mit anderen Worten, die Palästinenser müssen die vollständige Autonomie auf einem Bruchteil ihres Landes akzeptieren, ohne je an Souveränität oder die Kontrolle über die Grenzen, über die Wasserressourcen und - was am wichtigsten von allem ist - ohne an eine Rückkehr der Flüchtlinge denken zu dürfen. Das war die in Oslo getroffene Vereinbarung, und so ist auch die beabsichtigte "Unabhängigkeitserklärung". Es ist dann kein Wunder, daß der israelische Ministerpräsident Benjamin Natanjahu deutlich macht, daß er einem palästinensischen Staat auf dem Verhandlungswege zustimmen könnte.

Diese Erklärung verspricht auch keineswegs, mit dem UN-Teilungsplan von 1947 übereinzustimmen, der den Palästinensern nur 47 Prozent des historischen Palästina zubilligte, obwohl sie zwei Drittel der Bevölkerung ausmachten. Einmal ausgerufen, wird der künftige "unabhängige" Palästinenserstaat weniger als 20 Prozent des historischen Palästina umfassen. Dadurch, daß man ein "Bantustan" kreiert und es als "lebensfähigen Staat" bezeichnet, kann Israel sich der Last von 3,5 Millionen Palästinensern entledigen. Die Palästinensische Autonomiebehörde wird über die größtmögliche Zahl von Palästinensern auf der geringstmöglichen Anzahl von Landfragmenten herrschen - Fragmenten, die wir als "Der Staat Palästina" bezeichnen können. Diesen Staat werden Dutzende Länder anerkennen - die Stammesfürsten der berüchtigten südafrikanischen Bantustans müssen sehr neidisch darauf sein!

Man kann lediglich annehmen, daß die vieldiskutierte und gefeierte "Unabhängigkeit" die gleiche Rolle, die die Palästinensische Autonomiebehörde unter dem Oslo-Abkommen gespielt hat, nur verstärken wird: nämlich Polizei- und Sicherheitsmaßnahmen zu installieren, die darauf abzielen, die palästinensischen Widerstandsgruppen zu entwaffnen. Das waren die ersten Forderungen, die an die Palästinenser 1993 in Oslo, 2000 in Camp David, 2007 in Annapolis und im letzten Jahr in Washington gestellt wurden. Unterdessen werden Israel im Rahmen dieser Verhandlungen und Forderungen keine Zugeständnisse oder Verpflichtungen abverlangt.

Gerade so wie die Oslo-Verträge für den populären, gewaltfreien Widerstand der Ersten Intifada das Ende bedeuteten, hat diese Unabhängigkeitserklärung ein ähnliches Ziel: nämlich die wachsende internationale Unterstützung für die palästinensische Sache seit dem blutigen Winterüberfall Israels auf Gaza 2008-2009 und seinem Überfall auf die Gaza-Flottille im letzten Mai zu beenden. Dennoch gelingt es ihr nicht, den Palästinensern ein Minimum an Schutz und Sicherheit vor künftigen Überfällen und Greueltaten Israels zu gewährleisten. Die Invasion und die Belagerung Gazas war ein Produkt von Oslo. Vor der Unterzeichnung der Oslo-Verträge setzte Israel nie sein volles Arsenal an F-16, Phosphorbomben und DIME-Waffen ein, um Flüchtlingslager im Gazastreifen und in der Westbank anzugreifen. Über 1.200 Palästinenser wurden 1987-1993 während der Ersten Intifada getötet. Israel löschte das Leben genauso vieler Menschen bei seiner dreiwöchigen Invasion 2009; es gelang ihm, mehr als 1.400 allein in Gaza brutal zu ermorden. Das schließt die Opfer der israelischen Blockade seit 2006, die durch die Grenzschließungen und wiederholten israelischen Angriffe vor und nach der Invasion Gazas gekennzeichnet ist, noch nicht ein.

Letztendlich gibt diese geplante "Unabhängigkeitserklärung" dem palästinensischen Volk eine Fata Morgana, ein "unabhängiges Heimatland", das nichts anderes ist als ein verkapptes Bantustan. Auch, wenn sie von so vielen wohlgesonnenen Staaten anerkannt wird, erreicht sie nicht das Ziel, den Palästinensern Unabhängigkeit und Freiheit zu verschaffen. Eine kritische Debatte - im Gegensatz zu einer vorurteilsgeladenen und demagogischen - erfordert den genauen Blick auf Geschichtsverfälschungen durch ideologische Verdrehungen. Statt 17 Jahre nach dem Fall der Apartheid in Südafrika ein neues Bantustan anzuerkennen, ist es notwendig, eine historische, menschliche Vision der palästinensischen und der jüdischen Frage zu entwickeln - eine Vision, die niemals die Rechte eines Volkes in Abrede stellt und damit vollkommene Gleichheit garantiert und Apartheid beendet.

Haidar Eid ist außerordentlicher Professor für postkoloniale und postmoderne Literatur an der Al-Aksa-Universität in Gaza und als politischer Berater beim 'Palestinian Policy Network' Al-Shabaka [2] tätig, von dem dieser Essay erstveröffentlicht wurde.

[1]
http://issuu.com/stevebutton/docs/i1450e00
[2] http://al-shabaka.org/


Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

Dieser Essay wurde von der Schattenblick-Redaktion mit freundlicher Genehmigung des 'Palestinian Policy Network' Al-Shabaka aus dem Englischen ins Deutsche übertragen und veröffentlicht.

Link zum englischen Originaltext:
http://electronicintifada.net/content/independent-homeland-or-bantustan-disguise/9905
bzw. http://al-shabaka.org/declaring-independent-bantustan (Erstveröffentlichung am 24. April 2011)
© Haidar Eid/Al-Shabaka

[1] ("Förderung von Beschäftigung und Unternehmertum...," Welternährungsorganisation, 2010).


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Quelle:
The Electronic Intifada, 4. Mai 2011
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Internet: http://electronicintifada.net
mit freundlicher Genehmigung
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2011