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NAHOST/865: Kommt jetzt ein arabischer Sommer? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 9/2011

Kommt jetzt ein arabischer Sommer?
Vor allem der Weg zur Religionsfreiheit ist noch weit

Von Otmar Oehring


Noch kann niemand sicher sagen, wie es weitergeht mit den revolutionären Umbrüchen in der arabischen Welt. Werden säkulare oder islamistische Staaten entstehen? Das Beispiel Marokkos, Tunesiens, Ägyptens und Syriens zeigt, wie schwierig es ist, Voraussetzungen zu schaffen, die Religionsfreiheit überhaupt erst möglich machen.


Der Frühling hat in diesem Jahr früh begonnen in der arabischen Welt, es war auch kein normaler Frühling. Und ob aus dem hoffnungsvollen Frühling ein warmer Sommer, ein goldener Herbst wird oder doch nur ein kalter Winter, ist noch nicht wirklich abzusehen. Was hoffnungsvoll begann, ist mittlerweile mit vielen Fragezeichen versehen.

Die, die den arabischen Frühling ausgelöst haben, fühlen sich an den Rand gedrängt. Islamistische Gruppierungen, die in der Vergangenheit von den Diktatoren (und auch von den Kirchen) als Begründung für die "notwendige" Unterdrückung genannt wurden, organisieren sich allerorten in neuen politischen Parteien - oft gleich in mehreren. Auch wenn sie allerorten vorgeben, nicht die Macht übernehmen zu wollen, beispielsweise auch keine Präsidentschaftskandidaten aufstellen zu wollen und gar für einen säkularen Staat einzutreten, trauen ihnen doch viele nicht über den Weg.

Warum kam es überhaupt zu den revolutionären Umbrüchen in der arabischen Welt, und was wollten die Protagonisten des arabischen Frühlings damit erreichen? Im Westen wird auf die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie hingewiesen. Freiheit sicher! Vor allem ging es den Protagonisten aber um Zukunftsperspektiven: um ein besseres Leben, um Arbeit, um Einkommen, die Möglichkeit, eine Wohnung zu mieten oder zu kaufen, zu heiraten und eine Familie gründen zu können, eben um eine einschätzbare und akzeptable Zukunft.

Und dann natürlich auch um Demokratie: Wobei man sicher davon ausgehen muss, dass die Bevölkerungsmehrheit in den arabisch-islamischen Ländern, in denen wir gerade revolutionäre Umbrüche beobachten - und das sind nicht nur Tunesien, Ägypten oder der Jemen - keine wirkliche Vorstellung von dem hat, was unter Freiheit und Demokratie, wie wir sie begreifen, zu verstehen ist.

Genauso kann man gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass auch mancher Politiker oder Kirchenmann im Westen keine genaue Vorstellung von dem hat, was da gerade in der arabischen Welt vor sich geht, vor allem von dem, was man in der Folge erwarten kann. Das gilt insbesondere dann, wenn Religionsfreiheit in diesen Ländern gefordert wird. Natürlich ist diese Forderung grundsätzlich richtig, nicht zuletzt auch, weil alle betroffenen Länder den "Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte" (IPbpR) unterzeichnet und ratifiziert haben, dessen Artikel 18 Religionsfreiheit postuliert.

Religionsfreiheit im Sinne des Art.18 IPbpR ist das Recht, eine Religion oder eine Weltanschauung zu haben oder auch nicht zu haben, anzunehmen oder zu wechseln und die entsprechende Religion beziehungsweise Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft zu bekunden (Art.18,1). Bei der Wahl oder dem Wechsel einer Religion oder Weltanschauung darf niemand einem Zwang ausgesetzt werden (Art.18,2). Die Bekundung einer Religion oder Weltanschauung darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind (Art.18,3). Die Freiheit der Eltern beziehungsweise des Vormunds oder Pflegers, die religiöse und sittliche Erziehung der Kinder in Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen sicherzustellen, ist garantiert (Art.18,4).

Man muss allerdings bezweifeln, dass Religionsfreiheit im Sinne des Art.18 IPbpR das vorrangige Ziel der Protagonisten des arabischen Frühlings ist. Tatsächlich treten viele von ihnen für den säkularen Staat ein, wollen die Trennung von Religion und Staat verwirklicht sehen, wobei sie damit aber zuallererst danach trachten, die Übermacht des Islam in allen Sphären des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu beenden. Es ist aber zweifelhaft, wie viel Einfluss die Protagonisten des arabischen Frühlings noch auf den weiteren Fortgang dieses Frühlings haben. Und so bleibt auch unklar, welchen Stellenwert der Einsatz für einen säkularen Staat, für eine Trennung von Religion und Staat noch hat.


Gradmesser für Religionsfreiheit sind die Themen Glaubensabfall und Konversion

Marokko ist zwar nicht das Land, in dem der arabische Frühling begann, aber eines, in dem es schon seit Jahren gärte. Das veranlasste den König schlussendlich, eine neue Verfassung in Aussicht zu stellen. Mittlerweile ist diese neue Verfassung dem Volk in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt und mit überwältigender Mehrheit angenommen worden. Ganz wesentliche Änderungen der Verfassung betreffen einen teilweisen Machtverzicht des Königs zugunsten des Parlaments. Der König war bis dato nicht nur allmächtig, er ist dank seiner Position als Oberhaupt der (muslimischen) Glaubenden gleichfalls sakrosankt. Auch wenn es im Vorfeld des Verfassungsreferendums in der Presse eine Diskussion über die künftige Rolle des Königs gab, wobei durchaus auch über einen Umbau Marokkos zu einem säkularen oder gar laizistischen Staat nachgedacht wurde, war solches doch kaum zu erwarten. Wie sollte ein König, dem die Wahrung des Islam gleichsam innewohnt, eine der Grundfesten des Islam - die Einheit von Staat und Religion - nicht nur in Frage stellen, sondern auch noch dem Laizismus opfern?


Ein Blick in die alte Verfassung des Königreichs Marokko vom 10. Oktober 1996 und die neue Verfassung vom 1. Juli 2011 macht deutlich, dass sich im Hinblick auf die Frage der Religionsfreiheit in Marokko nicht nur keine grundlegenden, sondern überhaupt keine Änderungen ergeben haben.

So war das "Königreich Marokko" nach der Verfassung von 1996 ein "souveräner muslimischer Staat" (Präambel), dessen Staatsreligion der Islam ist, und "der allen die freie Religionsausübung gewährleistet" (Artikel 6). Ferner hieß es dort: "Der König, Amir Al Mouminine (Oberhaupt der Gläubigen), (...) ist der Hüter des Islams und der Verfassung. Er ist der Schutzherr der Rechte und Freiheiten der Bürger, der Gesellschaftsgruppen und der Gemeinschaften."

In der Verfassung vom 1. Juli 2011 wird das Königreich Marokko jetzt als "souveräner muslimischer Staat" beschrieben, dessen "Einheit geprägt ist durch das Zusammenspiel seiner arabisch-islamischen (....) Komponenten" und "sich durch (...) hebräische (...) Einflüsse genährt und bereichert hat." Weiter heißt es in der Präambel (Absatz 4) der neuen Verfassung, dass "die Vorrangstellung, die der muslimischen Religion in diesem nationalen Bezugssystem (= der Verfassung) eingeräumt wird, einhergeht mit der Verbundenheit des marokkanischen Volkes gegenüber den Werten der Offenheit, des Ausgleichs, der Toleranz und des Dialogs, zum gegenseitigen Verständnis zwischen allen Kulturen und Zivilisationen der Welt." Artikel 3 dieser Verfassung hält fest: "Der Islam ist die Staatsreligion, der allen die freie Religionsausübung gewährleistet." In Artikel 41 der Verfassung von 2011 schließlich heißt es, "der König, Amir Al Mouminine (Oberhaupt der Gläubigen), ist der Hüter des Islams. Er ist der Garant der freien Ausübung jedweden Kults."

Neu aufgenommen in die Verfassung des Königreichs Marokko wurde der explizite Hinweis auf die dem Islam eingeräumte Vormachtstellung, die natürlich bislang faktisch auch schon gegeben war. Aufgenommen in die Verfassung wurde ferner ein Hinweis auf die kulturelle Vielfalt des Landes, wobei im Hinblick auf den Themenkomplex Religionsfreiheit der Hinweis auf hebräische Einflüsse - also auf den Beitrag der Juden - von Bedeutung ist, gleichwohl er praktisch folgenlos bleibt.


Ein wichtiger Gradmesser für Religionsfreiheit ist dabei immer der Themenkomplex Apostasie/Konversion, ein bezogen auf die Staaten und Gesellschaften der islamischen Welt äußerst heikles Thema. Das galt und gilt auch für Marokko.

In Artikel 2 IPbpR heißt es: "Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde." Daraus ergibt sich, dass jedermann das Recht hat, seine Religion/Weltanschauung frei zu wählen - auch keine Religion zu haben - und von einer Religion zu einer anderen überzutreten. Die Möglichkeit der Abwendung von einer Religion (Apostasie) beziehungsweise des Übertritts zu einem anderen Bekenntnis (Konversion) sind wichtige Indizien für Religionsfreiheit.


Die einzige Religion, die heute neben dem sunnitischen Islam in Marokko eine gewisse Rolle spielt, ist das Judentum, das allerdings nach der Staatsgründung des Staates Israel und insbesondere auch im Zusammenhang mit den Kriegen zwischen der arabischen Welt und Israel und dem sich daraus ergebenden zeitweise massiven Druck auf die marokkanischen Juden einen enormen Aderlass erlebt hat. Ungeachtet dessen spielt das Judentum in Marokko zwar eine dem Islam nachgeordnete, aber immerhin offizielle Rolle, die ihren Niederschlag nicht zuletzt auch in der Präambel der neuen marokkanischen Verfassung findet.


In der gesellschaftlichen Wahrnehmung gibt es in Marokko sunnitische Muslime sowie eine jüdische Minderheit. Ein Marokkaner kann folglich Muslim sein, gelegentlich auch Jude. Dagegen niemals Christ. Gleichwohl gibt es in Marokko marokkanische Christen, deren Vorfahren vom Islam zum Christentum konvertiert sind und die in zweiter oder dritter Generation Christen sind. Sie werden in ihrem Umfeld als Christen gesehen und auch anerkannt - im Regelfall ergeben sich für diese zahlenmäßig äußerst kleine Gruppe im Alltag keine Probleme aus ihrer Religionszugehörigkeit.

Das marokkanische Recht ist hinsichtlich des Themenkomplexes Mission, Apostasie und Konversion nicht eindeutig. Der einschlägige Artikel 220 des marokkanischen Strafgesetzbuches lautet:

"(1) Wer durch Gewalt oder Drohung eine oder mehrere Personen durch Nötigung oder Behinderung an der Ausübung ihrer kultischen Handlungen oder an der Teilnahme an solchen kultischen Handlungen hindert, wird mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren und einer Geldstrafe von 500 Dirham bestraft. (2) Mit der gleichen Strafe wird bestraft, wer Mittel der Verführung mit dem Ziel einsetzt, den Glauben eines Muslims zu erschüttern oder ihn zu einer anderen Religion zu konvertieren, sei es unter Ausnutzung seiner Schwäche oder seiner Bedürfnisse, sei es in dem er zu diesem Zwecke Einrichtungen des Bildungswesens, des Gesundheitswesens, Zufluchtsorte oder Waisenhäuser nutzt. Im Falle einer Verurteilung kann die Schließung der Einrichtung, die zur Verübung der Straftat genutzt wurde auf Dauer oder für eine Frist, die drei Jahre nicht überschreiten kann, angeordnet werden."

Daraus ergibt sich zwar eindeutig, dass derjenige, der missioniert, strafrechtlich belangt wird und Einrichtungen, die für Missionstätigkeit genutzt werden, geschlossen werden können. Die Frage, mit welchen Rechtsfolgen derjenige zu rechnen hat, der konvertiert, bleibt allerdings unbeantwortet. Wie in anderen islamischen Ländern müssen Konvertiten unter Umständen mit sozialer Ächtung im familiären und gesellschaftlichen Umfeld, beispielsweise im Beruf, rechnen, im schlimmsten Fall auch mit ernster Gefahr für Leib und Leben. Apostasie und Konversion können daher sogar, sofern sie bekannt werden, sozialem Selbstmord gleichkommen.


Droht auch in Tunesien die Islamisierung?

Tunesien, wo der arabische Frühling infolge der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi am 4. Januar 2011 begann, hat den Weg zu einer neuen Verfassung noch vor sich. Eigentlich sollte bereits am 24. Juli eine Verfassunggebende Versammlung gewählt werden. Die Wahl wurde verschoben und es ist noch nicht entschieden, wann sie tatsächlich stattfinden wird. Auf jeden Fall ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung eine große Herausforderung, nicht zuletzt, weil es gilt, das zu wahren, was bereits in den Zeiten des damaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba in den sechziger Jahren in der Verfassung und im Personenstandsrecht festgeschrieben wurde. In Artikel 1 der bisherigen Verfassung heißt es: Tunesien ist ein freier Staat, unabhängig und souverän, seine Religion ist der Islam. Auch wenn man das so lesen kann, als ob der Islam die Staatsreligion Tunesiens sei, wird der frühere Präsident Bourguiba mit dem Hinweis zitiert, das Land, nicht aber der Staat sei islamisch und entsprechend sei der zitierte Verfassungspassus zu verstehen.


In der Praxis von weitaus größerer Bedeutung sind jene Rechtsnormen, die die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz postulierten. Teile der Zivilgesellschaft und der neu etablierten Parteien setzten sich dafür ein, dass in der neuen Verfassung der säkulare Staat festgeschrieben wird und die Gleichheit von Mann und Frau garantiert bleibt. Die Islamisten - nicht nur jene von der an-Nahda-Bewegung und aus deren Umfeld - stellen sich nicht offen gegen die beschriebenen Errungenschaften der Ära Bourguiba. Kritische Beobachter wollen ihnen aber nicht abnehmen, dass sie sich nicht tatsächlich doch für eine Islamisierung des Staatswesens und möglicherweise sogar für einen islamischen Staat einsetzen werden, wenn sich ihnen dazu die Möglichkeit bietet.

Bleibt also abzuwarten, welche Parteien am Ende die Verfassunggebende Versammlung dominieren werden. Davon wird auch abhängen, ob sich in Tunesien in Sachen Religionsfreiheit etwas bewegen wird. Die Gewissensfreiheit (liberté de conscience) war auch schon bisher garantiert. Und im Diskurs der Eliten wird teilweise darunter auch die Religionsfreiheit subsumiert. Selbst Apostasie und Konversion sind dann kein Problem mehr. Tatsächlich war das schon bisher in Tunesien rechtlich gesehen der Fall: Niemand musste sich vor Gericht verantworten, weil er konvertierte. Die gesellschaftlichen Sanktionen und häufig auch die faktischen Sanktionen von Seiten der Behörden - zum Beispiel der Entzug der Lebensmittelkarten oder Ähnliches -, haben potenzielle Konvertiten aber mehr als einmal darüber nachdenken lassen, ob der beabsichtigte Schritt, das offene Bekenntnis beispielsweise zum Christentum, nicht doch ein zu großer sei.


Zuvor unterdrückte Muslimbrüder zeigen in Ägypten deutlich Präsenz

Ägypten war das zweite Land, das vom arabischen Frühling gestreift wurde (vgl. HK, Mai 2011, 242 ff.). Wie in Tunesien ging es auch hier um die Zukunftsperspektiven der überwiegend jungen und perspektivlosen Bevölkerung. Bereits in einem frühen Stadium der "Revolution" begann in Ägypten auch die Diskussion über die künftige Prägung des Staates. Zumal die zuvor massiv unterdrückte Muslimbruderschaft Präsenz zeigte, spätestens als deutlich wurde, dass die Ära Mubarak und die damit verbundene Unterdrückung zu Ende ging. Obwohl verboten und über Jahrzehnte von der Obrigkeit massiv und brutal verfolgt, war die Muslimbruderschaft doch immer gegenwärtig und machte immer wieder auf sich aufmerksam. Das galt vor allem dann, wenn im Zusammenhang mit Naturkatastrophen oder anderen Unglücken der Staat gefordert gewesen wäre, aber inaktiv blieb. Die Muslimbrüder waren da, halfen der Bevölkerung und sammelten Sympathien. Darauf versuchen sie nun aufzubauen, wobei sie sich als geläutert und moderat, selbst gegenüber einem säkularen Staat offen darzustellen versuchen.

Ein erster Schritt auf dem Weg hin zu einem säkularen Staat Ägypten hätte das Verfassungsreferendum am 19. März 2011 werden können, bei dem über einige Verfassungsänderungen abgestimmt wurde, die insbesondere die nächste Präsidentenwahl betreffen. Jene Teile der ägyptischen Zivilgesellschaft, die sich für einen säkularen Staat starkmachen, aber auch die Kirchen, die in Ägypten, anders als in den Maghreb-Staaten, durchaus noch ein gewisses Gewicht haben, empfahlen, beim Referendum mit "Nein" zu stimmen. Mit dem Nein sollten die Verfassungsänderungen abgelehnt und der Weg zur Erarbeitung einer völlig neuen Verfassung bereitet werden, wobei die Hoffnung im Vordergrund stand, damit Ägypten eine andere Grundausrichtung verpassen zu können: weg vom Islam als Staatsreligion und der Scharia als Hauptquelle der Inspiration der Rechtsetzung, wie von Artikel 2 der geltenden Verfassung postuliert.

Dieser grundlegende Wandel, so wurde befürchtet, würde durch eine Zustimmung zum Verfassungsreferendum unmöglich werden. Es würden dann zeitnah Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten, die nur mit dem Sieg der Nationalpartei von Hosni Mubarak oder der Muslimbruderschaft enden könnten, weil andere, liberale, säkulare Parteien sich in der Kürze der Zeit weder gründen noch in der Öffentlichkeit bekannt werden könnten. Das Volk aber entschied für die Verfassungsänderungen und die schlimmsten Befürchtungen blieben dennoch aus. Denn bis heute ist noch kein konkreter Termin für die Präsidentschafts- oder Parlamentswahl angesetzt worden. Und so bleibt weiterhin offen, ob am Ende die Muslimbrüder und ihre mittlerweile zahlreichen Ableger obsiegen werden oder sich doch die Befürworter eines säkularen Staates werden durchsetzen können.

Im Juni 2011 hat der regierende Militärrat den Entwurf eines Gesetzes über den Bau von Gebetsstätten veröffentlicht, der von den Religionsgemeinschaften kontrovers diskutiert wird. Während von einzelnen Vertretern christlicher Kirchen hervorgehoben wird, dass damit erstmals allen Religionsgemeinschaften hinsichtlich des Baus von Gebetsstätten die gleichen Rechte zugesprochen werden, kritisieren die Muslimbrüder harsch, dass das Gesetz den Bau nur einer einzigen Gebetsstätte auf einem Quadratkilometer vorsehe, was eine eindeutige Diskriminierung der muslimischen Bevölkerungsmehrheit darstelle. Noch liegt nur ein Gesetzentwurf vor, und noch ist völlig unklar, ob dieser Text jemals unverändert Gesetz werden wird.

Diese Auseinandersetzung aber zeigt, dass in Ägypten noch weitaus heftigere Diskussionen - wenn nicht gar Konflikte - zu erwarten sind, wenn eine neue Verfassung erarbeitet und debattiert werden wird, die im günstigsten Fall tatsächlich einen säkularen Staat vorsehen könnte. Wie delikat solche Diskussionen in Ägypten sind, kann man leicht nachvollziehen, wenn man aus Kirchenkreisen hört, dass in den entsprechenden Debatten Worte wie "säkular" oder gar "laizistisch" absolut tabu sind. Ähnlich wie in anderen Ländern, die vom arabischen Frühling gestreift worden sind, wird deshalb auch in Ägypten der Begriff vom "zivilen" Staat bevorzugt. Zudem würde es ja nicht ausreichen, in der Verfassung einen säkularen Staat zu postulieren und gleichzeitig Regelungen des islamischen Rechts - etwa im Hinblick auf die Polygamie - beizubehalten.


Wird die Freiheit der Kirchen jetzt zum Problem?

Ganz anders als in Marokko, Tunesien und Ägypten stellt sich die Frage nach der Religionsfreiheit im Falle Syriens dar. Natürlich ist auch hier Konversion, wie in den anderen Ländern der arabisch-islamischen Welt, sanktioniert. Ansonsten haben sich die etablierten christlichen Kirchen aber in einer Freiheit entwickeln können, wie sie, abgesehen vom Libanon, nur im Irak unter Saddam Hussein gegeben war. Das könnte sich nun - wie im Irak - für die Kirchen zum existenziellen Problem entwickeln; dabei wird am Ende unbeachtlich bleiben, ob die Christen das Regime der Assad-Familie freiwillig oder gezwungener Maßen unterstützt haben. Nur vor diesem Hintergrund sind die jüngsten und in der Tendenz nicht selten befremdlich erscheinenden Sympathiebekundungen kirchlicher Würdenträger für das Assad-Regime zu verstehen.

Die katholischen Kirchen etwa verdanken der noch bestehenden Situation ein sogenanntes "katholisches Gesetz", das für alle Angehörigen der katholischen Kirchen alle relevanten Fragen des Familien- und Erbrechts, aber auch die Adoption regelt. Dieses Gesetz geht auf den Austausch zwischen den katholischen Kirchen und der Staatsmacht seit der Mitte der neunziger Jahre zurück. Als andere Kirchen - etwa das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Damaskus - gleiches Recht für sich beanspruchten, hatten sich allerdings die Rahmenbedingungen bereits so weit verschlechtert, dass kein Platz mehr für weitere einschlägige Diskussionen gegeben war. Die veränderten politischen Rahmenbedingungen haben in den letzten zwei, drei Jahren auch den Fortbestand des katholischen Gesetzes gefährdet, es aber nicht zu Fall bringen können. Ob das auch für die Zukunft gelten wird, muss sich erst zeigen.


Es ist immer richtig und wichtig, sich für Religionsfreiheit einzusetzen, ob als Politiker oder als Kirchenvertreter. Das Beispiel Marokkos, Tunesiens, Ägyptens und Syriens zeigt aber, wie schwierig es mitunter ist, überhaupt die Voraussetzungen zu schaffen oder zu erhalten, die Religionsfreiheit - und sei sie noch so eingeschränkt - überhaupt erst möglich machen. Wichtig ist dabei auch, darauf hinzuweisen, dass Religionsfreiheit oder zumindest eingeschränkte Religionsfreiheit in vielen Ländern der arabisch-islamischen Welt auch gruppenbezogen verstanden oder gefordert wird. Natürlich erwarten die christlichen Kirchen für sich Religionsfreiheit. Dass das aber - wie auch bei uns - voraussetzt, dass die geforderte Religionsfreiheit für alle gelten muss, wird mitunter erst auf Nachfrage bestätigt.

Tatsächlich zeigt sich in allen arabisch-islamischen Staaten, dass der Grad der Verwirklichung der Religionsfreiheit gruppenabhängig sehr unterschiedlich verteilt ist. Weitgehend verwirklicht ist sie, abgesehen vom Recht der Apostasie beziehungsweise Konversion, für den Islam. Dabei gibt es natürlich auch islamische Gruppen, die auch dies in Abrede stellen würden. Im Hinblick auf die Christen muss man dagegen schon größere Abstriche machen. Die etablierten Kirchen können sich einigermaßen frei bewegen und ihre Angelegenheiten trotz mancher, auch harscher, Schikanen regeln. Die Problemlagen sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Im einen Land gibt es beispielsweise Probleme beim Kirchbau, in einem anderen bei der Erteilung von Visa für kirchliches Personal.

Viele evangelische Freikirchen sehen sich in den Ländern der arabisch-islamischen Welt teils massiven Beschränkungen gegenüber. Das gilt in besonderem Maße für jene evangelische Freikirchen, die nicht bereit sind, sich dem Verhaltenskodex für Mission zu unterwerfen, den der Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog und der Ökumenische Rat der Kirchen zusammen mit der Weltweiten Evangelischen Allianz Juni 2011 unterzeichnet haben. Noch schwieriger stellt sich in den meisten arabisch-islamischen Staaten die Lage neuer(er) religiöser Gemeinschaften wie etwa der Baha'i dar, wobei den Baha'i als nach-islamischer Religionsgemeinschaft Häresie vorgeworfen und schlicht das Existenzrecht bestritten wird.

Für all diese Religionsgemeinschaften und ihre Anhänger ist der arabische Frühling nicht nur ein Hoffnungsschimmer im Hinblick auf eine bessere Zukunft mit besseren materiellen und auch politischen Perspektiven - und hoffentlich auch im Hinblick auf die Religionsfreiheit. Bis das angestrebte Ziel erreicht ist, wird aber noch viel Zeit vergehen.


Dr. Otmar Oehring (geb. 1955) ist seit 2001 Leiter der Fachstelle Menschenrechte von Missio in Aachen; seit 1983 war er Referent und später Referatsleiter in der Auslandsabteilung des Internationalen Katholischen Missionswerkes. Oehring, der lange Jahre in der Türkei lebte, ist unter anderem auch Mitglied des Beratungsgremiums des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 9, September 2011, S. 443-448
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2011