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NAHOST/867: Palästinensergebiete geberabhängig - Weltbankstudie warnt vor den Folgen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Oktober 2011

Nahost: Palästinensergebiete geberabhängig - Weltbankstudie warnt vor den Folgen

von Kanya D'Almeida


Washington, 18. Oktober (IPS) - Die Weltbank hat die Folgen des Nahostkonflikts für die Palästinenser untersucht und festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit in den von Israel besetzten Gebieten 2008 prozentual gesehen höher war als in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik. Aufgrund der extrem hohen Abhängigkeit von den internationalen Gebern seien Palästinenser externen Schocks und Krisen besonders ausgeliefert, warnte die Finanzorganisation in einem neuen Bericht.

In der ersten umfangreichen Untersuchung der Armut und Arbeitslosigkeit in den von Israel besetzten Gebieten verweist die Weltbank vor allem auf die desolate Lage im Gazastreifen. Wie Tara Vishwanath, die führende Autorin der Studie 'Coping with Conflict: Poverty and Inclusion in the West Bank and Gaza' ('Mit dem Konflikt zurechtkommen: Armut und Inklusion im Westjordanland und Gazastreifen'), betont, haben sich die internationalen Hilfsgelder für das von der radikal-fundamentalistischen Hamas kontrollierte Territorium 2009 verdoppelt. Gleichzeitig nehmen 71 Prozent der dort lebenden Menschen mindestens eine Form der sozialen Hilfe in Anspruch.


Dauerhafte Wachstumsbremse

Die Weltbank befürchtet, dass die ungleiche Entwicklung in der Region jedes nachhaltige Wachstum verhindert. Sollten die Einnahmen der Haushalte des Gazastreifens um 20 Prozent sinken - wie dies 2007 der Fall war -, würde die absolute Armut von 33 auf 49 Prozent steigen. Für die Hälfte der Bevölkerung hieße dies, dass sich ihre ohnehin schon prekäre Lage noch weiter verschlechtern würde.

Die Arbeitslosigkeit in den Palästinensergebieten betrug 2008 41 Prozent. Damit waren im Gazastreifen und Westjordanland prozentual gesehen mehr Menschen erwerbslos als im Deutschland der Weimarer Republik Anfang des 20. Jahrhunderts oder in den USA zur Zeit der 'Großen Depression' in den 1930 Jahren.

Die hohe Arbeitslosigkeit im Gazastreifen, sie lag 2009 noch immer bei über 35 Prozent, trifft vor allem junge Leute und weniger gebildete Bevölkerungsgruppen. Nach Ansicht von Mukhaimer Abu Sada, Professor für politische Wissenschaften an der Al-Azhar-Universität in Gaza-Stadt, machen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit gerade unter jungen Leuten den Gazastreifen zu einem Pulverfass.

Selbst für erwerbstätige Palästinenser ist die Lage kritisch. Sie müssen Einkommenseinbrüche und einen Niedergang ihrer Reallöhne hinnehmen. Im Vergleich zum Westjordanland, wo die Fatah das Sagen hat, steht der Gazastreifen in dieser Hinsicht deutlich schlechter da.


Elend durch eingeschränkte Bewegungsfreiheit von Mensch und Gütern

Vishwanath hält die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern für das größte Wachstumshemmnis. Gerade dort, wo die Bewegungsfreiheit besonders stark eingeschränkt ist, hat die Weltbank eine besonders hohe Armutsrate, einen ausgeprägten Niedriglohnsektor und eine verstärkte Abhängigkeit von Beschäftigungsmöglichkeiten in Israel festgestellt.

Fischerei und Landwirtschaft, einst die Säulen der Wirtschaft des Gazastreifens, leiden ebenfalls unter der israelischen Besatzung. So berichtete die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO im letzten Jahr, dass 46 Prozent des Agrarlands im Gazastreifen aufgrund der Zerstörung im Zuge der 'Operation Gegossenes Blei' Ende 2008 und Anfang 2009 unzugänglich geworden sei. Darüber hinaus ist die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten von 12,7 Prozent 2007 auf 7,4 Prozent 2010 geschrumpft.

Ferner heißt es in dem FAO-Papier 'Farming Without Land, Fishing Without Water' ('Landwirtschaft ohne Land, Fischerei ohne Wasser'), dass die Zahl der Fischer im Gazastreifen von 10.000 im Jahr 2000 auf nur noch 3.500 zurückgegangen ist, seitdem Israel den Fischern verbietet, ihre Netze in Gewässern jenseits von drei Seemeilen auszuwerfen.

Helena Cobban, Journalistin und Online-Verlegerin, erklärte gegenüber IPS: "Es ist komplett abnorm an diesem Punkt der menschlichen Entwicklung, dass zwei Volkswirtschaften (Gazastreifen und Westjordanland) 44 Jahre lang von einer Besatzungsmacht als Geiseln genommen werden. Eine militärische Besatzung ist in der Regel ein vorübergehendes Phänomen. Selbst die US-Besatzungszeit in Deutschland, Japan oder im Irak dauerte nicht länger als sieben bis acht Jahre."


"In die Rolle von Bettlern gezwungen"

Cobban zufolge sind Gazastreifen und Westjordanland dringend auf direkte internationale Wirtschaftskontakte angewiesen. "Der Gazastreifen besitzt einen Seehafen, Land, das von Ägypten aus erreichbar ist, und einen kleinen Flughafen. Er könnte somit rasch in den Weltmarkt integriert werden. Doch stattdessen werden beide Palästinensergebiete von Israel in die Rolle von Bettlern gezwungen, die vollständig von internationaler Hilfe oder israelischen Exporten abhängen."

Menschlich gesehen sei die Besatzung ein Verbrechen. Jede einzelne Familie sei zerrissen, wobei die wirtschaftliche, soziale und militärische Ungewissheit die Hälfte der Angehörigen aus den Territorien gedrängt habe. Eine solche Situation sei völlig inakzeptabel. (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2011