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OSTEUROPA/333: Ungarn nach den Wahlen - eine illiberale Demokratie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

Analysen:
Ungarn nach den Wahlen - eine illiberale Demokratie

Von György G. Márkus


"... Die Dualität des Systems ist im Verschwinden, dabei entsteht ein zentrales politisches Kräftefeld. Die reale Chance ist da, dass die nächsten 15-20 Jahre der ungarischen Politik nicht von einem dualistischen Kräftefeld bestimmt werden, ... mit ständigen Wertedebatten, spaltenden, kleinlichen und überflüssigen gesellschaftlichen Folgen... Stattdessen entsteht... eine große Regierungspartei, die fähig wird, die nationalen Angelegenheiten zum Ausdruck zu bringen. Und das tut sie nicht in permanenter Debatte, sondern vertritt diese in ihrer eigenen Natürlichkeit."
(Viktor Orbán, Rede in Kötse, September 2009)


Die Parlamentswahlen im April 2010 haben die Kräfteverhältnisse drastisch verändert. Die Rechte hat - dem Erringen der kulturellen Hegemonie folgend - eine politische Hegemonie erreicht, die sie so bald nicht verlieren wird. Außer der triumphierenden nationalpopulistisch/konservativen Partei Fidesz Viktor Orbáns mit ihrer zur Verfassungsänderung (und zur beliebigen politischen Änderung) berechtigenden 2/3-Mehrheit agieren die Abgeordneten einer völkischen, wesentliche Merkmale der faschistischen Pfeilkreuzlerbewegung fortsetzenden Partei (Jobbik - Bewegung für ein besseres/rechtes Ungarn) - mit mehr als 17% der Zweitstimmen - als dritte politische Kraft in Ungarn. Die zwei Wendeparteien, das liberale Bündnis der Freidemokraten (SZDSZ) und das patriotisch-konservative Ungarische Demokratenforum (MDF) verschwanden. Die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) hat nach acht Jahren Regierung allerdings mit einem Vorsprung von 2% gegenüber den Neu-Pfeilkreuzlern den Status der stärksten Oppositionspartei erreichen können. Ein Novum in den 20 Jahren der ungarischen Politikgeschichte ist der Einzug einer neu gegründeten grünen Partei ins Parlament. Politikwissenschaftler nennen so etwas critical elections. Fidesz-Chef Orbán nennt das anders: eine Revolution in den Wahlkabinen, Sturz des bisherigen Regimes und die Gründung eines Systems der nationalen Zusammenarbeit.

Die zerschmetternde Niederlage des sozialistisch-liberalen Blocks war vorauszusehen. Nicht nur der Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern das Ergebnis des so genannten sozialen Referendums im März 2008 deuteten schon in diese Richtung. In jener eigenartigen Volksbefragung, die von Fidesz auf dem Höhepunkt des heißen Herbstes von 2006 als friedliche Fortsetzung der zum Sturz der Regierung gedachten Straßenszenen initiiert wurde, hat eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen einen Eigenbeitrag bei Arztbesuchen und gegen Studiengebühren gestimmt. Die eigentliche Botschaft war, dass die Ungarn nicht bereit waren, die - als Wortbruch der linken Politiker empfundenen - Restriktionen und privatisierenden-liberalisierenden Reformen - besonders im Gesundheitswesen und in der Sozialversicherung - zu akzeptieren. Typisch war der Satz des Wirtschaftsministers Kóka, der später eine Zeit lang auch als liberaler Parteichef fungierte: Wenn der Teich trocken gelegt wird, fragt man nicht die Frösche.

Eine "sozial-ökonomische und moralische Krise" wurde von den Rechten als an der Nation begangene Sünde der "Kommunisten" (die eigentlich auch kosmopolitische Liberale waren), des im Sold multinationaler Interessen stehenden Ministerpräsidenten Gyurcsány dargestellt. Orbán hat schon nach der Wahlniederlage von 2002 erklärt: Das Vaterland (= die eigene Partei) könne nicht in Opposition sein. Fidesz tat alles, um die Regierung zu delegitimieren, die Lage zu destabilisieren. Die Partei hat die von den Rechtsradikalen betriebene quasi-aufständische "Politik" mittragend für sich instrumentalisiert.

Nach der Wahlniederlage 2002 hat Orbán bei einem absoluten Führungsanspruch von Fidesz im rechten Lager ("Ein Lager - eine Fahne") die Gesellschaft in "zwei Ungarn" gespalten. Das Lager der rechten nationalen Traditionalisten führte - mit den Worten des Fidesz-Vize Kövér - einen "Kalten Bürgerkrieg" gegen das verwestlichende sozialliberale Lager. Die "koste-es-was-es-wolle"-Logik des Kulturkampfes hat auf beiden Seiten zum Populismus geführt.


Unausweichlicher Kurswechsel

Die MSZP hat ihren marktliberalen Wirtschaftskurs mit einer überzogenen staatlichen Umverteilung kompensiert, was einerseits zu einem inkohärenten policy mix, anderseits zu einem weder von der EU noch von den Finanzmärkten annehmbaren schweren Ungleichgewicht führte. Aus Angst vor Popularitätsverlust und aus ideologischem Widerstand innerhalb der MSZP verzögerte sich der unausweichliche, schmerzlich restriktive Kurswechsel, was die Sache noch schlimmer machte. Im Kreuzfeuer der brutalen Destabilisierungsstrategie des politischen Gegners und bei steigenden linken und neoliberalen Attacken aus den eigenen Reihen begann Anfang 2008 - nach dem verlorenen Referendum - das Endspiel: Zerfall der Koalition, Rücktritt Gyurcsánys, Selbstzerfleischung des liberalen SZDSZ, die Krise von außen... Die von der MSZP qualvoll gekürte provisorische Krisenmanagement-Regierung von Gordon Bajnai musste leidvolle Schmerzgrenzen für die Bevölkerung überschreiten, erwies sich jedoch (oder eben deswegen) als sehr erfolgreich.

Seit 20 Jahren haben Parteien trotz einer beispiellos hoch gestiegenen Parteienverdrossenheit ein Übergewicht in der Gestaltung der Gesellschaft. Die maßgebende Konfliktlinie des politischen Wettbewerbs war der kulturell-gesellschaftliche Inhalt der Modernisierung, ein historisch tradierter eskalierender Kulturkampf zwischen linksliberalen Verwestlichern und nationalen Traditionalisten.


Triebkräfte des Politischen

60% ihrer Wähler verloren die Sozialisten wegen ihrer unbefriedigenden Leistung, ihrer gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und der eigenen Partei geführten marktliberalen Stoßrichtung und - last but not least - der offen gelegten Korruptionsaffären. Die absteigende, immer mehr veraltende Partei ist verunsichert, Machtkämpfe brechen aus. Ein "polnisches Szenario" ist nicht auszuschließen.

Jobbik hat in kurzer Zeit den Anteil seiner Sympathisanten von einem auf mehr als 17% erhöhen können. Ein entscheidender Faktor seiner Stärke ist, dass Jobbik die in der ungarischen Gesellschaft vorhandenen harten Vorurteile gegen Roma mit dem Schlagwort "Zigeunerkriminalität" thematisiert hat. Typisch für die antiwestliche und antikapitalistische Partei der Neu-Pfeilkreuzler mit ihren paramilitärischen Garden ist, dass sie ursprünglich nicht aus der Unterschicht kommt, vielmehr aus der gebildeten Mittelschicht, wobei sie ihre besten Wahlergebnisse in den am meisten unterentwickelten östlichen Regionen erzielte. Das sind die armen Bezirke, wo die Nicht-Zigeuner-Bevölkerung mit einer hohen Zahl von Roma zusammenlebt. Auch das Weiterleben der ultranationalistischen, völkischen und antisemitischen Narrative auf der Ebene der Sozialisation erklärt den Jobbik-Aufstieg. Dazu kommt der Moment des Antielitismus, besonders gegen die politische Klasse. Auffallend ist die starke Präsenz der Jugendlichen.

Jugend und Verdrossenheit den politischen Eliten gegenüber ist auch das Merkmal der grünen, bisher kleinsten parlamentarischen Partei LMP (= "Politik kann anders sein"). LMP erreichte 7,5 % der Zweitstimmen und ist besonders stark in Budapest, unter jungen Akademikern und unter Erstwählern vertreten. Mit Äquidistanz zu Fidesz und MSZP, basisdemokratisch, pro-europäisch und sachlich professionell ist sie noch dabei, ihr politisches Profil auszubrüten.


Zwischen allen Stühlen

Der Spagat von Fidesz ist: Einerseits den geweckten Erwartungen der Wähler, von heute auf morgen besser zu leben, zu entsprechen, anderseits die Bedingungen des IWF und der EU zu erfüllen: Den Kurs der Restriktionen fortzusetzen. Auch der Status von Fidesz in der Europäischen Volkspartei könnte Orbán zu einer mit seinem bisherigen Populismus unvereinbaren Realpolitik zwingen. Dabei muss er sich bewusst sein, dass ein erheblicher Teil seiner Anhänger und Parteigenossen aufgrund der unverändert kulturkämpferischen Einstellungen der Partei mit dem nun zum Hauptgegner gestempelten Jobbik sympathisiert. Im Herbst stehen Kommunalwahlen an. Fidesz soll einerseits einen politischen Kampf gegen Jobbik führen. Anderseits muss sie ihre anstehende - Sachzwängen geschuldete - wirtschaftliche Realpolitik unter den Bedingungen der ideologischen Nähe ihrer Wähler zu den Werten des Jobbik mit symbolischer Politik kompensieren:

• mit einer Kriminalisierungs- und Strafkampagne gegen die Sozialisten,
• mit einem sofortigen harten law-and-order Kurs,
• mit Maßnahmen im Zeichen "einer grenzübergreifenden nationalen Vereinigung", die auf die außerhalb Ungarns lebenden Minderheiten zielen (doppelte Staatsbürgerschaft), eine Art Irredentismus light (gegenüber dem harten Revisionismus des Jobbik), der eine Verschärfung der regionalen Konflikte riskiert,
• und mit der Fortsetzung der ideologisch gesteuerten Medienbesetzung.

Zwölf der 20 Jahre postkommunistischer Transition war die Linke an der Regierung. Bestandsaufnahmen und die allgemein verbreitete Anomie in der ungarischen Gesellschaft bezeugen: Trotz wichtiger Errungenschaften der linken (und der rechten) Regierungen hat eine Konsolidierung des Nach-Wende-Systems in Ungarn nicht stattgefunden. Zusammenfassend können wir die (Hypo-)These formulieren, dass diese Konsolidierung im Zeichen einer nationalkonservativen-korporatistischen illiberalen Demokratie mit Zentralisierung und Machtkonzentration stattfinden wird.

Mitte Juni erlebten wir eine deutliche gesellschaftspolitische Kehrtwende der "revolutionären" Regierungspartei. Nach einer ernsten Rüge bei Barroso akzeptierte Viktor Orbán die Unantastbarkeit der von der sozialistischen Regierung festgelegten Defizit-Vorgaben. Er kündigte gleichzeitig eine "normale" neokonservative Wirtschaftsstrategie an, mit flat rate tax und einer Umverteilung von unten nach oben. Die Märkte haben sich beruhigt.


György G. Márkus (*1938) ist Professor für politische Soziologie am Budapest College für Management, Senior Researcher der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
gmarkusg@axelero.hu


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 22-25
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2010