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OSTEUROPA/264: Bulgarien - Regierung unter Druck, Proteste gegen Korruption und Sozialmisere (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. Juli 2013

Bulgarien: Regierung unter Druck - Demonstranten protestieren gegen Korruption und Sozialmisere

von Claudia Ciobanu


Bild: © Vassil Garnizov/IPS

Bulgarische Demonstranten stellen das berühmte Bild von Eugène Delacroix über die Revolution von 1830 in Frankreich nach
Bild: © Vassil Garnizov/IPS

Warschau, 30. Juli (IPS) - Seit Mitte Juni gehen Einwohner der bulgarischen Hauptstadt Sofia auf die Straße, um ein Ende von Oligarchie und Korruption zu fordern. 'DANSwithme' lautet ihr Motto. Auslöser der Proteste war die Entscheidung der sozialistischen Regierung, den 32-jährigen Medien-Mogul Delyan Peevski zum Chef der Geheimdienstes DANS zu ernennen.

Nachdem die Öffentlichkeit aufbegehrte, wurde Peevski zwar prompt abgesetzt. Die Bürger demonstrieren jedoch weiter und fordern den Rücktritt von Ministerpräsident Plamen Oresharski. An manchen Tagen kommen sogar Zehntausende von Menschen zusammen. Unter den Protestierenden sind viele Jugendliche, die ihre politischen Botschaften über die sozialen Netzwerke im Internet verbreiten. Berufstätige versammeln sich vor und nach der Arbeit im Zentrum von Sofia.

Die Demonstrationen markieren den Höhepunkt des Volkszorns, der sich gegen schlecht funktionierende demokratische Institutionen und Politiker richtet, die als eng mit der Wirtschaft und dem organisierten Verbrechen verbandelt gelten. Mehr als in anderen post-kommunistischen Mitgliedsstaaten der EU gehören die Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität, der Geschäftswelt und der Anfang der 1990er Jahre erstarkten politischen Klasse in Bulgarien weiterhin zum Alltag. Das Land ist zudem der ärmste EU-Mitgliedsstaat.

Seit einigen Jahren schauen die Bulgaren diesen Zuständen nicht mehr tatenlos zu. Umweltaktivisten kritisieren den Ausverkauf von Nationalparks und Stränden für Tourismus- oder Sportprojekte, hinter denen prominente Unternehmer mit zweifelhaftem Ruf stehen.


Arme können Energierechnungen nicht mehr zahlen

Die allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung eskalierte aber erst im vergangenen Frühjahr. Die Menschen zogen wochenlang durch die Straßen, um gegen steigende Strom- und Heizungskosten aufzubegehren. Sie forderten, die Energieversorgung wieder zu verstaatlichen. Angeführt wurden die Demonstrationen von den Armen, die die hohen Rechnungen nicht mehr zahlen konnten. In der Zeit wurden mehrere Selbstmorde von Menschen bekannt, die vor den Trümmern ihrer Existenz standen.

Unter dem Druck der Proteste trat die rechte Regierung von Ministerpräsident Boris Borisow zurück. Seit den Wahlen im Mai wird das südosteuropäische Land von einer Koalition aus Sozialisten und der Bewegung für Rechte und Freiheiten regiert. Letztere repräsentiert die türkische Minderheit, die für gewöhnlich mit den jeweiligen Wahlsiegern ein Regierungsbündnis eingeht. Weitere Unterstützung kommt von der ultrarechten Ataka-Partei, die für die Bildung dieser Regierung gebraucht wurde.

"Die Lage ist momentan sehr instabil. Der Druck auf die Regierung nimmt weiter zu. Vor kurzem haben sogar die Gewerkschaften erklärt, dass sie die Proteste unterstützen", sagt Ivan Krastew, der Vorsitzende des Zentrums für Liberale Studien in Sofia. "Die Frage scheint längst nicht mehr zu sein, ob Neuwahlen angesetzt werden, sondern eher, wann dies der Fall sein wird. Das Kabinett hat ganz klar seine Regierungsfähigkeit verloren."

Am 23. Juli wurde die Situation erstmals brenzlig. Die Menge versperrte abends den Zugang zum Parlament. Die Abgeordneten, die sich zu Sonderberatungen über eine Aufstockung des Haushalts getroffen hatten, konnten das Gebäude nicht mehr verlassen. Geplant ist die Aufnahme neuer Schulden, vor allem um Zahlungsverpflichtungen an private Gläubiger des Staates nachzukommen.

Oresharski will aber keinesfalls sein Amt aufgeben. Er beteuert, dass die Regierung einen "klaren Stabilisierungsplan" habe und "umgehend Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage" plane. Einzelheiten dazu wurden aber nicht bekannt. Präsident Rosen Plewneliew ließ indes gewisse Sympathien für die Demonstranten erkennen.


Rückhalt von Europäischer Union

Auch Vertreter der Europäischen Union und ihrer Mitglieder, darunter EU-Justizkommissarin Viviane Reding sowie die Botschafter der Bundesrepublik und Frankreichs in Sofia, haben Verständnis für die Protestierenden geäußert.

Zum Dank an die Unterstützung der ausländischen Botschafter stellten Demonstranten das Bild 'Die Freiheit auf den Barrikaden' des französischen Malers Eugène Delacroix nach. Sie zogen Parallelen zwischen der 1830er-Revolution in Frankreich und dem Fall der Berliner Mauer. Auf dem Bild schwenkt eine Frau, die die Freiheit verkörpert, die französische Flagge.

Krastev erkennt deutliche Unterschiede zwischen den Demonstrationen zu Beginn des Jahres und den derzeitigen Aktionen. "Im Februar war die Haltung der Menschen kritischer, vor allem mit Blick auf ausländische Investoren. Inzwischen geht es eher um die typische Modernisierungsagenda."

In Griechenland oder Spanien werde vor allem Brüssel für die harten Sparmaßnahmen verantwortlich gemacht, stellt der Experte fest. Doch die meisten Bulgaren, die auf die Straße gingen, hielten noch an dem Ideal der EU fest. (Ende/IPS/ck/2013)


Link:

http://www.ipsnews.net/2013/07/bulgarians-set-out-to-overhaul-politics/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2013