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RUSSLAND/145: Russland wählt - Perspektiven aus Moskau, Nowosibirsk und St. Petersburg (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Russland wählt
Perspektiven aus Moskau, Nowosibirsk und St. Petersburg

Von Felix Hett / Reinhard Krumm (Hg.), Februar 2012


• Russland erlebt eine in seiner jüngeren Geschichte beispiellose Protestwelle. In den Augen vieler Demonstranten ist die Wahl eines neuen Präsidenten am 4. März 2012 bereits illegitim, weil unter den Kandidaten mit einer Ausnahme nur Vertreter der altbekannten politischen Klasse, aber keine Repräsentanten der neuen Protestbewegung zu finden sind. Ein Konsenskandidat der außerparlamentarischen Opposition ist gleichwohl ebenfalls nicht in Sicht.

• Die Proteste werden von einer städtischen Mittelschicht getragen, die im wirtschaftlichen Aufschwung des vergangenen Jahrzehnts entstanden ist. Gegensätze zur immer noch in weiten Teilen armen Landbevölkerung werden im Wahlkampf von Regierungsseite instrumentalisiert.

• Der demokratische Teil der äußerst vielfältigen Protestbewegung muss sich gegen die Vereinnahmung durch nationalistische Kräfte zur Wehr setzen. Hierzu sollten breite Koalitionen mit dem Ziel gebildet werden, Anti-Demokraten an den Rand des politischen Spektrums zu drängen.


Inhalt

Russland wählt
Felix Hett und Reinhard Krumm

Moskau: Seltsame Wahlen
Andrej Rjabow

Nowosibirsk: Mangel an öffentlicher Diskussion
Dmitrij Beresnjakow und Sergej Koslow

St. Petersburg: Aufstand der Mittelschicht
Jewgenij Konowalow


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Russland wählt

Von Felix Hett und Reinhard Krumm

Die Wahlen zum Präsidenten der Russischen Föderation haben es in sich. 1996 gewann der gesundheitlich angeschlagene Boris Jelzin tanzend den Wahlkampf gegen den Kommunisten Gennadij Sjuganow. Vier Jahre später trat er ab und ebnete den Weg für den recht unbekannten Wladimir Putin, der zu einem der populärsten Politiker der Nach-Perestrojka-Geschichte Russlands wurde. Ohne einen ebenbürtigen Gegenkandidaten sicherte er sich 2004 auch die zweite Amtszeit. Auf dem Höhepunkt seiner Macht 2008 setzte er als seinen Nachfolger Dmitrij Medwedew ein, mit dem nur die wenigsten gerechnet hatten.

Und nun, 2012, will Wladimir Putin (59) wieder Präsident werden. Ungewöhnlich, hat er doch schon zwei Amtszeiten hinter sich. Doch die Verfassung gibt das her. In Artikel 81, Absatz 3 heißt es: »Ein und dieselbe Person kann das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben.« Ja, Putin tritt zum dritten Mal an, aber nach der Logik der Verfassung erneut zum ersten Mal. Die Unzufriedenheit im Volk liegt nicht in dieser Formalie begründet, sondern hat andere Ursachen.

Zum einen richtet sich der Zorn nicht weniger Bürger gegen die politische Rochade, die auf dem Parteitag der Regierungspartei »Einiges Russland« am 24. September 2011 bekannt gegeben wurde. Präsident Medwedew (46) wird nicht wieder antreten, er macht stattdessen den Weg frei für eine dritte Amtsperiode seines Vorgängers. Mehr noch: Dieses Manöver sei schon lange abgesprochen gewesen. War dann, so fragten sich engagierte Bürger, auch die Modernisierung nur ein Ablenkungsmanöver, dem erneut die von Putin propagierte Stabilität folgen wird, die eigentlich eher einem Stillstand gleicht?

Der zweite Anlass für Unmut waren die ihrer Meinung nach verschobenen Duma-Wahlen vom 4. Dezember 2011. Zwar gewann »Einiges Russland« mit weniger als 50 Prozent, doch selbst diese für postsowjetische Verhältnisse erstaunlich geringe Unterstützung der Bürger schien noch zu hoch zu sein. Das sei ein abgekartetes Spiel, so die Kritiker: Erst die Mehrheit für »Einiges Russland« im Parlament, dann die notwendigen Stimmen für Putin am 4. März 2012, um ihn als neuen Präsidenten, nun mit einer Dienstzeit von sechs statt bisher vier Jahren, möglicherweise für weitere zwei Amtszeiten zu installieren, also bis 2024.

Die Sicht auf die politischen Entwicklungen in Russland wird häufig vom Moskauer Blickwinkel bestimmt. Aus diesem Grund hat die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) auch Meinungen aus der zweit- und der drittgrößten Stadt Russlands, St. Petersburg (etwa 4,9 Millionen Einwohner) und Nowosibirsk (etwa 1,5 Millionen Einwohner), eingeholt. Drei Wissenschaftler und ein Politiker schauen auf Russland zwischen den Wahlen und geben einen Ausblick. Ihre Meinungen entsprechen nicht unbedingt denen der FES. Gleichwohl verdeutlichen sie eine Stimmung im Land, die sich deutlich von der unterscheidet, die 2004 und 2008 vor Präsidentenwahlen in Russland zu beobachten war. Der Fatalismus der russischen Bürger ob ihrer politischen Zukunft ist wie weggeblasen.


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Moskau: Seltsame Wahlen

Von Andrej Rjabow*

Wir erleben gerade einen eigenartigen Präsidentschaftswahlkampf voller Widersprüche. Offensichtlich begann zum einen bereits im Dumawahlkampf im Dezember eine unerwartete Delegitimierung des aktuellen politischen Regimes, ja höchstwahrscheinlich des gesamten politischen Systems. Daraufhin fand sich eine für unsere Verhältnisse sehr große Gruppe von Menschen zusammen, die vehement gegen eine erneute Präsidentschaft Wladimir Putins protestiert. Natürlich reden wir hier nicht von der Mehrheit der Bevölkerung. Doch es sind vor allem engagierte, gebildete und erfolgreiche Großstadtbewohner, die sich der Gruppe anschließen. Sie waren es, die im Dezember und Februar zu Massenprotesten auf die Straße gingen. Und sie sind es, die schlussendlich das politische Klima in unserem Land bestimmen. Das haben die vergangenen Jahre gezeigt.

Doch im Präsidentschaftswahlkampf findet das neue Kräfteverhältnis keinerlei Niederschlag. Keiner von Wladimir Putins Widersachern hat ihm bisher offen den Kampf erklärt. Die Chefs der Kommunistischen (KPRF) und der Liberaldemokratischen (LDPR) Partei, Gennadi Sjuganow und Wladimir Schirinowskij, haben sich in vergangenen Wahlgängen schon gut in der Rolle der Sparringpartner des Kandidaten der »Partei der Macht« eingerichtet. Zu einem tatsächlichen Kampf sind sie nicht bereit. Der Parteichef des »Gerechten Russlands«, Sergej Mironow, dem im vergangenen Dezember nur ein hart geführter Wahlkampf Sitze in der Duma verschaffte, hält sich im Wettbewerb um die Präsidentschaft erstaunlich zurück und zügelt seine sonst oft überbordende Energie. Analysten führen das auf Druck aus dem Kreml und die oft vergessene Tatsache zurück, dass er nach wie vor der »Petersburger Mannschaft« angehört. Der Milliardär Michail Prochorow, dessen Nominierung zu Recht für eine Initiative des Kreml gehalten wird, hat die Wähler bisher nicht davon überzeugen können, dass er tatsächlich politische Absichten verfolgt. Für die neuen Protestwähler sind die kommenden Wahlen also a priori illegitim, da kein einziger Kandidat antritt, den sie bereit wären zu wählen. Dies wäre anders, würden zum Beispiel Grigorij Jawlinskij oder Aleksej Nawalnij antreten.

Doch trotz seiner ungefährlichen Gegner wirkt Putin schwächer als früher. Offensichtlich hat er keine visionären Ideen für die Zukunft des Landes. Sein Wahlprogramm besteht aus kurzfristigen, widersprüchlichen Wahlversprechen, die nur ein Ziel haben - so viele Menschen wie möglich dazu zu bewegen, am 4. März für ihn zu stimmen. Der Wahlkampf instrumentalisiert die Ängste breiter Bevölkerungsschichten und stützt sich ausschließlich auf Putins Verdienste. Den Menschen wird suggeriert, dass das Land unweigerlich in eine Katastrophe schlittert, wenn sie Putin nicht wählen. Doch diese Propaganda kann nur sozial abhängige Bevölkerungsschichten überzeugen - Angestellte staatlicher Betriebe und den Teil der Beamtenschaft, der tatsächlich etwas zu verlieren hat. Schlussendlich ist Putins Wahlkampf tatsächlich auf diese Bevölkerungsschichten ausgerichtet, indem der »ehrliche Arbeiter« gegen den »satten Moskauer« ins Feld geführt wird. Was Putins Ablehnung durch die neue Opposition noch steigert.

Natürlich kann diese Strategie Putin zusätzliche Stimmen aus den Provinzen bringen. Doch langfristig sind diese bedeutungslos, denn die abhängigen Bevölkerungsschichten sind unselbständig und passiv und werden Putin im Falle einer Zuspitzung der politischen Situation nicht aktiv unterstützen.

Putin braucht einen Sieg im ersten Wahlgang, denn seinem Verständnis nach wäre nur dieser ein Ausdruck der Konsolidierung der Eliten um einen anerkannten Führer. In einem zweiten Wahlgang bestünde die Gefahr der Spaltung der Eliten - sie könnten mit anderen Kandidaten verhandeln und Koalitionen bilden, die sich seiner Kontrolle entziehen. Aus Putins Sicht würde ein zweiter Wahlgang bedeuten, dass der nationale Führer seine absolute Autorität verliert, also den Anfang vom Ende. Ganz unabhängig davon, dass er die Wahl mit größter Wahrscheinlichkeit gewinnen würde.

Andererseits hat in Putins Verständnis die Unterstützung durch die breiten Massen keinen großen Stellenwert. Die Massen gehen ein wenig auf die Straße, dann beruhigen sie sich, vergessen, was war, und werden wieder zum Spielball des Kreml. Im Gegensatz dazu ist für die Opposition die Unterstützung durch breite Bevölkerungsschichten außerordentlich wichtig. Wenn Putin im ersten Wahlgang gewinnt und dabei wieder die üblichen massiven Hebel der »administrativen Ressource« eingesetzt werden, wird dies der Opposition zusätzliche Argumente liefern, um den gewählten Präsidenten der Illegitimität zu bezichtigen und erneut auf die Straße zu gehen. Je unsauberer die Wahlen, desto größer die Proteste. Theoretisch wäre ein zweiter Wahlgang für die Opposition wünschenswert. Andererseits fällt die Vorstellung schwer, diese könnte sich tatsächlich auf die Unterstützung eines Gegenkandidaten einigen. Dieser würde mit großer Wahrscheinlichkeit Gennadi Sjuganow heißen. Wenn Putin andererseits erst im zweiten Wahlgang gewinnt, verliert die Behauptung seiner Illegitimität automatisch an Überzeugungskraft. Die Opposition wird Putin nicht mehr vorwerfen können, er sei nicht »fair« gewählt worden.

Doch wie die Wahlen auch ausgehen, werden sie offensichtlich nicht zur Lösung der politischen Probleme beitragen, vor denen das Land jetzt steht. Eine aktive Politik wird Putin, der die Unterstützung des Großteils der engagierten und gebildeten Bevölkerungsschichten verloren hat, kaum mehr durchführen können. Das vernünftigste politische Ziel eines neuen Präsidenten in dieser Situation wäre eine Bewahrung des Status quo. Doch angesichts der globalen Krise wird das nicht gehen. Außerdem hat der Kandidat die Erwartungen der abhängigen Bevölkerungsschichten mit seinen Wahlversprechen ordentlich angeheizt. Der neue Präsident wird etwas ändern müssen in diesem Land. Allerdings wird es ihm schwerfallen, die progressive Bevölkerung davon zu überzeugen, dass er in der Lage ist, die seit langem notwendigen Reformen durchzuführen. Zu einer Zusammenarbeit mit den Behörden wird er sie erst recht nicht bewegen können. Ebenso schwer wird es ihm fallen, die sozial Schwachen von notwendigen Einschnitten zu überzeugen. Was nur bedeuten kann, dass es bald nach den Wahlen zu einer Verschärfung des politischen Kampfes kommen wird. Dieser Kampf wird um neue Ideen und Programme geführt werden, eine neue Tagesordnung haben und vielleicht sogar neue Oppositionsführer.


(*) Andrej Rjabow, Mitglied des wissenschaftlichen Rats des Carnegie-Zentrums Moskau, Chefredakteur der Zeitschrift »Weltwirtschaft und internationale Beziehungen«, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO) der Russischen Akademie der Wissenschaften.


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Nowosibirsk: Mangel an öffentlicher Diskussion

Von Dmitrij Beresnjakow und Sergej Koslow*

Bei den Dumawahlen am 4. Dezember 2011 erhielt die Kommunistische Partei (KPRF) als führende Oppositionspartei im Gebiet Nowosibirsk 30,3 Prozent der Wählerstimmen. »Einiges Russland« (33,8 Prozent) schnitt in ländlichen Gegenden am erfolgreichsten ab (zwischen 40 und 50 Prozent). In den Städten erreichten die Kommunisten über 30 Prozent und lagen damit vor der »Partei der Macht«. In Berdsk (100.000 Einwohner) stimmten fast 40 Prozent der Wähler für die Kommunisten. In der Großstadt Nowosibirsk selbst verlor »Einiges Russland« in allen Stadtbezirken gegen die KPRF. Die größte Kluft zwischen der Zustimmung für die Kommunisten (39,2 Prozent) und »Einiges Russland« (22 Prozent) klafft im Stadtbezirk Sowetskij (zu dem das Akademikerviertel Akademgorodok gehört), was einerseits auf die nostalgische Sehnsucht der Wissenschaftler nach sowjetischen Zeiten zurückzuführen ist, andererseits aber auch auf die hohe »Internetisierung« dieses Viertels, worauf wir später noch zu sprechen kommen.

Die Protestwelle, die das Land nach den Wahlen am 4. Dezember erfasst hat, war die größte seit zehn Jahren. Zwar wurden die Massenproteste durch Wahlfälschungen ausgelöst. Die eigentliche Ursache liegt jedoch in der wachsenden Unzufriedenheit der Menschen. Sie sind müde und enttäuscht von der Politik der »Partei der Macht« und der Regierung, der schlechten Qualität der staatlichen Verwaltung, der Korruption, der Kremlpropaganda und von Wladimir Putin als Person. Die Legitimität des gesamten politischen Systems, so wie es seit Putins Machtantritt aufgebaut wurde, schwindet. Und nun sind es in erster Linie die gebildeten und gutsituierten Städter, die ihrer Unzufriedenheit Luft verschaffen. Die sogenannte »Online-Generation« ging zum ersten Mal wählen, um deutlich zu machen, dass sie mit dem politischen Kurs, den sie direkt und im Fernsehen verfolgt, nicht einverstanden ist. Dieser bietet der jungen Generation weder klare Perspektiven noch Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs.

Dass die Oppositionsparteien mehr Stimmen als früher erhalten haben bedeutet nicht, dass sich mehr Menschen mit ihren Programmen oder ideologischen Zielen identifizieren. Ihre Stammwähler - im Falle der KPRF ältere Menschen, im Falle der Liberaldemokratischen Partei (LDPR) das Subproletariat der städtischen Randgebiete - haben lediglich »zufällige Mitreisende« bekommen. Und so konnten wir klar und deutlich den Effekt des Protestwählens in einem geschützten parteipolitischen Raum beobachten. Wähler, die dem politischen Kurs der »Partei der Macht« ihr Misstrauen aussprechen wollten, mussten zwangsläufig aus dem bestehenden Angebot wählen. Nur so erklärt sich die unerwartete Beliebtheit der Partei Gerechtes Russland (13,2 Prozent landesweit und 12,7 Prozent im Gebiet Nowosibirsk; erwartet waren sechs bis neun Prozent). Wer die Wahl hatte zwischen Kommunisten (vielen prinzipiell unsympathisch), den Liberaldemokraten unter der Führung von Wladimir Schirinowskij (von vielen nicht ernst genommen) und »Gerechtes Russland«, wählte letzteres, weil diese Partei wenigstens nicht mit negativen Attributen behaftet ist.

An den Kundgebungen für faire Wahlen, die in Nowosibirsk am 10. und 24. Dezember 2011 und am 4. Februar 2012 stattfanden, beteiligten sich nach unterschiedlichen Angaben zwischen mehreren Hundert und 4000 Menschen, darunter Parteiaktivisten, Kommunisten, Monarchisten und Anarchisten, aber auch Vertreter der neuen gebildeten Mittelschicht. Die Beteiligung der bis vor kurzem für völlig apolitisch gehaltenen Jugend an politischen Aktionen ist ein deutliches Zeichen für eine Veränderung des gesellschaftlichen und politischen Klimas.

Grund dafür sind die Veränderungen des medialen Raumes. Für die Bewohner der ländlichen Gebiete war und bleibt das Fernsehen das wichtigste Medium. Die zentralen Fernsehkanäle werden vom Kreml kontrolliert und konstruieren ein den Machteliten genehmes freundliches Bild der sozialen Realität. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass die Landwirtschaft den neuen marktwirtschaftlichen Mechanismen noch nicht vollständig unterworfen ist und hier traditionell eine paternalistische Hörigkeit gegenüber der »Macht« gepflegt wird, wird deutlich, warum die depressive Dorfbevölkerung trotz der weitverbreiteten Armut den Kreml nach wie vor unterstützt. Im Gegensatz zur Landbevölkerung haben die »digitalisierten« Städter sowohl alternative Möglichkeiten der Wahrnehmung politischer Realität als auch Mobilisierungsinstrumente, die wie zum Beispiel die sozialen Netze dafür genutzt werden können, zu Kundgebungen aufzurufen und von diesen zu berichten.

Die sinkende Beliebtheit der regierenden »Partei der Bosse« und die wachsende Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit der aktuellen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation bedeutet jedoch nicht, dass die Proteststimmen, die am 4. Dezember den Oppositionsparteien zugutekamen, auch am 4. März für deren Kandidaten abgegeben werden. Die Unzufriedenen und Protestierenden haben keine gemeinsame Zukunftsvision. Ebenso fehlt auch ein gemeinsamer Kandidat für die Rolle des »Retters des Vaterlandes«.

Der Wahlkampf selbst ist in Novosibirsk bisher kaum spürbar, nicht in den Medien, nicht im täglichen Leben. Weder die Kandidaten noch ihre lokalen Wahlbüros haben regionale Ziele formuliert. Nur ein Ereignis durchbrach die Routine - der Besuch des einzigen »frischen« Präsidentschaftskandidaten. Michail Prochorow, der zum ersten Mal zu einer Wahl antritt, kam am 27. Januar. Jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass seine Gespräche mit Unternehmern der Region den Wahlausgang beeinflussen werden, da die meisten Wähler sich traditionell nicht von den Programminhalten der Präsidentschaftskandidaten leiten lassen. Persönlichkeiten zählen mehr als Inhalte.

Deshalb gibt es in Novosibirsk zurzeit keine öffentliche Diskussion über die bevorstehenden Wahlen. Nicht, dass es keine Probleme gäbe, die diskutiert werden könnten, doch es mangelt an Diskussionsplattformen. Regionale Vertreter der politischen Parteien sind an einer Diskussion nicht interessiert. Sie beschränken sich lediglich darauf, die aus Moskau kommenden Werbeinhalte weiterzureichen.

Der Präsidentschaftswahlkampf schleppt sich also dahin, auch weil alle Beteiligten überzeugt sind, das Ergebnis bereits zu kennen. Wladimir Putin hat unvergleichlich bessere Umfragewerte, als seine Mitbewerber und auch als seine eigene »Partei der Macht«. Putin wird auch ein besseres Ergebnis bekommen als »Einiges Russland«, weil die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen in Russland traditionell um einige Prozentpunkte höher ist als bei Parlamentswahlen. Die passive Pro-Putin-Mehrheit, die nicht zu den Dumawahlen im Dezember gegangen ist (und durch die protestierende »digitalisierte« Jugend ersetzt wurde), wird diesmal wieder wählen gehen. Im Ergebnis wird sich Putin mit großer Wahrscheinlichkeit bereits im ersten Wahlgang seine dritte Amtszeit sichern. Der Leiter des Nowosibirsker »Stabes der gesellschaftlichen Unterstützung des Kandidaten Wladimir Putin« Nikolai Fomitschew will dabei 52 Prozent sicherstellen.

Die optimistischen Erwartungen des Wahlbüros wurden vielleicht auch durch den Besuch des Ministerpräsidenten am 17. Februar inspiriert. Gewiss stand Putins Besuch im Akademikerviertel in keinem Bezug zum schlechten Ergebnis von »Einiges Russland« bei den Dumawahlen in diesem Stadtbezirk. Putins Wähler und die der »Partei der Bosse« sind keine kongruenten Größen, und alles spricht dafür, dass Putin selbst sich darüber absolut im Klaren ist. Weswegen er es im Wahlkampf vorgezogen hat, sich von der Partei zu distanzieren, deren Vorsitzender er ist, und auf seine persönliche Autorität und die von ihm initiierte gesellschaftliche Organisation »Russische Volksfront« zu setzen.

Die schweigsame Putin-Mehrheit hat sich bereits für »Stabilität« entschieden. Nur die »Online-Generation« hat sich noch nicht auf ihre Variante des Protestwählens festgelegt.


(*) Dmitri Beresnjakow, Dozent am Lehrstuhl für Massenkommunikation der Fakultät für Journalistik der Staatlichen Universität Novosibirsk.

Sergej Koslow, Dozent am Lehrstuhl für Politische Wissenschaften, Nowosibirsker Filiale der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst.


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St. Petersburg: Aufstand der Mittelschicht

Von Jewgenij Konowalow*

Über einhundert Parteien gab es früher in Russland, jetzt nur noch sieben, die Gouverneure werden nicht mehr gewählt, die Gerichte haben den letzten Rest ihrer Unabhängigkeit verloren, Bürgerbewegungen und Gewerkschaften werden behindert, die Medien kontrolliert. Die meisten Russen ließen das alles geschehen, zivilgesellschaftliches Engagement war nicht an der Tagesordnung. Was auch verständlich ist - in den 1990ern ging es darum, schlicht und einfach zu überleben. Die 2000er waren ebenfalls vor allem Jahre, in denen man sein Leben sicherte, wenn auch die steigenden Rohstoffpreise dazu führten, dass der Lebensstandard sich in den wirtschaftlich aktiven Regionen dem europäischen Niveau annäherte. Aber diese Entwicklung hatte auf die Lebensqualität absolut keinen Einfluss - weder das Bildungssystem noch die medizinische Versorgung wurden besser, Teile der Bevölkerung verdienten nur mehr Geld. In Moskau und St. Petersburg entstand eine Mittelschicht, die sich eine Verbesserung ihrer Lebensqualität wünschte. Dachte man dieses Bedürfnis jedoch weiter, kam man zu dem logischen Schluss, dass eine spürbare Verbesserung des Lebens innerhalb des jetzigen politischen Systems unmöglich ist.

Mit dem autoritären Führungsstil und der wachsenden Korruption waren die Menschen schon lange unzufrieden - das zeigten schon die ersten »Märsche der Unzufriedenen«. Doch viele hofften auf eine evolutionäre Veränderung der herrschenden politischen Klasse »von oben«, auf einen neuen Präsidenten, der einen Elitenwechsel nach sich ziehen würde. Doch der neue Präsident Dmitrij Medwedew änderte absolut nichts. Schlimmer noch, der Ministerpräsident Wladimir Putin zog nach wie vor die Fäden. Als Putin erklärte, er würde zum dritten Mal für die Präsidentschaft kandidieren, erstarb die Hoffnung auf Evolution. Vielen wurde klar, dass ihnen zwölf Jahre Stagnation bevorstehen, da der neue Präsident nun für sechs Jahre gewählt wird. Was bedeutet, dass sich nicht nur die Lebensqualität nicht verbessern wird, sondern dass viele Jahre der Stagnation zu einer weiteren Degradierung der Machtstrukturen führen werden, was wiederum einen totalen Kollaps, Revolutionen und einen Zusammenbruch des Landes nach sich ziehen kann.

Die Machtelite beging einen großen Fehler, als sie Putin für eine dritte Amtszeit kandidieren ließ. Denn das ist der Anfang vom Ende dieser Elite und der Beginn einer massiven Unzufriedenheit der Bürger. Am Beispiel von St. Petersburg, der Heimatstadt von Premier und Präsident, wird dies deutlich. Noch im Sommer 2011 erreichte die einzige Oppositionspartei, Jabloko, in St. Petersburg einen Stimmenanteil von etwa fünf Prozent. Bei den Dezemberwahlen waren es trotz Fälschungen schon 12,5 Prozent. Den »wahren« Wert kann man sicherlich auf 20 Prozent schätzen. Dasselbe geschah mit »Gerechtes Russland«. Noch im Sommer fast stimmenlos, erreichte die Partei dank einer scharfen oppositionellen Wahlkampfrhetorik 23 Prozent, ungefälscht höchstwahrscheinlich sogar 25 bis 30 Prozent. Weil auch Kommunisten (KPRF, 14 Prozent) und Liberaldemokraten (LDPR, zehn Prozent) sich als Opposition positionierten, stimmte die Mehrheit der Bürger gegen die jetzige Führung.

Kaum jemand hatte an einem Sieg von »Einiges Russland« und an einer massiven Wahlfälschung gezweifelt. Doch als die Wahlen vorbei waren und das Ausmaß der Manipulationen offensichtlich wurde, riss vielen der Geduldsfaden. So kam es, dass die aktive Mitteschicht auf die Straße ging. In St. Petersburg wurden breit angelegte Wahlbeobachtungen organisiert, an denen sehr viele Bürger teilnahmen, die sich gegen Fälschungen einsetzten. Im Ergebnis gewann »Einiges Russland« lediglich 37 Prozent, also wesentlich weniger Stimmen als landesweit. Gleichzeitig wurden in St. Petersburg die meisten Manipulationsfälle registriert. Im Dezember kam es zu massiven Kundgebungen gegen Wahlfälschungen in Moskau. In Petersburg gingen wesentlich weniger Menschen auf die Straße, und doch waren es mit ca. 5.000 bis 10.000 Menschen im Dezember die größten Proteste seit zehn Jahren. Die letzte große Protestaktion in St. Petersburg war der »Marsch der Unzufriedenen« am 3. März 2007 mit 5.000 Teilnehmern. Zu den folgenden Märschen kamen im Durchschnitt 2.000 bis 3.000 Menschen, zu den darauf folgenden Aktionen für die Einhaltung des Artikel 31 der Verfassung, der die Versammlungsfreiheit garantiert, nur noch rund 500.

Der Kreml wusste nicht, wie er auf die Proteste reagieren sollte, schlug kosmetische Lösungen vor, kleine demokratische Änderungen, die den Status quo de facto bewahren würden. Die Aktionen vom 4. Februar sollten deutlich machen, ob die russische Gesellschaft bereit ist, die Pille der kommenden Putinschen Stagnation zu schlucken, oder ob der »point of no return« bereits überschritten ist. Die Proteste in St. Petersburg zeigten, dass weder Neujahrsferien noch klirrende Kälte die Menschen davon abhalten konnten, Veränderungen zu fordern. Mehr noch, die Forderungen wurden immer politischer. Am 4. Februar gingen rekordverdächtige 15 000 bis 30 000 Menschen auf die Straße, die Losung »Für faire Wahlen« wurde immer mehr von »Putin soll gehen«-Rufen verdrängt.


Die Oppositionskoalition in Sankt Petersburg

Die organisierte Opposition hatte eine derartige Aktivität der Bevölkerung nicht erwartet. Sie war sich schon lange über den Charakter der herrschenden politischen Klasse im Klaren, deshalb wunderte Putins Kandidatur niemanden mehr. Erst als viele Menschen, die bisher nirgends organisiert waren, sich als Wahlbeobachter engagierten, kam die Vorahnung einer Veränderung auf. Im Weiteren wurde deutlich, dass die Opposition, wenn sie die zivilgesellschaftlichen Proteste unterstützen will, Konsolidierung und Koordination zu lernen hat.

Ein paar Worte zur Petersburger Oppositionslandschaft: 2007 vereinigten sich 30 oppositionelle Organisationen zum Koordinationsrat der Petersburger Opposition (KSPO). Dazu gehörten die Partei Jabloko, die Soldatenmütter, die Jugendbewegung Oborona (Verteidigung), der Russische Sozialdemokratische Jugendverband (RSDSM), die Vereinigte Bürgerfront, die Nationalbolschewistische Partei, die »Avantgarde der kommunistischen Jugend« und mehrere Umwelt- und Bürgerrechtsbewegungen. Der Koordinationsrat der Petersburger Opposition organisierte vor allem die »Märsche der Unzufriedenen«, die zentrale Rolle spielte zweifellos die Partei Jabloko. Viele hatten ein Problem mit der Beteiligung der Nationalbolschewistischen Partei an der Koalition, doch die Aktivisten der Partei versicherten, sie hätten sich geändert und seien keine Nationalisten mehr, sondern Kämpfer für die Demokratie. Schlussendlich zerfiel der KSPO ohne äußere Einflüsse. Die einzelnen Mitglieder arbeiteten jedoch weiter zusammen, vor allem bei der Organisation der »demokratischen Kolonne« bei den Demonstrationen zum 1. Mai.

Eine weitere Vereinigung oppositioneller Kräfte fand 2009 unter dem Label »Xenophobii.Net« (Xenophobie.Nein) statt. Wie der Name schon verrät, steht hier der solidarische Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit im Mittelpunkt. Mehr als 30 Initiativen wurden Mitglied, darunter auch die Lesben- und Schwulen-Organisation »Coming out«. Damit gingen erstmals in Russland politische Kräfte eine Koalition mit der Lesben- und Schwulen-Gemeinschaft ein.

Die ersten Proteste nach den Dezemberwahlen 2011 wurden recht unkoordiniert von Studenten organisiert. Diese legten jedoch aufgrund mangelnder Erfahrung die Organisation der Demonstrationen bald in die Hände politischer Organisationen. Nach den ersten Protesten nahmen die Nationalisten immer mehr Raum ein und nutzten die Bürgerproteste für die Propaganda ihrer Ideen, so dass immer häufiger fremdenfeindliche Losungen zu hören waren. Daraufhin gründeten Mitglieder der Gruppierungen RSDSM, Coming Out, Oborona, Solidarnost und der Liga der Wählerinnen am 18. Dezember die Bewegung »Für faire Wahlen«, die sich zum Ziel stellt, Protestaktionen ohne Beteiligung nationalistischer Kräfte durchzuführen und Wahlbeobachtungen zu organisieren. Der schnell wachsenden Bewegung gehören inzwischen über 30 Vereinigungen an.

Die nationalistischen Organisationen gründeten ein eigenes »Bürgerkomitee«, dem außer den Nationalisten selbst ein paar im Kontext einer demokratischen Bewegung anrüchige Aktivisten beitraten. Nachdem zur Protestaktion der Bewegung »Für faire Wahlen« wesentlich mehr Menschen gekommen waren als zur Veranstaltung der Nationalisten, wurde dem Bürgerkomitee klar, dass die Nationalisten die Demokraten brauchen, um nicht am Rand des politischen Spektrums zu landen. Im Januar 2012 begannen hartnäckige Versuche, die Bewegung »Für faire Wahlen« von einer gemeinsamen Protestaktion mit dem Bürgerkomitee zu überzeugen. Nach langwierigen skandalträchtigen Verhandlungen willigte die Bewegung ein, eine gemeinsame Aktion durchzuführen, jedoch nur unter der Bedingung, dass keinerlei nationalistische Symbole gezeigt würden und radikale Nationalisten keine Redezeit erhielten. Bei der gemeinsamen Aktion am 4. Februar 2012 brach das Bürgerkomitee alle Versprechen, woraufhin die Bewegung »Für faire Wahlen« den Beschluss fasste, in keinerlei Verhandlungen mehr mit dem Bürgerkomitee zu treten.

Da in St. Petersburg bereits seit einiger Zeit die Koalition »Xenophobii.Net" existiert, gibt es hier einen selbstbewussten oppositionellen Kern, der nationalistische Bestrebungen prinzipiell ablehnt. Daraus lässt sich die Hoffnung schöpfen, dass die Bürgerproteste auch weiterhin demokratischen Charakter tragen und alle Versuche der Nationalisten, sich an ihre Spitze zu setzen oder ihren Einflussbereich zu erweitern, zum Scheitern verurteilt sein werden.


Ausweg aus der Sackgasse

Wenn Putin Präsident wird, wäre aus der Sicht der Opposition folgendes ideales Szenario wünschenswert: Das politische System Russlands wird von einer präsidialen in eine parlamentarische Republik umgewandelt, die Vollmachten des Präsidenten auf ein Minimum beschränkt. Danach sollte die Registrierung neuer Parteien per Gesetz vereinfacht und die Zugangshürde zur Duma gesenkt werden, worauf vorzeitige Wahlen zum Parlament durchgeführt werden. Somit könnte Putin russischer Präsident bleiben, würde jedoch keine relevante politische Rolle mehr spielen. Das Land könnte die Möglichkeit einer weiteren evolutionären Entwicklung seiner demokratischen Institutionen wahrnehmen.

Für die Opposition und die Zivilgesellschaft sind dabei zwei Aspekte wichtig: Einerseits muss weiterhin Druck auf die herrschende politische Elite ausgeübt werden, um eine evolutionäre Entwicklung des politischen Systems zu erreichen. Andererseits muss alles getan werden, um eine Machtübernahme nationalistischer Kräfte auf der Welle der Proteste zu verhindern. Um diese Ziele zu erreichen, muss eine breite Koalition gegründet werden, zu deren Kern gemäßigte linke und rechte Kräfte gehören, die für eine parlamentarische Republik eintreten und Koalitionen mit den Nationalisten ablehnen. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, dass zivilgesellschaftliche Proteste, die sich von den Nationalisten distanzieren, von den Bürgern nicht weniger, sondern mehr Zustimmung erhalten. So werden die Nationalisten an den Rand des politischen Spektrums gedrängt werden können.

Niemand kann genau vorhersagen, was Russland im kommenden Jahr erwartet. Doch allen ist klar, dass uns eine Zeit der Veränderungen bevorsteht. Es wird von den Bürgern Russlands und ihrem Engagement abhängen, ob die Veränderungen positiv oder negativ sein werden.


(*) Jewgenij Konowalow, Vorsitzender des Russischen Sozialdemokratischen Jugendverbandes (RSDSM), Mitglied des Exekutivkomitees der Bewegung »Union der Sozialdemokraten«, Mitglied des Organisationskomitees der Bewegung »Für faire Wahlen«.


Über die Herausgeber

Felix Hett ist Referent für Osteuropa im Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.
Reinhard Krumm ist Leiter der Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Russischen Föderation.



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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2012