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TÜRKEI/011: Nach dem Referendum - Innen- und außenpolitische Perspektiven (spw)


spw - Ausgabe 3/2017 - Heft 220
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Meinung
Nach dem Referendum: Innen- und außenpolitische Perspektiven der Türkei

von Gülistan Gürbey


Am 16. April 2017 fand in der Türkei das Referendum für die Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems statt. Nur eine knappe Mehrheit von 51,4 Prozent stimmte dafür, obwohl die regierende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) gemeinsam mit dem nationalistischen Bündnispartner MHP (Nationalistische Aktionspartei) die gesamte Kampagne bestimmte, wohingegen die Gegner der Verfassungsänderung nicht die gleichen Chancen hatten. Die Verfassungsänderung wurde von einem breiten Spektrum u.a. der CHP, der HDP/DBP, linken Gruppen und Berufsvereinigungen abgelehnt. 48,6 Prozent stimmten dagegen, wobei die Ablehnung vor allem in den drei größten Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir sowie in Gebieten mit höherer Industrieproduktion und Tourismus und unter der Bevölkerung mit höherer Ausbildung und Einkommen überwog. Die Verfassungsänderungen umfassen insgesamt 18 Artikel und treten spätestens am 3. November 2019 vollends in Kraft, wenn Staatspräsident und Parlament zum ersten Mal am gleichen Tag gemeinsam gewählt werden.

Defizite beim Referendum

Die unfairen Bedingungen für die Referendum-Kampagne, Veranstaltungsverbote, Grundrechtsverletzungen sowie erhebliche Unregelmäßigkeiten am Abstimmungstag werfen einen Schatten auf das demokratische Verfahren und die Legitimität des knappen Ergebnisses. Weder die Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit noch die fast völlige staatliche Kontrolle der Medien und der massive staatliche Propagandaeinsatz bewirkten ein überzeugendes "Ja" zu diesen Verfassungsänderungen. Die Opposition und Kritiker der Verfassungsänderung, insbesondere die progressive, kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) und ihr kommunaler Ableger DBP (Partei der demokratischen Regionen), hatten so gut wie keinen Medienzugang, während Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Regierungsvertreter die staatlichen Ressourcen nutzen konnten und die Kritiker der Verfassungsänderung in die Nähe des Terrorismus stellten. Mit Verweis auf den Ausnahmezustand wurden Veranstaltungen der Gegner verboten. Nach Angaben der Opposition wurden 1,5 Millionen Stimmzetteln und Wahlumschläge ohne gesetzlich vorgesehene Stempel dennoch vom Nationalen Wahlkomitee für gültig erklärt. Auch stehen nach wie vor Vorwürfe im Raum, dass in einigen Wahllokalen HDP-Mitglieder der Urnenkomitees von den Sicherheitskräften an der Ausübung ihrer Pflichten gehindert wurden und es zu Blockstimmen kam. Die Opposition hatte Wahlbetrug beklagt und erfolglos eine Annullierung der Volksabstimmung gefordert. Nicht zuletzt beanstandeten die Wahlbeobachter der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) die unfairen Bedingungen im Vorfeld der Abstimmungen und Vorfälle während des Abstimmungstags.

Zäsur im Prozess der Errichtung der "Neuen Türkei"

Der angenommene Verfassungsentwurf ist eine Zäsur im Prozess der Errichtung einer "Neuen, starken Türkei" unter der Führung des "starken Mannes" Erdogan: Er zementiert den autoritären Staats- und Regierungskurs unter Erdogan verfassungsrechtlich. Spätestens seit der brutalen Niederschlagung der regierungskritischen Gezi-Proteste im Sommer 2013 nahm dieser Kurs an Ausmaß und Intensität zu. Seither läuft der ideologisch geleitete Staats- und Gesellschaftsumbau auf Hochtouren, dessen Eckpfeiler ein Hyper-Nationalismus, Autoritarismus, Politischer Islamismus und Neo-Osmanismus sind. Ziel ist es, unter der Führung von Präsident Erdogan einen omnipotenten, unangreifbaren Staat zu errichten, der den Bürger in seinem Dienste sieht sowie eine Gesellschaft nach genuinen ideologischen Werten zu formieren. Es gilt, diese "Neue Türkei" mit der imperialen osmanischen Vergangenheit zu vereinen und zur hegemonialen Führungsmacht in ehemals osmanisch beherrschten Gebieten zu machen. Vor allem der erneute Krieg gegen die verbotene PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), die Repressionen gegen die kurdische HDP/DBP seit Juli 2015, der gescheiterte Militärputsch vom Juli 2016 und der Krieg in Syrien beschleunigten diesen anti-demokratischen Kurs dramatisch.

Der Verfassungsentwurf besiegelt nunmehr diesen Kurs und ebnet den Weg für ein nichtdemokratisches, autokratisches Präsidialsystem. Er bündelt die ungeteilte Macht beim Präsidenten und höhlt zugleich die Gewaltenteilung und die parlamentarisch-demokratischen Kontrollmechanismen aus.

Entfernung von der Werteordnung der EU

Mit diesem autoritären Entwicklungskurs hat sich die Türkei längst von demokratischen Standards und vom Konzept der liberalen Demokratie der EU entfernt. Auch Berichte der Venedig-Kommission vom 13. März 2017, der OSZE vom 17. April 2017, der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 25. April 2017 sowie des Europäischen Parlamentes vom 26. April 2017 bestätigen diesen Kurs. Die Türkei steht nunmehr künftig unter der Beobachtung des Europarates, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen. Hingegen sieht die türkische Regierung "bösartige Kreise" hinter dieser Entscheidung. Präsident Erdogan heizt durch seine anti-westliche Rhetorik und seinen Konfrontationskurs das "Feindbild Westen" weiter an, stellt gleichzeitig der EU ein Ultimatum und strebt Referenden für die Einführung der Todesstrafe und für ein sogenanntes "Turkexit" offen an. So ist die Türkei demokratiepolitisch längst nicht mehr EU-kompatibel. Aktuell würde sie die politischen Kriterien von Kopenhagen wohl kaum erfüllen, deren Erfüllung eine Voraussetzung für die Aufnahme der Beitrittsgespräche im Oktober 2005 war. Die logische Konsequenz dieser Entwicklungen wäre die Aussetzung oder der Abbruch der ohnehin stagnierenden Beitrittsgespräche.

Der angenommene Verfassungsentwurf verfestigt nunmehr den bereits laufenden Entfremdungsprozess zwischen der EU und der Türkei auf der Werteebene. Die Folge ist ein Handlungsdilemma für die EU. Einerseits ist die Basis für eine zuverlässige Partnerschaft fragiler geworden. Denn je mehr die Wertegrundlagen auseinanderdriften, umso mehr wird die Türkei zu einem zunehmend unkalkulierbaren und unberechenbaren Partner. Andererseits sind die EU und die Türkei auch jenseits der Kooperation in der Flüchtlingsfrage immer noch wirtschaftlich, energiepolitisch und strategisch eng miteinander verzahnt. Die Türkei ist ein wichtiges Glied in der Wertschöpfungskette der EU. Nicht zuletzt beeinflusst die menschliche Dimension die Beziehungen, da innerhalb der EU viele Migrantinnen und Migranten aus der Türkei leben. Aus Sicht der türkischen Regierung ist aber die gezielte Einflussnahme auf Auslandstürken ein unverzichtbarer, integraler Bestandteil ihrer hegemonialen Außenpolitik.

Die EU steckt weiterhin in der Zwickmühle, sie hat nicht viele Handlungsoptionen: Dezidiert für die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen einzutreten, kann sie nicht mehr glaubwürdig vertreten, da die Erosion der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Kern mit dem demokratiepolitischen Selbstverständnis der EU kollidiert. Sie könnte die Beitrittsverhandlungen bis auf weiteres auf Eis legen oder endgültig beenden und dennoch die wirtschaftliche, energiepolitische und strategische Kooperation mit einer autoritären Türkei fortsetzen. Sie hat aber auch die Chance, unabhängig von der Entscheidung, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen oder abzubrechen, unter Anwendung des Konditionalitätsprinzips wirksame Hebel vor allem im Bereich der Wirtschaft und des Handels einzusetzen. Nach wie vor ist die EU der größte Handelspartner der Türkei und die EU-Investitionen sind für die türkische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Durch eine konsequent und klug einzusetzende Konditionalität zwischen demokratischen Fortschritten und wirtschaftlich-finanziellen Anreizen hätte die EU die Chance, wirksam demokratiepolitischen Einfluss zu nehmen und gleichzeitig ihre Glaubwürdigkeit zu steigern.

Parameter der Agenda nach dem Referendum

Auch nach dem Referendum und unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes ist weder eine Änderung des autoritären innenpolitischen noch aggressiven außenpolitischen Kurses zu erwarten. Die Verhaftungswellen und der staatliche Druck auf die Medien halten an. Vordergründig ist für Staatspräsident Erdogan und die Regierung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die für 2019 vorgesehenen Kommunal-, Präsidenten- und Parlamentswahl zu gewinnen. Davon wird das Wahlergebnis in zwei Jahren abhängen, wenn sich Erdogan erstmals zum Präsidenten mit absoluten Vollmachten als Staatspräsident, Parteivorsitzender und Regierungschef küren lassen will.

Nach einem außerordentlichen Parteitag unter dem Slogan "Demokratie - Wandel - Reform" am 21. Mai 2017 steht Präsident Erdogan wieder formal an der Spitze seiner Partei, auf die er de facto ohnehin entscheidenden Einfluss hatte. Als Parteichef kann er nun im Alleingang die AKP-Wahllisten bestimmen, ihm unangenehme Namen streichen und so parteiinternen Gegnern und Kritikern die politische Zukunft in der Partei verbauen. Er stellt die Kandidaten für Wahlen zusammen und bestimmt erheblich die Personalentscheidungen. Ferner wurde der von Präsident Erdogan und der AKP verwendete "Rabia-Gruß" erstmals zum Bestandteil des Parteiprogramms. Er steht symbolisch für die nationalistische Politik "Ein Vaterland, ein Staat, eine Nation, eine Flagge".

In seiner Parteitagsrede sprach Präsident Erdogan von einer Rückkehr nach "1044 Tagen der Trennung" und von einer "neuen Ära". Den knappen Ausgang des Referendums hat er als Warnsignal vernommen, da es nicht einfach sein wird, neue Stimmen zu generieren. Für einen absoluten Erfolg bei der Wahl 2019 braucht Präsident Erdogan 50 plus 1. Um das zu erreichen, setzt Präsident Erdogan auf eine strategische Erneuerung seiner Partei u.a. durch personelle Verjüngung. Es geht nicht um eine grundsätzliche Änderung der inhaltlichen Prinzipien der AKP. Vielmehr geht es um den Aufbau einer starken, jungen und dynamischen AKP, die schnell, erfolgreich und effektiv vor Ort agiert. So kündigte Erdogan an, zu diesem Zweck die Institutionen der Partei und die von AKP geführten Kommunen einer Überprüfung zu unterziehen. Auch geht es darum, die Partei von Widersachern und von einigen verbliebenen Anhängern des ehemaligen Weggefährten und mittlerweile größtem Staatsfeind Fethullah Gülen zu säubern. Ferner wurde die vom Parteitag genehmigte Liste für den Parteivorstand bis zu 40 Prozent geändert und mit jungem Kader (18- bis 25-Jährige) besetzt. Bis Ende des Jahres sollen die Parteiorgane erneuert und die Stadt- und Bezirksverbände mit jungen Kadern verstärkt werden. Um alle Bürger zu erreichen, soll auch wieder stärker auf die erfolgreiche Politik der spontanen Hausbesuche der AKP zurückgegriffen werden. Um 50 plus 1 zu sichern, werden aber auch neue Stimmen erforderlich sein. Dazu werden die Beziehungen zu islamischen, liberalen und kurdischen Kreisen gezielt gesucht werden. Darüber hinaus sind wirtschaftliches Wachstum zusammen mit demokratischen Schritten weitere Parameter der Agenda bis 2019. Zielvorgabe für wirtschaftliches Wachstum ist sechs Prozent und nicht unter fünf Prozent. Entwicklung soll u.a. durch Umsetzung von Mega-Projekten (z. B. dritter Flughafen in Istanbul) forciert werden. Zu demokratischen Schritten zählt z. B. die Überlegung, die Zehn-Prozent-Wahlhürde zu reduzieren.

In seiner Parteitagsrede thematisierte Präsident Erdogan auch die Beziehungen zur EU. Während er einerseits der EU vorwarf, "wegen der heuchlerischen Haltung" die Beziehungen in eine Sackgasse geführt und mit ihrer abweisenden Haltung mit der "Ehre der Nation" gespielt zu haben, bekräftigte er andererseits den Willen, weiter über einen Beitritt zu verhandeln und nannte drei Bedingungen (Visafreiheit, Auszahlung der Gelder im Rahmen des Flüchtlingsabkommens, Erneuerung der Zollunion und Eröffnung neuer Beitrittskapitel). Gleichwohl hob er hervor, dass die Türkei Alternativen habe und nannte Indien, China und Russland als Partner, mit denen jüngst wichtige wirtschaftliche und strategische Vereinbarungen getroffen wurden.

Zu erwarten ist, dass sein aggressiver nationalistischer Wahlkampfmodus mindestens bis 2019 anhalten wird, um die Zustimmung der Bevölkerung bis zur Wahl 2019 aufrechtzuerhalten. Diesem Ziel sind alle parteipolitischen Entscheidungen, aber auch die Regierungsentscheidungen, untergeordnet. Für kontroverse Diskussionen um politische Inhalte gibt es weder in der Gesellschaft noch innerhalb der AKP Raum. Jede parteiinterne kritische Diskussion wird als Verrat an der Mission bewertet. Eine parteiinterne Demokratie und Debattenkultur gibt es aber auch in der türkischen Parteienlandschaft (bis auf die kurdische HDP) nicht. Aus dieser strategisch-strukturellen und inhaltlichen Schwäche vor allem der größten Oppositionspartei CHP profitieren Erdogan und seine AKP bis heute ununterbrochen. Hingegen gibt es derzeit keine Anzeichen für substantielle Erneuerungen bei der CHP, so dass die Zukunftschancen für Erdogan und seine AKP auch weiterhin nicht allzu sehr geschmälert sind.


Dr. habil. Gülistan Gürbey ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Frieden und Konflikt, Politische Systeme und De Facto Staaten im Nahen Osten mit Focus auf der Türkei, Zypern und Kurdistan.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2017, Heft 220, Seite 10-13
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2017

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