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USA/351: Die amerikanische Linke und der Geist des Widerstands (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012

Wo ist der Sturm in der Atmosphäre?
Die amerikanische Linke und der Geist des Widerstands

von Ned Brown



Warum ist die amerikanische Linke so passiv, wenn es darum geht, zu aktuellen Widerstandsbewegungen eine Position zu beziehen? Sollte der linke Flügel der Demokratischen Partei - natürlich inhaltlich gewendet - nicht viel eher der leidenschaftlichen Tea Party-Bewegung nacheifern und nicht sogar den Konfrontationskurs der "Occupy Wall Street"-Bewegung übernehmen? Einblicke in das Denken der Linken in den USA.


"Der Geist des Widerstands gegen die Regierung ist bei bestimmten Gelegenheiten so wertvoll", schrieb Thomas Jefferson 1787, "dass ich ihn immer lebendig halten möchte. Dieser Geist wird oft an falscher Stelle ausgeübt werden, doch ist das besser als dessen Nicht-Ausübung. Ich mag ab und zu ein bisschen Rebellion. Sie ist wie ein Sturm in der Atmosphäre".

Der Geist des Widerstands zeigt sich in den Vereinigten Staaten in periodisch wiederkehrenden Abständen. Normalerweise findet man ihn links von der politischen Mitte. Dort gilt Jefferson als einer der wichtigsten geistigen Gründungsväter Amerikas. In seinem Anti-Etatismus, seinem Anti-Elitarismus, seiner Ideologisierung des kleinen, rechtschaffenen, bescheidenen, selbstversorgenden Landbewohners ("Jeffersonian Ideal") fühlt sich gegenwärtig aber auch die ultra-libertäre Tea Party zuhause. In ihrem Fokus steht die Kritik an der exklusiven "Politischen Klasse", die sich ihrer Ansicht nach in den Metropolen an der Ost- und Westküste gebildet hat und das Land fest im Griff hält, die sich selbst an den Eliteuniversitäten der USA reproduziert und so durch soziale Schließung den "American Dream", die Idee, dass jeder mit harter Arbeit alles erreichen kann, verraten hat.

2011 entstand mit ähnlicher Kritik die eher links stehende "Occupy Wall Street"-Bewegung, um die die amerikanischen Linkspolitiker jedoch vorläufig einen großen Bogen machen. Letztere äußern sich nur selten und verhalten über den Geist des Widerstands. Eher scheint die Linke der Hoffnung verfallen zu sein, dass die Ultra-Libertären und Radikalen die Wähler schon verschrecken und sich selbst strangulieren werden.

Braucht linksgerichtete Politik in den USA aber nicht den Geist des Widerstands? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir einen Blick in die Nachkriegszeit werfen.


Ein Gott, der keiner war

Nach den Enthüllungen über die Schreckensherrschaft Stalins in den 40er und 50er Jahren waren viele linke Intellektuelle, sowohl in Europa als auch in Amerika, im Hinblick auf den Kommunismus desillusioniert. Diese Desillusionierung kam z.B. in dem 1950 veröffentlichten Buch The God That Failed ("Ein Gott, der keiner war") zum Ausdruck. Darin schworen Arthur Koestler, Ignazio Silone, Richard Wright, Stephen Spender und andere frühere Kommunisten und Sympathisanten ihrem "Glauben" ab.

1958 wurde Isaiah Berlins berühmter Aufsatz "Two Concepts of Liberty" veröffentlicht, in dem der Philosoph zwischen "negativer Freiheit" und "positiver Freiheit" unterschied. Allgemein wird der Aufsatz als Warnung vor großen allumfassenden Systemen interpretiert, die sich auf eine einzige Wahrheit oder einen einzigen zentralen Wert konzentrieren. Doch wurde Berlins Freiheitsbegriff weitgehend falsch interpretiert: Seine Formulierungen wurden nicht nur gegen den Kommunismus, sondern auch gegen den Wohlfahrtsstaat und gegen Wirtschaftsregulierung jeglicher Art verwendet.

Bereits 100 Jahre zuvor, Mitte des 19. Jahrhunderts, äußerte sich Alexis de Tocqueville folgendermaßen bezüglich des amerikanischen Temperaments: Wenn eine Idee den amerikanischen Geist in Besitz nehme, ob diese nun gerecht oder unvernünftig sei, dann sei nichts schwieriger als diese mit der Wurzel wieder auszureißen. Die Publikation von The God That Failed, die Missdeutung von Isaiah Berlin und spätere einschneidende Ereignisse, wie etwa der Fall der Mauer haben dazu geführt, dass das Diskreditieren sozialen politischen Handelns zu einer Art fixer Idee in der amerikanischen Politik wurde. Die amerikanische Linke heute ist folglich eingeschüchtert und eher zurückhaltend, wenn es darum geht, Lösungskonzepte für die sozialen Probleme in den USA vorzulegen.


"Bürgerliches Verhalten" als Universalelixier

Tocqueville schrieb auch: "In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt!". Diese Grenzen beziehen sich auf das Konzept der sogenannten "civility", deren Verhaltenskodex selbst weniger radikale politische Änderungsvorschläge ausschließt. "Bürgerliches Verhalten" ist ungefähr die deutsche Entsprechung zum englischen "civility", dem etwas unscharfen Begriff, der in den letzten Jahren zum Mantra der Demokraten wurde. Ralf Dahrendorf zitierte Timothy Garten Ash bezüglich der Bedeutung von "civility" wie folgt: "Menschen sollen 'bürgerlich' sein in ihrem Verhalten; das heißt höflich, tolerant und vor allem gewaltlos".

Erst seit kurzem scheint Präsident Obama seine Stimme direkt gegen die Republikaner zu erheben. Meistens rief Obama zuvor unrealistischerweise zum parteiunabhängigen Vorgehen auf. Demokraten und Republikaner müssten an den Problemen zusammenarbeiten. Um das zu ermöglichen, solle man sich auf das "bürgerliche Verhalten" berufen. Eine ganze "Industrie" ist mittlerweile um diesen Begriff entstanden, inzwischen ist "civility" auch die redaktionelle Leitlinie vieler Zeitungen. Es wurde sogar eine Stiftung zur Förderung von "civility" gegründet - mit Bill Clinton und George H. W. Bush als Ehrenvorsitzenden.

Diejenigen, die die amerikanische Revolutionstradition domestizieren - falls nicht gar kastrieren - möchten, zitieren vornehmlich die von Martin Luther King, Jr. geführte Bürgerrechtsbewegung. Nach Ansicht dieser Leute wurde eine soziale Verbesserung erreicht, ohne vom bürgerlichen Verhalten abzuweichen. Dieses Beispiel ist aber aus dem Zusammenhang gerissen: Doktor Kings Bewegung wurde von vielen Weißen zwar als moralisch gerecht angesehen, aber auch als Alternative zu den Gewalttaten mancher Schwarzer, welche Mitte der 60er Jahre von der "Black Power"-Bewegung begangen wurden. Nur wenige glaubten auch in den 50er Jahren, dass die schwarze Bevölkerung - besonders nach ihrem Dienst für das Vaterland im Zweiten Weltkrieg - bereitwillig wieder ihre alte untergeordnete Stellung einnehmen würden. Zugleich machten sich die Weißen Sorgen um einen möglichen Gewaltausbruch, sollten die Bemühungen der Schwarzen zunichte gemacht werden.


Androhung von Unordnung

Hinter den meisten grundlegenden Änderungen im amerikanischen politischen System steht die Androhung von Unordnung. Im Jahr 1968 bespielsweise, nach der Tet-Offensive, schrieb die Staatstheoretikerin Hannah Arendt aus New York an Martin Heidegger, dass der Widerstand im Land außerordentlich sei. Dies war allerdings nur der Anfang: Die Konfrontationen zwischen den Anti-Kriegs-Demonstranten und der Polizei hatten eben erst begonnen. Angesichts der Unnachgiebigkeit der Behörden und des ungeheuren Ausmaßes an militärischem Schrecken kam es nicht nur zu der Androhung von Ungehorsam, sondern tatsächlich zum Aufruhr. Obwohl die Demonstrationen den Krieg nicht beendeten, stürzten sie immerhin den Präsidenten Lyndon B. Johnson.

Es bietet sich an, die Ereignisse der Vietnam-Ära mit zwei späteren Entwicklungen zu vergleichen. Einerseits mit der Protestkundgebung im Jahr 1982 in New York gegen die Aufrüstung des Atomwaffenarsenals unter Ronald Reagan und andererseits mit der Demonstration im Jahr 2003, ebenfalls in New York, gegen den bevorstehenden Irak-Krieg. Laut Pressemitteilungen war erstere der größte politische Aufmarsch in der Geschichte der Nation. Letztere Veranstaltung war ähnlich groß und ähnlich harmlos im Verlauf. Die Ergebnisse dieser riesigen aber überaus zivilen Protestkundgebungen tendieren gegen Null. Reagans Aufrüstung ging unvermindert weiter, George W. Bush startete wenige Wochen nach der Demonstration davon unbeeindruckt seinen Feldzug.

Bereits Tocqueville befürchtete, dass sowohl der Hang zu materiellen Freuden als auch ein übermäßiges Vertrauen in die Regierung bei den Amerikanern zu einer geringeren Beteiligung an der Demokratie führen könnten. Wie Richard Sennett bemerkte, könnten die Menschen deshalb keine große Begeisterung für nationale politische Partizipation hegen, weil diese wiederum die Stabilität ihres Privatlebens gefährden könnte. Tocquevilles beschreibt dieses Phänomen mit den Worten: "Wenn die Bürger fortfahren, sich immer enger in den Umkreis ihrer kleinen häuslichen Interessen einzuschließen, um darin ruhelos tätig zu sein, so ist zu befürchten, daß sie zuletzt unzugänglich werden für jene großen und mächtigen öffentlichen Erregungen, die die Völker verwirren, sie aber vorwärtstreiben und erneuern".


Ein Sturm in der Atmosphäre

Kann dieses Problem jemals gelöst werden, wenn die Linke künftig nicht mehr fähig sein sollte zu einer ausdauernden Beteiligung an großen Protesten und zivilem Ungehorsam? Hier kann erneut auf Thomas Jefferson zurückgegriffen werden, der die Frage stellte: "Welches Land kann seine Grundrechte bewahren, wenn seine Herrscher ab und zu nicht gewarnt werden, dass sich die Menschen den Geist des Widerstands bewahren?" In ihrem 1963 veröffentlichen Buch On Revolution (Über die Revolution) schrieb Hannah Arendt Jefferson die wichtige Erkenntnis zu, dass die amerikanischen Denker der Nachrevolutionsperiode es versäumt hätten, dafür zu sorgen, dass der revolutionäre Geist, der ja erst zur Unabhängigkeit und Gründung der Republik geführt hatte, lebendig blieb.

Im Jahr 1787 reagierten beide, die Begründer der US-Verfassung in Philadelphia und Jefferson in Paris, auf einen kleinen Bauernaufstand in Massachusetts mit dem Namen "Shays's Rebellion". Dieser von berechtigten Beschwerden ausgelöste Aufstand versetzte die begüterten Verfassungsväter derart in Angst, dass sie Gesetze erließen, welche solche Aufstände in Zukunft unmöglich machen sollten. Andererseits war dieselbe Rebellion für Jefferson die Art "Sturm in der Atmosphäre", der nicht abzuwenden war. Im Gefolge der blutigen Französischen Revolution habe Jefferson, wie Hannah Arendt bemerkte, nicht so sehr Rebellion und Zerstörung des Alten, als vielmehr Neugründung und Aufbau hervorgehoben. Doch blieb für ihn folgende Frage von zentraler Bedeutung: Wie können die Menschen aktiv an ihrer eigenen Regierungsführung teilnehmen?

Hannah Arendt kam zu dem Schluss, dass sich in allen revolutionären Situationen, von der Französischen Revolution über die Revolution von 1848, die Pariser Kommune und 1905 in Russland bis in ihre eigene Zeit automatisch Räte gebildet hatten. Während der Februarrevolution 1917 entstanden plötzlich Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, die laut Arendt im Vergleich zum Parteiensystem allgemein besser akzeptiert waren, da sie in revolutionären Zeiten diejenigen Räume darstellten, in denen "konkrete Freiheit" existieren konnte. Die Parteien seien im Gegensatz dazu nicht als Organe der Volksmacht anzusehen, sondern vielmehr als sehr wirksame Hilfsmittel, durch welche eben gerade diese Macht des Volkes eingeschränkt und kontrolliert würde, schrieb Arendt.

Obwohl der Philosoph Karl Jaspers, mit dem Arendt korrespondierte, behauptete, dass bei der Entstehung einer echten Regierung die Räte ihre Bedeutung verlieren würden, erinnerte er sich ebenfalls positiv an die Rätezeit in Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs: "Erstaunlich war, daß für die kurze Zeit, wie von selbst, durchweg Ordnung blieb."

Arendt legte somit, wie auch Jefferson, besonderes Gewicht auf die Beteiligung der Menschen an der Regierungsführung. Beide sahen die Notwendigkeit, neue Wege zu beschreiten. Beide zögerten auch nicht, sich hohe Ziele zu setzen, und sie konnten dabei ein gewisses Maß an Unordnung tolerieren. Man kann auch erahnen, dass keiner von beiden dem Begriff der "civility" für die Lösung großer sozialer Probleme eine hohe Bedeutung beigemessen hatte.

Um auf die ursprünglich gestellte Frage zurückzukehren: Sollte der linke Flügel der Demokratischen Partei der Leidenschaftlichkeit der Tea-Party- oder der "Occupy Wall Street"-Bewegung nacheifern und bedarf es des Geistes des Widerstands heute noch? Falls die heutige Linke erneut den sozialen Fortschritt gewinnen möchte, dann muss die Antwort lauten: Ja!


Ned Brown (*1946) ist Rechtsanwalt, der über amerikanische Politik und zu anderen Themen publiziert.
(nedbrown55@gmail.com)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012, S. 26-30
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2012