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USA/397: "Das andere Amerika" - Armut, Ungleichheit und Fragmentierung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2017

"Das andere Amerika": Armut, Ungleichheit und Fragmentierung

von Dietmar Herz


Die Weltwirtschaftskrise der frühen 30er Jahre führte zu einer grundlegenden Neuausrichtung der amerikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Franklin D. Roosevelts New Deal und dessen Fortsetzung und Modifikation durch Harry S. Trumans Fair Deal begründeten den amerikanischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts. Die Wurzeln der am Konzept des Wohlfahrtsstaates ausgerichteten Politik liegen jedoch tiefer.

Während der Präsidentschaft von Chester A. Arthur (1881-1885) erreichte das Gilded Age (Mark Twain) seinen ersten "Höhepunkt". Der Bürgerkrieg war keineswegs vergessen, die Verletzungen stets präsent, aber die Entwicklung der Vereinigten Staaten bekam eine ungeahnte Dynamik: Die Erschließung des Westens wurde vollendet; der Anbau von Weizen wurde auf immer größere Flächen ausgedehnt und die Produktion von Rindfleisch erfolgte in solch großem Umfang, dass die USA zu einem Hauptexporteur von Nahrungsmitteln wurden. Im Nordosten entwickelte sich die Stahlproduktion und stimulierte eine schnell an Fahrt gewinnende Industrialisierung. Der Eisenbahnbau (1885 gab es bereits 140.000 Meilen Eisenbahngleise) führte das Land immer enger zusammen. Der wirtschaftliche Erfolg zog auch immer mehr Einwanderer aus Europa in die USA: In den 1870er Jahren waren es etwa 2,2 Millionen, in den 1880er Jahren bereits mehr als fünf Millionen. Es war auch die Zeit eines entfesselten "Raubtierkapitalismus": Industriemagnaten wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie, John Pierpont Morgan oder William Henry Vanderbilt erwarben große Vermögen und kontrollierten weite Teile der Industrie und der Infrastruktur (vor allem der Eisenbahn). Die rasante wirtschaftliche Entwicklung hatte eine Schattenseite: Kleine Farmer verarmten, Einwanderer aus Irland oder Italien lebten in Gettos, die Arbeiter mussten in den expandierenden Fabriken um ihre Rechte kämpfen - manchmal auch mit Gewalt und meist vergebens. Xenophobe Grundhaltungen machten sich breit. Vor allem als die USA zwischen 1893 und 1897 von der härtesten Wirtschaftskrise ihrer bisherigen Geschichte getroffen wurden.

Die Jahre des Gilded Age führten zur Gründung und zum Aufschwung der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung - ein langsamer und zäher Prozess im industrialisierten Nordosten. Anders im Süden: Während die Industrialisierung im Norden fortschritt, regierte südlich der Mason-Dixon-Linie weiterhin King Cotton. Der Verkauf von Baumwolle erbrachte um 1860 rund zwei Drittel der Gesamterlöse, die die USA im Außenhandel erzielten. Der Süden verpasste den industriellen Anschluss. Größere Industrieansiedlungen wurden nicht gegründet.

Die Gewerkschaftsbewegung begann daher im Norden. Sie war pragmatisch ausgerichtet. Die ersten Gewerkschaften kümmerten sich um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der stark anwachsenden Arbeitsbevölkerung, die von sechs Millionen (1870) auf 37,5 Millionen Menschen (1910) gestiegen war. Die Arbeitsbedingungen in den großen industriellen Zentren im Nordosten verschlechterten sich. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Vereinigten Staaten noch agrarisch geprägt gewesen: 1839 arbeiteten nur 17 % der Bevölkerung (im arbeitsfähigen Alter) in der Industrie, 1859 waren es 32 %. Der Ruf nach einer Interessenvertretung der Arbeiter wurde im Zuge des Industrialisierungsprozesses lauter. Weite Teile der Bevölkerung beobachteten schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Sorge soziale Verwerfungen: Kinderarbeit war in den Neuenglandstaaten deutlich angestiegen. Ein Drittel bis zur Hälfte aller Beschäftigten in Fabriken, insbesondere in Textilfabriken, waren unter 16 Jahre alt.

Der Zigarrenmacher Samuel Gompers sah Anfang der 1880er Jahre die Notwendigkeit, eine Interessenvertretung zu gründen. Er gründete 1881 die Federation of Organized Trades and Labor Unions of the United States and Canada. 1886 wurde sie zur American Federation of Labor (AFL). Die Gewerkschaft war bis 1955 eine der stärksten Interessenvertretungen der Arbeiter, bis sie sich mit dem Congress of Industrial Organizations (CIO) zur AFL-CIO zusammenschloss. Die AFL verfolgte seit ihrer Gründung drei Ziele: höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, föderale Strukturen innerhalb des Gewerkschaftsverbundes und den weitgehenden Rückzug der Regierung aus Tarifverhandlungen.

Befördert wurde der Kampf der Gewerkschaften in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch eine heterogene, progressive Reformbewegung - sie organisierte sich in Strömungen der beiden großen Parteien und führte zur Gründung neuer populistisch-progressiver Gruppen. Ihre wichtigsten Vertreter - die Präsidenten Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson sowie einflussreiche Politiker wie G.W. Norris und Robert M. La Follette - standen für ein ähnliches Programm: die prinzipielle Abkehr von der Laissez-faire-Politik des Gilded Age, die Regulierung der Industrialisierung durch eine strikte Antitrust-Gesetzgebung, den Ausbau des Arbeitsschutzes, eine Reorganisation des Bahnwesens, eine Regulierung der Einwanderung und eine demokratische Reform der Institutionen des Staates. Erstmals wurden auch die zunehmende Verstädterung (vor allem des Nordostens) und die Notwendigkeit des Naturschutzes (Errichtung von Nationalparks) erkannt.

Die republikanischen Präsidenten der 1920er Jahre setzten diese Politik jedoch nicht fort. Die sozialen Unterschiede verschärften sich. Die wachsende Armut wurde zum Thema sozialkritischer Romane von Upton Sinclair. Dieser hatte bereits 1906 in Der Dschungel die Ausbeutung und soziale Deklassierung der Arbeiter in den Schlachthöfen und Fleischfabriken Chicagos beschrieben. Eine Gruppe von investigativen Journalisten und sozialkritischen Schriftstellern griff mit Verve das politische und soziale System der USA an. Wichtig war auch eine Serie von Artikeln von David Graham Phillips: "The Treason of the Senate". Die Bevorzugung der reichen Gesellschaftsschichten wurde zum Thema. Etwas despektierlich bezeichnete Theodore Roosevelt diese Journalisten und Schriftsteller als muckrakers (Schmutzfinken), ein Begriff, den er John Bunyans The Pilgrim's Progress entnommen hatte. Die Verbindung von progressiver Politik, pragmatischer Gewerkschaftspolitik und sozialkritischem Engagement führten erstmals dazu, dass Armut als soziales Problem in das Zentrum der amerikanischen Politik rückte.

Nach Ausbruch und Eskalation der Weltwirtschaftskrise blieb von dieser Aufbruchstimmung vor allem die Hoffnung auf eine neue soziale Ordnung, die als eine der geistigen Grundlagen der amerikanischen Republik gesehen wurde. Bereits 1931 beschrieb der Historiker James Truslow Adams in seinem erfolgreichen, schnell zu einem Bestseller seiner Zeit und der darauffolgenden Jahrzehnte werdenden Buch The Epic of America den amerikanischen Traum als einen Traum "von einer Gesellschaftsordnung, in der jeder Mann und jede Frau in der Lage ist, jenen Entwicklungsstand in vollen Zügen zu erreichen, den sie von Natur aus zu erreichen in der Lage sind, und von den Mitmenschen Anerkennung zu erhalten für was sie sind, unabhängig von den Zufälligkeiten ihrer Geburt oder ihres Standes". Es war dies eine (soziale) Zielbestimmung der amerikanischen Republik, für die Adams den Begriff American Dream in das politische Denken der USA einführte.

Franklin D. Roosevelt übernahm das Präsidentenamt, als die Depression ihre schlimmsten Ausmaße erreichte. Doch der Präsident inspirierte die Bevölkerung mit seiner dynamischen, zupackenden Art und seinem Optimismus. Aufbruchstimmung machte sich breit. Kaum war Roosevelt im Amt, setzte er einen Katalog von Maßnahmen durch: In den, als solche zum Programm erklärten, "ersten hundert Tagen" der Roosevelt-Administration (seither spricht man von den "ersten hundert Tagen" einer neu angetretenen Regierung) stimmte der Kongress der neuen Politik zu und genehmigte weitreichende Reformen.

Anfang März verhängte Roosevelt bank holidays, um die Bankenkrise unter Kontrolle zu bringen. Nur "stabile" Banken durften nach den erzwungenen "Ferien" wieder öffnen, wodurch die Bevölkerung wieder Vertrauen ins Bankwesen gewann. Die Staatsausgaben reduzierte Roosevelt durch Kürzungen der Gehälter und Renten der Staatsangestellten von bis zu 15 %. Dann wandte er sich der Landwirtschaft zu, die von der Depression besonders stark in Mitleidenschaft gezogen werden war, was nicht zuletzt in der noch aus Kriegszeiten herrührenden Überproduktion begründet lag. Die Regierung setzte Obergrenzen für die Produktion fest. Da diese jedoch erst im folgenden Jahr zum Tragen kamen, wurden im Sommer 1933 (in einigen Fällen) Ernten vernichtet und Tiere geschlachtet, um das Preisniveau nicht unter ein bestimmtes Niveau sinken zu lassen. Farmer bekamen Ausgleichsprämien dafür, dass sie ihre Produktion zurückfuhren. Auch in den industriellen Sektor griff der Staat regulierend ein: Die National Recovery Administration, eine Bundesbehörde, sollte die "nationale Erholung" vorantreiben. Die Rolle der Gewerkschaften wurde gestärkt, Streikrecht, Mindestlöhne und Arbeitszeitbeschränkungen eingeführt. Kinderarbeit wurde verboten und eine Arbeitslosenversicherung etabliert. Um ruinöse Preiskämpfe zu verhindern, gestattete die Regierung Produzenten Absprachen über Produktion und Preishöhe. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurde ein ambitioniertes Programm entworfen, das die Wirtschaftskraft Amerikas erhöhen und die Lebensqualität der Bevölkerung verbessern sollte - vor allem durch den Ausbau der Infrastruktur mit großangelegten Straßenbau-, Staudamm- und Brückenbauprojekten.

Doch es gab auch Kritik an Roosevelts Politik. Den Gewerkschaften waren die Veränderungen nicht radikal genug, sie forderten einen schnelleren Abbau der Arbeitslosigkeit. Den Unternehmen gingen die staatlichen Eingriffe zu weit, sie befürchteten ein Abrutschen in ein zentral gesteuertes Wirtschaftssystem. Roosevelt weigerte sich, der Kritik nachzugeben. Statt seine Pläne zu mäßigen, radikalisierte er sie: Nach den Zwischenwahlen im November 1934 begann der Second New Deal, der eine Stärkung der Gewerkschaften bewirkte und mit dem Social Security Act von 1935 die soziale Absicherung amerikanischer Arbeitnehmer entscheidend verbesserte - die Keimzelle des heutigen amerikanischen Sozialhilfesystems. Die Works Progress Administration (WPA), die ohne Zustimmung des Kongresses auf Initiative Roosevelts durch Executive Order eingerichtet wurde, war im Wesentlichen eine breit angelegte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für arbeitslose Familienoberhäupter (davon ungefähr 15 % Frauen) und brachte viele ungelernte Arbeiter, aber auch Künstler und Intellektuelle in Arbeit und Brot. Die Besteuerung von Unternehmen und der gut verdienenden Oberschicht wurde erhöht und mit der Beseitigung der Kluft zwischen dem Lohnniveau der breiten Masse und den wenigen Reichen nicht nur eine der Hauptursachen für die Depression aufgehoben, sondern auch eine wichtige Voraussetzung für den sozialen Frieden geschaffen.

Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg - nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor - führte in den Kriegsjahren zu einem rasanten Anstieg der Industrieproduktion und zur weitgehenden Vollbeschäftigung. In dieser wirtschaftlichen Lage konnte Harry S. Truman an die Sozialpolitik des im Februar 1945 verstorbenen Franklin D. Roosevelt anknüpfen. Sein Fair Deal war Fortsetzung und Modifikation (als Verlangsamung zu verstehen) der Politik seines Vorgängers.

Trotzdem waren Zeichen einer Verunsicherung zu spüren. Sollten die USA die Reformpolitik der Roosevelt-Ära tatsächlich festschreiben? Oder sollten sie zu einer Politik der "Normalität" zurückkehren (Return to normalcy), wobei dieser oft verwendete Begriff weitgehend ungeklärt blieb?

In den Eisenhower-Jahren wurde diese Politik der Sozialreform abgebrochen. Stattdessen wurde eine gewisse Selbstgefälligkeit Kennzeichen der 50er Jahre. Selbst linksliberale Kommentatoren und Schriftsteller wurden von dieser Zufriedenheit und einem damit verbundenen recht oberflächlichen Optimismus erfasst. So behauptete die Schriftstellerin Mary McCarthy: "Class barriers disappear or tend to become porous (...)". Selbst da wo Armut gesehen und beschrieben wurde, befleißigten sich die wichtigsten Autoren der 50er Jahre eines optimistischen, manchmal sogar romantischen Tons, wie etwa Jack Kerouac in On the Road.

The Other America

Gegen Ende des Jahrzehnts kam es zu einem Umdenken: 1959 erschien Oscar Lewis' Studie Five Families: Mexican Case Studies in the Culture of Politics. 1959 veröffentlichte auch Michael Harrington in zwei größeren Artikeln seine erste Version von The Other America. 1962 erschien eine erweiterte und erheblich verdichtete Fassung als Buch. Harringtons Bestandsaufnahme der Armut in einem Land des Überflusses traf den Nerv der Zeit - sein Buch wurde schnell als eines der wichtigsten der (nicht nur amerikanischen) Geistes- und Sozialgeschichte erkannt. Lewis beschrieb Armut erstmals als ein auch kulturelles System, das zu einem eigenen, von der Mehrheitsgesellschaft unabhängigen Verhaltenskodex führt. Harrington zeichnete ein Bild der, trotz aller bisherigen Sozialreformen Roosevelts und Trumans, weiterbestehenden Armut und widmete sich den Ursachen.

Präsident John F. Kennedy - ein Leser Harringtons - zeigte sich von dessen Beschreibung und Analyse beeindruckt. Er befürwortete deshalb - so zumindest die anekdotische Erklärung - eine neue Politik der Sozialreform. Durch seine Ermordung blieb allerdings keine Zeit, diese Politik zu gestalten. Erst sein Nachfolger Lyndon B. Johnson machte die Sozialpolitik zu seinem innenpolitischen Schwerpunkt.

Der Präsident interpretierte seinen Wahlsieg 1964 als ein Mandat für seine neue Sozialpolitik. Er wollte eine gerechte amerikanische Gesellschaft - der New Deal Roosevelts sollte in eine Great Society münden. Die Gerechtigkeitsvorstellungen Johnsons hatten sich mittlerweile erweitert: Der Demokrat aus Texas hatte sich auch zu einem der Vorkämpfer der Bürgerrechtsbewegung entwickelt. 1964 verabschiedete der Kongress den Civil Rights Act. Damit erhielt die afroamerikanische Bevölkerung im Süden endlich auch de facto das Wahlrecht, die Gleichberechtigung der Geschlechter wurde festgeschrieben, die Rechte von Minderheiten verbessert und im Voting Rights Act von 1965 wurden die Wahlbeteiligungsmöglichkeiten der schwarzen Bevölkerung noch einmal verbessert. Parallel begann Johnson mit dem Ausbau (in vielen Fällen eigentlich dem Aufbau) des Sozialsystems. Schwerpunkt war eine umfassende Reform des Gesundheitssystems (vor allem die Einführung von Medicaid und Medicare).

Johnson verbesserte auch die Einwanderungsgesetzgebung, seine Administration förderte auf verschiedenen Ebenen (Schulen, Universitäten) Bildungsprogramme und erweiterte den Umweltschutz. Das Wirtschaftswachstum Mitte der 60er Jahre ermöglichte zudem Steuererleichterungen. Der Wohlstand des Landes wuchs beträchtlich - eine Entwicklung, die sich noch bis Anfang der 70er Jahre fortsetzte. Die hohen Kosten des Vietnamkrieges erzwangen aber nach 1967/68 Anpassungen, die manche Reformen Johnsons in ihrer Wirkung einschränkten.

Die Reagan-Revolution: Ursachenforschung und Obamas Position

Als der erste schwarze Präsident der USA Anfang 2009 sein Amt antrat, war das Amerika, das während der Roosevelt-Ära aufgebaut und in den Kennedy/Johnson-Jahren verfestigt werden war, bereits abgewickelt. Die Wirtschafts- und Sozialreformen seit der "Reagan-Revolution" hatten den amerikanischen Wohlfahrtsstaat kontinuierlich abgebaut. Zugleich endete, was Ökonomen die Great Compression nannten, der Rückgang der sozialen Ungleichheit (wie es sich im Einkommensgefälle zeigte). Verfügte die oberste Einkommensschicht bis dahin (und noch für einige Zeit) über ein Fünftel des gesamten Volksvermögens, so liegt der Wert heute wieder bei einem Viertel des Volksvermögens.

Die Entstehung eines neuen Proletariats ehemaliger Fabrik- und Facharbeiter begann bereits in den 70er Jahren und beschleunigte sich während der Administrationen von Reagan und George Bush senior. Die USA erleben seit zwei Jahrzehnten eine rasante soziale Gettobildung. In Gegenden, die von extremer Armut geprägt sind, lebten im Jahr 2000 ca. 7,2 Millionen Menschen. Mittlerweile stieg diese Zahl auf 13,8 Millionen an. Die private poverty housing industry, die die Aufgaben übernahm, die einst vom Staat geregelt wurden, macht seither ungeahnte Profite.

Was würde Michael Harrington heute vorfinden? 47 Millionen Amerikaner leben dieser Tage in Armut, 15 % der Gesamtbevölkerung; jedes fünfte Kind erhält Lebensmittelkarten (2007 war es noch jedes achte Kind gewesen). 1,5 Millionen Familien werden der Kategorie " Haushalte mit extremer Armut" zugeordnet, die von zwei US- Dollar (oder weniger) pro Tag leben. 51 % aller Arbeiter verdienen weniger als 30.000 US-Dollar im Jahr (working poor). Die Arbeitslosigkeit ist trotz der guten Wirtschaftslage, seit Überwindung der Firmen- und Bankenkrise 2008/2009, unvermindert hoch: 7,9 Millionen gelten als "arbeitslos", 94,7 Millionen als "Teil der nicht erwerbsfähigen Bevölkerung" - mithin eine Gesamtzahl von 102,6 Millionen arbeitsfähiger Menschen.

Das Ergebnis ist eine tief desillusionierte Unterschicht, die in das Washingtoner Politikestablishment keinerlei Vertrauen mehr hat. Einst verstanden sich die Arbeiter der Fabriken in den Rust Belt States als Arbeiteraristokratie. Sie verdienten besser als die Generation ihrer Eltern. Die Kultur der Industriestädte in Ohio, Pennsylvania oder West Virginia wurde von ihnen geprägt. Sie gaben den Städten ein Gesicht. Und heute? "Nicht arbeiten ist für diese Leute zu einer Lebensweise geworden. Vielleicht kriegen einige von ihnen Nachtjobs als Pförtner oder Zimmerservice (...), aber mehr ist nicht mehr drin für sie. Sie werden nie irgendwas besitzen oder bauen oder aus dieser Straße herauskommen." (Iain Levison, Betriebsbedingt gekündigt).

Die Obama-Administration war sich dieser Situation durchaus bewusst - sie fand aber keine wirkungsvolle Abhilfe. "Obamanomics" - so fasste das New York Times Magazine das Wirtschaftsprogramm des Präsidentschaftskandidaten Barack Obama 2008 zusammen - versprach, dass es keine Rückkehr zur bisherigen Wirtschaftsordnung geben werde. Anders als Präsident George W. Bush, der, wie Ronald Reagan und sein Vater George H.W. Bush, an die freien Marktkräfte glaubte und die Deregulierungspolitik seiner Vorgänger fortsetzte, mahnte Obama eine umfassende Reform der Finanzmarktregulierung an, um die amerikanische Wirtschaft krisenresistenter zu machen.

Der Präsident zeichnete in der Begründung seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik aber keineswegs das düsterste Bild der amerikanischen Gesellschaft. Unzweifelhaft richtig war seine Analyse, dass die Laissez-faire-Politik Reagans, der auch Demokraten wie Bill Clinton gehuldigt hatten, das Grundproblem der Handlungsunfähigkeit der Politik war. Die politisch und kulturell in Lager gespaltene Politik aber brachte nicht einmal den nötigen Minimalkonsens zustande. Die Entstehung der neuen Problematik setzte sich fort und beschleunigte sich sogar.

"White Trash": soziale Deklassierung und politische Artikulation

Die Historikerin Nancy Isenberg hat jüngst in einer großen Studie detailliert begründet, dass es in der amerikanischen Gesellschaft seit der Kolonialzeit eine Bevölkerungsgruppe gab, die von jedem sozialen Fortschritt ausgeschlossen war: White Trash. Sie bedient sich dabei des anschaulichen Beispiels des Ewell-Clans aus Harper Lees To Kill a Mockingbird. Die Romanhandlung ist im Alabama der Jahre von 1933 bis 1935 angesiedelt - also in der Hochzeit der Great Depression. Obwohl das Grundthema der Rassismus in den amerikanischen Südstaaten ist, zeichnet es doch auch das Bild einer weißen Unterschicht, deren Lebensgefühl von Frustration, dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit und daraus resultierender Aggressivität geprägt ist und sich als Rassismus, Sexismus und in Gewaltfantasien äußert. Damit ist diese Analyse weit entfernt von Lewis' "Kultur der Armut".

Diese Deklassierung, die wie ein falsches Echo der Annahme Oscar Lewis' und Michael Harringtons klingt, bringt die unterste Schicht einer Unterschicht hervor, die sich aus der White Working Class, die durch Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg gekennzeichnet ist, immer wieder neu regeneriert. Dieser White Trash, so auch oft die Selbstbezeichnung, hat Elemente des amerikanischen Denkens (Waffenbesitz, radikale Religiosität, Rassismus) mit den Themen der neuen Rechten (allgemeine Xenophobie, Homogenität) und ihre traditionelle Lebensweise (Ablehnung des Staates, sexuelle Frustration, Gewalt) verbunden. Agitatoren wie Sarah Palin vermengen diese Ingredienzien zu einem gefährlichen Cocktail und geben der Wut dieser Schicht eine Stimme und Begründung. Genau diese wachsende, bedeutende Minderheit sprach auch Donald Trump an. Er übernahm ihre gewaltaffine, sexualisierte und Minderheiten diskriminierende Sprache und machte sich so zu einem von ihnen. Dem hatte seine damalige Konkurrentin um das Präsidentenamt nur Hilflosigkeit entgegenzusetzen, die als Verachtung und Arroganz empfunden wurde. Für das Trump-Lager war es ein Leichtes daraus Vorteile zu ziehen, schließlich bestätigte Hillary Clinton die Vorurteile gegenüber dem politischen Establishment und versicherte diesem zugleich seine (intellektuelle, aber auch soziale) Überlegenheit.

Barack Obama wollte während der Jahre seiner Präsidentschaft dieser sozialen und kulturellen Polarisierung durch eine Fortschreibung der klassischen, amerikanischen Sozialpolitik entgegenwirken. Dabei gelang ihm, mit dem Patient Protection and Affordable Care Act (2010) eine Reform des Gesundheitssystems einzuleiten, die erstmals seit dem War of Poverty Verbesserung in diesem Kernbereich der Sozialpolitik erreichte. Zuvor bildete die 1935 eingeführte Sozialversicherung das Rückgrat des Systems, das mit dem Social Security Act von 1965 von der Johnson-Administration ergänzt und ausgebaut wurde. Nun ging Obama einen wichtigen Schritt weiter (individual mandate, Leistungskern, Leistungspakete).

Es war dies wohl die wichtigste und bis heute die am heftigsten bekämpfte innenpolitische Reform der Obama-Administration. Eine langfristig ausgerichtete Sozialpolitik konnte er wegen des ihm entgegenschlagenden Widerstands nicht entwickeln.

Die alte und die neue Unterschicht wachsen zusammen. Seit den Analysen Harringtons ist wenig Nachhaltiges an Sozialpolitik verwirklicht werden. Wenn das Land wieder befriedet werden soll, bleibt das die eigentliche Aufgabe künftiger Präsidentschaften.


Dietmar Herz

ist Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Erfurt, Lehrstuhl Vergleichende Regierungslehre, und Vorsitzender des Beirates der Willy Brandt School of Public Policy.
dietmar.herz@uni-erfurt.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2017, S. 35 - 43
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2017

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