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BERICHT/023: Migration = Halbbildung? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009

Migration = Halbbildung?

Von Gazi Caglar


Trotz einer langen Geschichte der Einwanderung nach Deutschland ist ein Blick auf die Bildungssituation der migrantischen Bevölkerung eher ernüchternd. Wo liegen die Ursachen und wie kann der Misere begegnet werden?


Stellen wir uns einmal vor, wir würden in einem Land leben, in dem eine Migrantin von einem hochrangigen Universitätsmitarbeiter einen Anruf bekäme, der ihr mit einem üppigen Stipendium sowie einem "Besuch an der Universität samt Gratisflug" einen Studienplatz schmackhaft zu machen versuchte, wie Die Zeit über die USA berichtete.

In Deutschland hingegen ist das Bild düsterer. U.a. im letzten Nationalen Bildungsbericht wird es nachgezeichnet. In Bezug auf die allgemeine Bildungslandschaft lauten die Diagnosen vielfach "Bildungskrise" oder "Bildungsmisere". In Bezug auf die migrantische Bevölkerung muss von einer politisch produzierten Bildungskatastrophe gesprochen werden: Die migrantische Bevölkerung weist insgesamt ein recht niedriges Bildungsniveau aus. Unter 25 bis 35-Jährigen haben 41% keinen beruflichen Abschluss, bei Deutschen lediglich 15%. Die zweite und dritte Generation ist in Deutschland aufgewachsen, dennoch sind die Unterschiede gravierend: Die Zahl der Menschen ohne Berufsabschlüsse in der Gruppe der über 25-Jährigen ist doppelt so hoch.

Über 80% der "ausländischen" Kinder besuchen den Kindergarten und unterscheiden sich darin kaum von deutschen Kindern. Über 90% von ihnen sind hier geboren. Dennoch sind die Unterschiede in der Schule enorm: Fast die Hälfte aller ausländischen Schüler besucht die Hauptschule (bei Deutschen nur 14,8%). Sie sind auf der Realschule leicht und auf dem Gymnasium stark unterrepräsentiert. Der Anteil der ausländischen Schüler ohne Schulabschluss ist mehr als doppelt so groß. Ihr Anteil an Sonderschulen unterschiedlicher Form ist skandalös hoch. Bezogen auf die Hochschulbildung nimmt die Bildungsbeteiligung von "Bildungsinländern" weiter drastisch ab: Lediglich 3% der 20- bis 30-Jährigen besuchen eine Hochschule, wobei die Abbrecherquote wiederum relativ hoch ist. Die unbefriedigende Lage setzt sich auch im Bereich von Weiterbildung und Fortbildung fort.


Wo liegen die Ursachen?

Wenn wir über gesicherte und nicht gesicherte Ursachen dieser Bildungsmisere nachdenken, müssen wir bei der Gesellschaft, dem Staat und seiner Ausländer- bzw. - wie es seit kurzem heißt - Zuwanderungs- und Integrationspolitik anfangen. Der gesamtgesellschaftlichen Politik muss eine tiefe Ignoranz gegenüber Migration und ihren sozialen Folgen attestiert werden, die etwa bis zur Jahrtausendwende hartnäckig und systematisch fortgesetzt wurde.

Seither gibt es einige kleine Schritte in die richtige Richtung, wenngleich sie von manchen Innenpolitikern beschönigend als "Jahrhundertwende" verkauft wurden. Im Wesentlichen sind dies die Lockerung der völkisch bestimmten Staatsbürgerschaftsregelung; die Aufnahme des Integrationsbegriffes in das Gesetz zur Begrenzung und Steuerung von Zuwanderung (ehemals Ausländergesetz), wenngleich darin in wichtigen Bereichen die bisherigen ausländerpolitischen Grundsätze weiterhin festgeschrieben sind; sowie zuletzt die Antidiskriminierungsaspekte des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes, die nach langem Druck der EU zustande kamen.

Im gleichen Zeitraum ist aber auch eine Reihe regressiver Entwicklungen zu konstatieren:

Erstens: Unabhängig davon, ob es in den Debatten um Parallelgesellschaften, das Kopftuch, Zwangsverheiratungen, den islamistischen Terror oder die Kriminalität migrantischer Jugendlicher geht - alle diese Diskurse weisen mehrheitlich bestimmte strukturelle Gemeinsamkeiten auf: Skandalisierung, Kulturalisierung, kollektive Schuldzuweisung, Verdächtigung, unterschwellige bis offene Drohung. Doch wie wirkt sich dies auf das migrantische Wohlbefinden aus? Dass es das Gefühl der Ohnmacht und Zurückweisung verstärkt hat, dürfte mit Sicherheit kein überraschendes Ergebnis sein. Diese Diskurse sind weitgehend möglich, weil in diesen herrschenden Debatten migrantische Sicht- und Lebensweisen kaum bis keine Artikulation finden. Sie erfahren keine Anerkennung und auch keine soziale, kulturelle und individuelle Wertschätzung.

Zweitens: Flankiert von diesen Diskursen, die vielfach im Gleichton "Multikulti" und "falsche Toleranz" beklagt haben, ist der politische und rechtliche Druck in Richtung einer Anpassung an die "abendländisch-christliche Kultur" bzw. die "deutsche Kultur" und Staatsordnung gesteigert worden, vielfach ohne die nötige Unterscheidung zwischen einer Identifikation mit der republikanischen Verfassungsordnung und einer allgemeinen kulturellen Anpassung. Die Einführung bundesweiter Einbürgerungstests, die Verpflichtung zu Sprachprüfungen für die Visaerteilung z.B. bei Familienzusammenführungen gehören sicherlich hierher.

Drittens: Im gleichen Zeitraum haben die rassistischen Übergriffe und Diskriminierungen in der Gesellschaft zugenommen. Der Anti-Rassismus-Ausschuss der UNO hat im August 2008 den deutschen Länderbericht mit dem Vorwurf zurückgewiesen, auf einem "veralteten Verständnis" von Rassismus zu basieren, der den Rassismus auf Rechtsradikalismus reduziere. In Deutschland sei der Rassismus kein Randproblem, sondern ein allgemein gesellschaftliches, von dem vor allem Juden, Muslime, Sinti und Roma sowie afrikanische Asylbewerber betroffen sind.

Viertens: In einem solchen gesellschaftlichen Klima hat man auch bei einem Großteil der Debatten zum Bildungsbereich den Eindruck, dass für alle sozialen Missstände, die in der deutschen Migrationsgeschichte angehäuft wurden, die Migranten selbst verantwortlich gemacht werden. Sie haben sich nicht angepasst, sie haben die Sprache nicht gelernt und ihren Kindern nicht beigebracht, sie haben sozusagen eine falsche Kultur, sie haben kontraproduktive Erziehungsvorstellungen, sie haben sich nicht integriert.

In der wissenschaftlichen Forschung werden für die desolate Bildungssituation Ursachen skizziert, die ich in eigener Deutung als Kennzeichen des Schul- und Bildungssystems stichwortartig benennen möchte: Bildungssystem als kulturelles Identifizierungs- und soziales Kategorisierungssetting, als soziales und ethnisches Selektionssystem und mit Homogenisierungseffekten, als ethnische Konstruktions- und Zuschreibungsmaschinerie, als Legitimationsmaschinerie für gesellschaftliche Machtverhältnisse, als standardisierte Produktion von Hierarchisierung und Verteilung von Lebenschancen unter Bedingungen zunehmender sozialer Ungleichheit. Mit einer zunehmend globaler werdenden Welt mit enormen Verflechtungen muss an eine Entnationalisierung des Schul- und Bildungssystems gedacht werden, die nach der kritischen Überarbeitung und Überwindung seiner nationalen Überladung am Ende gewährleisten muss, dass unabhängig von der Herkunft alle eine Bildung genießen, die sie für die globale Welt kompetent macht und die heutzutage nicht nur für migrantische Lernende entscheidend ist. Dazu ist sicherlich eine andere Schul- und Bildungspolitik notwendig, die auch Mehrsprachigkeit ernst nimmt. Dazu bedarf es einer Strategie von unten, die die unsägliche Reproduktionsmaschinerie der Ethnisierung unterläuft und Wege zu einer gerechteren humanen Gesellschaft aufzeigt. Hier sind vor allem Menschen und Eltern mit Migrationshintergrund gefordert, denn wer sollte sonst für die Zukunftsinteressen ihrer Kinder eintreten, wenn nicht sie.


Perspektiven

Der Nationale Bildungsbericht 2008 fordert "differenzierte bildungspolitische Strategien", um für die Gesellschaft die "Potenziale zu entwickeln und zu nutzen, welche die Migration eröffnet". Überall geht es um "Nutzen", vor allem,wenn es um die migrantische Bevölkerung geht. Selbst die Wissenschaft schreckt in Bezug auf die migrantische Bevölkerung nicht vor den historischen Überladungen des "Nutzens" von Menschen zurück: Die Logik der vorherrschenden Ökonomie unterscheidet sich gravierend von der Logik des Sozialen. Die Förderung von Verschiedenheit und Vielfalt macht nur Sinn im Zusammenhang mit dem Ziel der sozialen und politischen Gleichberechtigung. Jenseits von Nutzen-Denken und unter Zurückweisung der Reduzierung der Bildung auf ökonomische Funktionen müssen wir daran festhalten, dass Bildung vor allem und zuallererst ein Menschenrecht ist.

Gegen die "Gewalt der Ökonomie", die von neoliberalem Marktfundamentalismus verdeckt wurde, braucht es eine Demokratisierung der Wirtschaft, die die grundgesetzlich verbriefte Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums garantieren kann. Und Gemeinwohl muss auch Wohl und Wehe von Menschen mit Migrationshintergrund beinhalten, sodass wir begleitend zu einer demokratischen Gleichstellungspolitik auch aktive Arbeitsmarkt- und Bildungsprogramme für diese Menschen brauchen. Die massenhafte Kumulation von sozialen und bildungspolitischen Risikolagen macht solche Programme höchst dringlich.

Wenn die soziale, kulturelle oder ethnische Herkunft keine Rolle mehr bei der menschenwürdigen Gestaltung des Lebens spielen wird, werden wir eine gerechte Bildungs- und Schulpolitik haben. Die sind aber nicht unabhängig von der Bemühung um gesamtgesellschaftliche Humanisierung und Demokratisierung. Je mehr Menschen mit Migrationshintergrund mit ihren spezifischen Forderungen sich in diese Bemühung einbringen, desto höher werden die Chancen dafür sein. Eine historische Lehre dürfen wir nicht vergessen: Jeder Fortschritt, jede Verbesserung auch für die Mehrheiten ist in ihrem Ursprung mal eine Forderung und ein Kampf von Minderheiten gewesen. Ich habe mit den USA angefangen - um auch mit den USA zu schließen: der symbolische Erfolg, der in Obamas Präsidentschaft in den USA aus der Sicht vieler Menschen weltweit verbunden ist, ist vor allem ein Ergebnis langwieriger Kämpfe von Minderheiten, unabhängig davon, was Obama daraus macht.


Gazi Caglar ist Professor für Soziale Arbeit an der HAWK-Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit Hildesheim.
caglar@hawk-hhg.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009, S. 80-82
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2009