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BERICHT/048: Bildung - eine Frage der Betreuung? (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100

BILDUNG: eine Frage der Betreuung?
Welche Bedeutung frühe Bildung für die sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen hat: Ergebnisse der NUBBEK-Studie

von Bernhard Kalicki



Seit einigen Jahren wird die Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren massiv ausgebaut. Im März 2012 besuchten mehr als 558.000 Kinder dieser Altersgruppe eine Kindertageseinrichtung oder wurden in der Tagespflege betreut. Die Quote der unter Dreijährigen in öffentlicher Kinderbetreuung für ganz Deutschland stieg zwischen den Jahren 2006 und 2012 von 13,6 auf 27,6 Prozent an. Begründet wird der Ausbau zum einen damit, dass hierdurch Eltern Beruf und Familie besser vereinbaren können. Zum anderen soll er »Bildung von Anfang an« ermöglichen, also dazu beitragen, kindliche Lernprozesse früh und systematisch anzuregen und zu unterstützen. Beeindruckende Ergebnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung, aber auch der Neurobiologie, die die Funktion des Nervensystems erforscht, belegen die enormen Lernpotenziale in der frühen Kindheit. Sie legen es nahe, bereits die Zeit vor dem Kindergartenbesuch mit Bildungsangeboten zu füllen. Eine besondere Bedeutung wird der Sprachentwicklung beziehungsweise sprachlichen Bildung zugeschrieben, da sie sowohl für das Denken, das Selbst- und Weltverständnis als auch für die Kommunikation mit anderen zentral ist.

Angesichts der allgegenwärtigen Bildungsrhethorik stellt sich allerdings die Frage, ob sich die erwarteten Wirkungen der Betreuung und Bildung in Kindertageseinrichtungen auf die Entwicklung der Kinder überhaupt belegen lassen oder ob informelle Bildungsorte wie die Familie in dieser Entwicklungsphase prägender sind. Auf den Stellenwert der Familie als Bildungsort hatte zuletzt der Bildungsbericht hingewiesen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). Diese Zusammenhänge aufzuzeigen und genauer zu entschlüsseln, ist Ziel der NUBBEK-Studie (Tietze u.a. 2012, 2013).


Bildung, Betreuung und Erziehung auf dem Prüfstand

Die »Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK)«, die von sechs Forschungsgruppen durchgeführt wurde (beteiligt waren neben dem Deutschen Jugendinstitut die Universitäten Bochum und Osnabrück, das PädQUIS-Institut an der Freien Universität Berlin, die Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen in Kandern und das Staatsinstitut für Frühpädagogik in München), untersucht die Zusammenhänge zwischen Art, Umfang und Qualität der Betreuung und dem Entwicklungsstand von zwei- und vierjährigen Kindern.

In die Untersuchung einbezogen wurden rund 2.000 Kinder mit ihren Familien (1.242 Zweijährige und 714 Vierjährige). Die Zweijährigen befanden sich in unterschiedlichen Betreuungsarrangements: in einer Krippengruppe, in altersgemischten Kita-Gruppen, in Tagespflege - oder sie wurden ausschließlich in der Familie betreut. Die Vierjährigen waren durchweg in institutioneller Tagesbetreuung (in einer Kindergartengruppe oder einer altersgemischten Kita-Gruppe).

Der Entwicklungsstand der Kinder wurde auf drei Wegen erhoben: Erstens anhand eines Sprachtests, der den passiven Wortschatz des Kindes erfasst (Dunn/ Dunn 2007), zweitens anhand von Denkaufgaben aus einem Intelligenztest für Kinder (Eggert 1975) und drittens über Einschätzungen der kommunikativen, motorischen, alltagspraktischen und sozial-emotionalen Kompetenzen (zum Beispiel »erkennt den eigenen Namen in Druckschrift«; »putzt sich selbstständig mit einem Taschentuch die Nase«) und der Verhaltensanpassung des Kindes (zum Beispiel »ist unaufmerksam oder leicht ablenkbar«; »hat Tagträume oder ist gedankenverloren«). Diese Einschätzungen wurden sowohl von den Müttern als auch von den Erzieherinnen und Erziehern beziehungsweise den Tagespflegepersonen vorgenommen. Im Folgenden beschränken wir uns auf die Vorstellung der Ergebnisse, die den passiven Wortschatztest und die kommunikativen Kompetenzen betreffen (Sparrow u.a. 2005).

Die kindliche Entwicklung wird von vielen Faktoren beeinflusst. Unter Kontrolle von kindspezifischen Charakteristika wie beispielsweise dem jeweiligen Temperament und Wachstum, familiären und außerfamiliären Betreuungsmerkmalen lassen sich die folgenden Erkenntnisse herausheben: Die Qualität der Betreuung ist ein Produkt vieler Faktoren. Orientierungen der Fachkräfte (Auffassungen über Bildung und Erziehung), strukturelle Merkmale (wie die Gruppengröße) und Prozessmerkmale in der Familie sowie in der außerfamiliären Einrichtung (also die Interaktionen der Kinder mit ihren Bezugspersonen) wirken dabei zusammen. Die kindliche Entwicklung wird auch durch den Umstand beeinflusst, wie sehr beide Bildungsorte vernetzt sind und sich aufeinander abstimmen (Tietze u.a. 2013).


Die Familie prägt die kindliche Entwicklung am stärksten

Der passive Wortschatz in Deutsch und kommunikative Kompetenzen des Kindes sind eng verknüpft. Die Kompetenzeinschätzungen der Erzieherinnen und Erzieher sowie der Tagespflegepersonen decken sich dabei stärker mit den Ergebnissen des Sprachtests als die Einschätzungen der Mütter. Das weist darauf hin, dass die Fremdwahrnehmung objektiver ist.

Ob nun ein Kind über einen großen passiven Wortschatz in Deutsch verfügt, kommunikativer ist, sich in einer Denkaufgabe als aufgeweckt erweist und in seinem Verhalten gut reguliert ist, hängt wesentlich von Merkmalen der Familie ab. Die Unterschiede zwischen den Kindern in ihrem Sprachverstehen und dem kommunikativen Verhalten lassen sich um ein Vielfaches stärker durch Merkmale der Familie erklären als durch Variablen der außerfamiliären Bildung und Betreuung. Dabei spielen die folgenden Faktoren eine Rolle, um Entwicklungsvorsprünge des Kindes vorhersagen zu können: der Bildungsstand der Mutter, die Zusammensetzung der Familie wie Geschwisterkonstellation, der Anregungsgehalt der häuslichen Lernumgebung sowie ein positives Interaktionsklima zwischen Mutter und Kind.


LEXIKON

Prozessqualität beschreibt alle Interaktionen von Kindern mit den pädagogischen Fachkräften, mit anderen Kindern, mit dem Raum sowie den Materialien, zum Beispiel dem Spielzeug.
Bei Interventionsstudien werden bestimmte Einflussgrößen so verändert, dass vermutete günstige Bedingungen hergestellt und in ihrer Wirkung überprüft werden (zum Beispiel die Gruppengröße der betreuten Kinder).


Was fördert die Entwicklung?

Untersuchungen zur pädagogischen Qualität der Kindertagesbetreuung nutzen üblicherweise standardisierte Verfahren der Qualitätsfeststellung. Sie können einen Handlungsbedarf für die Qualitätsentwicklung nachweisen und geeignete Strategien aufzeigen, die Qualität zu verbessern. Da die NUBBEK-Studie nicht bei der Qualitätsfeststellung stehen bleibt, sondern gleichzeitig die kindliche Entwicklung in den Blick nimmt, liefert sie Hinweise auf die entwicklungsfördernde Wirkung früher Betreuung und Bildung.

Der Entwicklungsstand beim passiven Wortschatz in Deutsch und bei der Kommunikation steht auch im Zusammenhang mit Merkmalen der außerfamiliären Betreuung. Zu den förderlichen Faktoren aufseiten der Betreuungseinrichtung zählen lernanregende Aktivitäten in der Kita-Gruppe und eine höhere pädagogische Prozessqualität (siehe Lexikon), wie sie in Qualitätsmanagement-Verfahren für Kindertageseinrichtungen erfasst wird (Tietze 2007). Weiter sind die Zusammenhänge zwischen dem sprachlichen Entwicklungsstand und der pädagogischen Prozessqualität bei den Vierjährigen ausgeprägter als bei den Zweijährigen. Dieses Ergebnis weist darauf hin, wie bedeutend der kumulierte Umfang der Zeit ist, die Kinder in guter außerfamiliärer Betreuung verbringen, da die Vierjährigen der NUBBEK-Untersuchung im Durchschnitt bereits 29 Monate Erfahrung in außerfamiliärer Betreuung sammelten, während die Zweijährigen nur über kurze Erfahrungszeit in außerfamiliärer Betreuung verfügen.


Ausbau der Betreuungsangebote: Qualität ist gefragt!

In Zeiten des zahlenmäßigen Ausbaus der Betreuungsangebote rückt damit die Forderung nach einer Sicherstellung pädagogischer Qualität in den Vordergrund. Mit Blick auf die frühe Förderung und Bildung von Kindern reicht es nicht, in ausreichendem Maße Plätze anzubieten. Vielmehr sind erhebliche Anstrengungen nötig, damit Kita-Gruppen günstige Lernbedingungen bieten können. Die NUBBEK-Studie liefert Hinweise darauf, welche Faktoren bedeutsam sind für die sprachliche Bildung. Der Familie als Bildungsort und Sozialisationsagent kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Zusätzliche Interventionsstudien (siehe Lexikon) sind erforderlich, um sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungsarbeit in Kitas zu identifizieren, weiterzuentwickeln und breit anzuwenden.

Dabei sind zwei besondere Herausforderungen zu meistern: Erstens gebietet es der Anspruch auf Chancengerechtigkeit im Bildungssystem, benachteiligte Kinder zu fördern. Erst hierdurch kann die soziale Vererbung von Bildungschancen durchbrochen werden. Zweitens spricht der überragende Einfluss von Merkmalen der Familie auf die Sprachentwicklung von Kleinkindern dafür, die Zusammenarbeit von Kita und Familie im Sinne einer Erziehungspartnerschaft zu intensivieren. Die Weiterentwicklung von Kitas zu Familienzentren, die Einübung neuer Formen der Kommunikation und Kooperation mit Familien oder vorliegende Förderprogramme, die insbesondere bildungsbenachteiligte Eltern erreichen und einbinden, sind sinnvolle Ansatzpunkte hierfür.


DER AUTOR

Prof. Dr. Bernhard Kalicki leitet die Abteilung Kinder und Kinderbetreuung am Deutschen Jugendinstitut und hat seit 2006 eine Professur an der Evangelischen Hochschule Dresden inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozialisation in der frühen Kindheit, die frühkindlichen Bildung und die Familienbildung.
Kontakt: kalicki@dji.de


LITERATUR

AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (2012): Bildung in Deutschland 2012. Bielefeld

DUNN, LLOYD M. / DUNN, DOUGLAS M. (2007): Peabody Picture Vocabulary Test (4. Auflage). Pearson

EGGERT, DIETRICH (1975): Hannover-Wechsler Intelligenztest für das Vorschulalter - Experimentalform (HAWIVA). Göttingen

SPARROW, SARA A. / CICCHETTI, DOMENIC V / BALLA, DAVID A. (2005): Vineland-II Survey Forms Manual. AGS Publishing

TIETZE, WOLFGANG / SCHUSTER, KÄTHE-MARIE / GRENNER, KATJA / ROSSBACH, HANS-GÜNTHER (3. Auflage; 2007): Kindergarten-Skala (KES-R). Feststellung und Unterstützung pädagogischer Qualität in Kindergärten. Berlin

TIETZE, WOLFGANG / BECKER-STOLL, FABIENNE / BENSEL, JOACHIM / ECKHARDT, ANDREA G. / HAUG-SCHNABEL, GABRIELE / KALICKI, BERNHARD / KELLER, HEIDI / LEYENDECKER, BIRGIT (Hrsg; 2012): NUBBEK - Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Fragestellungen und Ergebnisse im Überblick, Broschüre. Weimar/Berlin.
Im Internet verfügbar unter
www.dji.de/bibs/NUBBEK_Broschuere.pdf
(Zugriff: 31.10.2012)

TIETZE, WOLFGANG / BECKER-STOLL, FABIENNE / BENSEL, JOACHIM / ECKHARDT, ANDREA G. / HAUG-SCHNABEL, GABRIELE / KALICKI, BERNHARD / KELLER, HEIDI / LEYENDECKER, BIRGIT (Hrsg.): NUBBEK - Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Weimar/Berlin, erscheint 2013 als Buch

DJI Impulse 4/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100, S. 7-9
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2013