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DISKURS/002: Weit entfernt von der "Bildungsrepublik Deutschland" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009

Weit entfernt von der "Bildungsrepublik Deutschland"

Von Sven Sauter


Die Reproduktion sozialer Ungleichheit gehört zu den bislang ungelösten Problemen des deutschen Bildungssystems. Durch Schulleistungsstudien wie PISA, IGLU und TIMSS hat das Thema Bildung zwar zunehmend gesellschaftliche Relevanz bekommen und sogar Angela Merkel fordert: "Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden!" Doch dazu steht die beständig steigende Zahl junger Menschen, die ohne Abschluss und ohne verwertbare Bildungszertifikate die Schule verlassen, in auffallendem Widerspruch. Dieses Scheitern hat einen Namen: Bildungsarmut.


In der Bundesrepublik zeigt sich laut den Befunden der PISA-Studien ein besonders enger und nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Sozialschichtzugehörigkeit der Herkunftsfamilie und dem Bildungserfolg. Auf das, was als PISA-Schock nach der Veröffentlichung der ersten Befunde im Jahre 2001 diskutiert wurde, nämlich die soziale Selektivität des Bildungswesens, hat der Soziologe Rolf Dahrendorf bereits in den 60er Jahren hingewiesen.


Risiken für Bildung und Teilhabe

Neben dem sozialen Status lassen sich laut aktuellem Bildungsbericht von 2008 weitere Risiken für gelingende Bildungsprozesse und damit für die Teilhabe an Gesellschaft identifizieren.

Armut. Eine Langzeit-Studie im Auftrag der AWO zeigte, dass arme Kinder mehrheitlich die Hauptschule besuchen und nicht das Gymnasium. Arme Jungen erreichen maximal einen Hauptschulabschluss, oftmals noch nicht mal diesen, und arme Mädchen schaffen höchstens den Realschulabschluss. Konkret heißt das: Von 100 armen Grundschulkindern schaffen nur vier den Sprung auf das Gymnasium.

Migrationshintergrund. Dieser führt laut Bildungsbericht von 2006 in allen Stufen des Schulsystems zu Benachteiligungen. Selbst bei gleichem Sozialstatus besuchen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund seltener das Gymnasium und sind häufiger in den niedriger qualifizierenden Schularten vertreten - vor allem auf Sonderschulen.

Geschlecht. Das Risiko für Jungen und junge Männer, im Bildungssystem zu scheitern, nimmt beständig zu. Das gilt laut Bildungsbericht 2006 insbesondere für jene mit Migrationshintergrund. Jungen wiederholen öfter eine Jahrgangsstufe, ihr Anteil unter den Absolventen und Abgängern ohne Hauptschulabschluss nimmt zu und sie befinden sich deutlich öfter im Übergangssystem.

Behinderung. Der UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz veröffentlichte, nach seiner Inspektion des deutschen Bildungssystems, im Frühjahr 2007 einen Bericht, welcher die Folgen eines grundsätzlich hochselektiven und föderal uneinheitlichen Schulsystems aufzeigt. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind im deutschen Bildungssystem strukturell benachteiligt, denn sie sind durch die gängige Praxis der Sonderschulüberweisung häufig von weiter führenden Bildungsprozessen und damit von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.

Alle diese genannten Risikogruppen sind überdurchschnittlich von Bildungsarmut betroffen.


Was Bildungsarmut ist

Dass es in einer Bildungsgesellschaft Bildungsarmut überhaupt geben kann, erscheint widersprüchlich. Realität ist aber, dass es Barrieren im Wissenserwerb gibt, dass Wissen und der Zugang dazu ungleich verteilt ist.

Eine anerkannte Definition von Bildungsarmut liefern Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried (vgl. APuZ 21-22/2003), die den Zusammenhang von Bildung und Sozialpolitik herstellen und nachdrücklich für eine Zusammenführung dieser beiden Politikfelder plädieren. Sie unterscheiden eine relative von einer absoluten Bildungsarmut.

Misst man Bildungsarmut über Zertifikate (über die erreichten Prüfungsleistungen), dann wäre eine absolute Bildungsarmut durch das Fehlen dieser Zertifikate gekennzeichnet. Die relative Bildungsarmut wäre zu berücksichtigen, wenn jemand mit seinen erreichten Zertifikaten weniger Bildung aufweist als der Durchschnittsdeutsche.

Versucht man Bildungsarmut über die Kompetenzen zu messen, ergibt sich ein anderes Bild: Absolute Bildungsarmut beschriebe in dieser Hinsicht das Nichterreichen der untersten von den insgesamt fünf Kompetenzstufen und kann mit funktionalem Analphabetismus gleichgesetzt werden. Die relative Bildungsarmut wäre über das Verteilungsspektrum der Kompetenzstufen zu bestimmen.

Darin lassen sich die Schwierigkeiten einer bildungswissenschaftlich genauen Abbildung der Wirklichkeit von Bildung und Lernen anschaulich machen. Zugleich zeigen sich auch in diesem Beispiel sehr klar die Widersprüche des deutschen Bildungssystems. Obwohl Arbeitgeber seltener nach Kompetenzen, sondern eher nach Zertifikaten fragen, plädieren die beiden Wissenschaftler letztlich für eine Messung der Bildungsarmut über Kompetenzen.

Eine zweite Perspektive zu Bildungsarmut führen Christina Anger, Axel Plünnecke und Susanne Seyda (vgl. APuZ 28/2007) an.

Sie definieren als bildungsarm den Anteil der Personen, der keinen höheren Sekundarabschluss (keine abgeschlossene Berufsausbildung) aufweist oder nach dem PISA-Test zur Risikogruppe gehört. Bildungsarmut lässt sich folglich anhand von fehlenden Zertifikaten (als Sammelbegriff für Bescheinigungen formaler Bildungsabschlüsse) oder anhand von geringen Kompetenzen messen.

Zudem besteht ein Risiko, von der Bildungsarmut in die Einkommensarmut zu geraten, denn je höher die formale Qualifikation einer Person ist, desto geringer ist das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren oder arbeitslos zu bleiben. Bildungsarmut hat in dieser Hinsicht volkswirtschaftliche Auswirkungen.


Grenzen der Wissenskapitalisierung

Durch diesen ökonomischen Blickwinkel wird jedoch ein stark funktionalistischer Bildungsbegriff sichtbar, der Bildung auf das dadurch mögliche berufliche Fortkommen und eine wirtschaftliche Bedeutung verengt. Vom sozialen und vom individuellen Wert des Wissens ist hier nicht die Rede. Von Bildung als Prozess der Selbstbildung erst recht nicht.

Einhelligkeit scheint darin zu bestehen, dass Bildung ein zu wichtiges Thema ist, um vernachlässigt zu werden. Bei all den unterschiedlichen Positionspapieren, Expertenstatements und politischen Reden zeigt sich eines: Bildung hat immer auch gesellschaftliche Dimensionen und ist eingelassen in kulturelle und soziale Aushandlungsprozesse.

Die starke ökonomische Perspektive auf das Thema Bildungsarmut birgt folgende Gefahr in sich: Diese Positionspapiere und Statements aus einem einflussreichen gesellschaftlichen Bereich sind Folgen eines neuen Bildungskapitalismus, und sie bringen im Hinblick auf die "Bildungsverlierer" eine gestiegene Toleranz für soziale Ungleichheiten hervor.

Der aktuelle Bildungskapitalismus macht die Grenzen in der Kapitalisierung von Wissen sichtbar: Das Wissen wird in Privateigentum verwandelt und verknappt, um als Ware verkäuflich und als Kapital verwertbar zu sein (vgl. André Gorz. Wissen, Wert und Kapital). Um dies zu erreichen, werden Zugänge zu Bildung mit Barrieren versehen. Durch die Kontrolle des Zugangs werden Verknappungen möglich und Wissen in Scheinkapital verwandelt.

Daraus lassen sich weit reichende Fragen erschließen: Wer erhält aufgrund welcher Qualifikation, Begründung und Ressourcen Zugang zu welchem Wissen? Was wird überhaupt für wen wissensfähig? Welche Auswirkungen hat diese Verknappung auf diejenigen, die, ohnehin mit schlechteren Ressourcen ausgestattet, um das knappe Gut der Erwerbsarbeit konkurrieren?

In modernen Gesellschaften ist das Wissenssystem hoch spezialisiert und Bildung über formale Zugangswege geregelt, die demokratisch legitimiert sein müssen. Gerecht im Sinne von einer gleichen Chancenstruktur für alle sind sie aus diesem Grund jedoch nicht. Denn nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher.


Bildung braucht Verantwortung

Noch nie wurde so viel über Bildung und so wenig über das Lernen gesprochen. Verloren gehen in der aktuellen Bildungsdiskussion vor allem die Eigenzeit und der Eigensinn des Lernens. Vom Kindergarten über die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe und die Kinderuniversität bis hin zur Juniorprofessur: Die Zeit des Lernens wird immer knapper, muss kalkuliert werden, der Wissenserwerb gerät zunehmend zu einer strategischen Ressource auf dem umkämpften und deregulierten Bildungsmarkt. Lernen und Bildung brauchen aber nicht nur Zeit, sondern vor allem Verantwortung und Solidarität.

Ein hochselektives Bildungssystem, das für so viele junge Menschen, die es durchlaufen, kaum Chancen eröffnet, ist demokratisch kaum zu legitimieren. Denn eine langfristige gesellschaftliche Teilhabe kann nicht durch Ausgrenzung erreicht werden.

Mit Blick auf die genannten Risikogruppen lassen sich Reformstrategien für das gesamte Schulsystem eröffnen, da die Lösungsvorschläge für diese Gruppen auch Verbesserungen in der Förderfähigkeit der Schulen insgesamt nach sich ziehen.

Wenn Bildung aus der Perspektive der Risikogruppen geplant wird, kein Kind mehr verloren geht, führt Bildung zu ihrem eigentlichen Ziel: gesellschaftlicher Teilhabe. Nur auf diese Weise lässt sich eine Demokratisierung des Bildungswesens ansteuern und die gesellschaftliche Akzeptanz des selektiven Schulsystems wird schwächer. In diesem Sinne sind Verkürzungen des Bildungsbegriffes wenig hilfreich, will man für dieses umfassende Menschen-Recht auf Bildung eintreten.


Sven Sauter (* 1963) ist Privatdozent an der FernUniversität in Hagen und lehrt Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. (Sven.Sauter@erziehung.uni-giessen.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009, S. 56-58
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2009