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DISKURS/011: Vorfahrt für Bildung? (Sozialismus)


Sozialismus Heft 10/2010

Vorfahrt für Bildung?
Vom Scheitern einer zweiten Bildungsreform zum Klassenkampf von oben

Von Klemens Himpele und Sonja Staack


Bildung ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft: Dieses politische Bekenntnis gehört inzwischen zu den Standardübungen jeder der etablierten Parteien. Die SPD will den "Aufstieg durch Bildung" ermöglichen, die FDP betont Bildung als Bürgerrecht, die LINKE will das öffentliche Bildungswesen ausbauen, die Grünen fordern "Bildung statt Beton". CDU und CSU tragen in ihrem gemeinsamen Regierungsprogramm dick auf und halten fest: "Unser Land soll Bildungsrepublik werden." Selbst auf dem milliardenschweren Sparpaket, das die schwarz-gelbe Bundesregierung vor der Sommerpause vorgelegt hat, prangt der Slogan "Vorfahrt für Bildung". Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2011 steigt der Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) um 783 Mio. Euro und damit um 7,2% - während der Gesamthaushalt um 12,1 Mrd. Euro bzw. um 3,8% gekürzt wird. Die Kanzlerin macht Bildung zur Chefsache und lädt die Länder seit zwei Jahren regelmäßig zu Bildungsgipfeln ein. Hier wurde im Oktober 2008 vereinbart, dass bis 2015 mindestens 7% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Bildung fließen sollen. Das hätte - am damaligen BIP bemessen - Mehrausgaben von über 30 Mrd. Euro pro Jahr bedeutet. Zwar hat die Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie gezeigt, dass mindestens 37 Mrd. Euro nötig wären, um die Finanzierungslücke in der Bildung zu schließen - eine höhere Bildungsbeteiligung, die Sanierung der Schulgebäude oder eine Reform der Ausbildungsförderung noch gar nicht mit eingerechnet.(1) Eine erhebliche Anstrengung allerdings würde die Umsetzung der Bildungsgipfel-Ziele durchaus bedeuten.

Leben wir als also in einem goldenen Zeitalter für alle, die für eine bessere Bildung streiten? Zwei Dinge sprechen dagegen. Erstens: Den vielen warmen Worten folgen kaum Taten - oder gar solche, die die vollmundigen Ankündigungen konterkarieren. Auf den Bildungsgipfel folgte die Wirtschaftskrise und damit der Einbruch des BIP. Die FinanzministerInnen rechneten fieberhaft, um die Bildungsausgaben durch statistische Tricks zu erhöhen, und so schrumpfte die offizielle Finanzierungslücke in der Bildung in den letzten zwei Jahren von ursprünglich über 30 auf jetzt noch 10 Mrd. Euro zusammen, ohne dass die Bildungsausgaben tatsächlich signifikant erhöht worden wären. Selbst zu diesen 10 Mrd. trägt die benannte Steigerung des BMBF-Haushalts nicht einmal 8% bei. Die Hauptlast der angekündigten Mehrausgaben für die Bildung sollen Länder und Kommunen tragen. Diese wiederum haben wegen der Steuersenkungspolitik der Bundesregierung und der Schuldenbremse hierzu kaum mehr eine Chance und setzen vielfach bereits kräftig den Rotstift an. Hessen kürzt den öffentlichen Hochschulen 30 Mio. Euro im Jahr, Schleswig-Holstein wollte in Lübeck die (teuren) medizinischen Studiengänge einstellen, was nur durch die Umwandlung des meereswissenschaftlichen Geomar-Instituts an der Universität Kiel in ein überwiegend bundesfinanziertes Helmholtz-Institut abgewendet werden konnte; in Flensburg werden die Wirtschaftswissenschaften geschlossen usw. Aktuell weigern sich die Länder gemeinsam, einer winzigen Erhöhung des BAföG zuzustimmen - die bestenfalls eine Anpassung der Förderung an die Preissteigerung wäre.(2) Die Begründung ist immer die gleiche: Es sei kein Geld da. Die öffentlichen Kassen sind leer; einerseits drücken Krise und Rettungspakete auf die Budgets, andererseits wird der Staat weiterhin systematisch ausgehungert. Die alte staatsfeindliche Losung des starve the beast feiert fröhliche Urstände. Die Ökonomen Achim Truger und Dieter Teichmann haben ausgerechnet, dass der Staat in diesem Jahr 51,5 Mrd. Euro mehr zu Verfügung hätte, wenn noch das Steuerrecht des Jahres 1998 - zum Ende der Ära Kohl - gelten würde.(3)

Noch ein Zweites spricht dafür, sich über das allgegenwärtige Lob der Bildung nicht zu früh zu freuen: Der entscheidende Kampf der kommenden Jahre wird sich nicht nur um die Frage drehen, wie viel Geld in die Bildung fließt, sondern nicht zuletzt auch darum, wie das vorhandene Geld verteilt wird. Zusätzliche Bildungsausgaben gibt es durchaus bereits heute. Beispielhaft erwähnt sei hier das so genannte Deutschlandstipendium, mit dem künftig die 10% "Besten" unter den Studierenden ein zusätzliches Taschengeld erhalten sollen.(4) Dieses Geld könnte man auch in die stockende BAföG-Erhöhung stecken - dort käme es denjenigen Studierenden zugute, die es am nötigsten brauchen. Bei aller Einigkeit in der Forderung nach mehr Geld für Bildung darf nicht übersehen werden, dass die proklamierte Vorfahrt für Bildung noch lange nicht heißen muss, dass diese Vorfahrt allen gewährt wird. Um aufzuzeigen, wie sich die bildungspolitischen Zielsetzungen und Leitvorstellungen gewandelt haben, lohnt zunächst ein Blick zurück auf die bildungspolitischen Erfahrungen der letzten zwölf Jahre.


Eine zweite Bildungsreform ist gescheitert

Das Leitbild Aufstieg durch Bildung darf als Markenzeichen der ersten sozialdemokratischen Regierungsperiode in Deutschland gelten. Insbesondere die Regierung Brandt hatte sich für eine Öffnung des Bildungssystems für das "katholische Mädchen vom Lande" stark gemacht. So wurden durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz die Hörergelder an den Hochschulen zum Wintersemester 1970/71 abgeschafft, im September 1971 wurde das erste Mal BAföG ausbezahlt und die Debatten über Gesamtschulen sowie Gesamthochschulen verankerten das Ziel einer sozialen Öffnung des Bildungssystems nachhaltig im öffentlichen Diskurs. Rückblickend lässt sich sagen, dass die soziale Öffnung der Bildung unvollendet blieb. Es lassen sich einerseits erhebliche Erfolge insbesondere bei der Bildungsbeteiligung von Frauen konstatieren und zeitweise stieg auch der Anteil der Arbeiterkinder an den Hochschulen an, wie die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks belegen.(5) Dennoch konnte von einer weitgehenden oder gar vollständigen sozialen Öffnung nicht die Rede sein. Heute nehmen die Kinder von Beamten mit Hochschulabschluss zu 84% ein Hochschulstudium auf, die Kinder von Beamten ohne akademischen Abschluss jedoch nur zu 43%. Bei den Angestellten sind es 64% der Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss, aber nur 26% der Kinder von Eltern ohne Hochschulabschluss.(6) In der Zwischenzeit sind bereits einige Errungenschaften der ersten Bildungsreform durch die Kohl-Regierungen wieder zurückgedreht worden. So wurde etwa das BAföG von einem Vollzuschuss auf ein Darlehenssystem umgestellt; seit der Wiedervereinigung wird das BAfÖG hälftig als Zuschuss und hälftig als Darlehen gewährt. Die Gründung von Gesamtschulen und Gesamthochschulen stockte, über die Wiedereinführung von Lehrmittelbeiträgen an den Schulen sowie von Studiengebühren wurde bereits in den 1990er Jahren wieder lebhaft diskutiert.

Als es der Sozialdemokratie gemeinsam mit den Grünen 1998 gelang, wieder an die Regierung zu kommen, gab es demnach mehr als genug Gründe, eine zweite Bildungsreform anzugehen. Und es gab zu Beginn von Rot-Grün durchaus vorsichtige Ansätze, die in diese Richtung deuteten: Als Bundesbildungsministerin kündigte Edelgard Bulmahn (SPD) ein Verbot allgemeiner Studiengebühren an, das BAfÖG wollte sie grundlegend reformieren, die Wirtschaft sollte in die Pflicht genommen werden und endlich in ausreichender Zahl Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, die Habilitation sollte abgeschafft oder zumindest um andere Karrierewege ergänzt werden. Zusammengenommen hätte dies sicher nicht zu einer umfassenden Öffnung des Bildungssystems geführt, zumal man peinlich darauf bedacht war, keine neue Debatte über das gegliederte Schulsystem anzustoßen. Es kann aber zumindest vermutet werden, dass sich im Falle einer erfolgreichen Umsetzung dieser ersten Reformschritte weitere windows of opportunity geöffnet hätten und weitreichendere Reformen in Angriff hätten genommen werden können.

Doch die zweite Bildungsreform scheiterte schon im Ansatz. Alle genannten Projekte waren in den eigenen Reihen umstritten und wurden schließlich allenfalls halbherzig angegangen. Das im Hochschulrahmengesetz verankerte Verbot von Studiengebühren im Erststudium scheiterte letztlich im Januar 2005 an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das dem Bund die Regelungskompetenz für die Frage der Studiengebühren absprach.(7) Allerdings hatten Studierendenschaften schon kurz nach der Wahl moniert, dass SPD und Grüne dem Thema nicht die nötige Aufmerksamkeit widmeten - zumal eine Mehrheit im Bundesrat bestand. Statt schnell zu handeln, diskutierte man zunächst über einen Staatsvertrag und rief sogar selbst einige Debatten über "alternative Studiengebührenmodelle" wie Studienkonten oder Bildungsgutscheine ins Leben. Hintergrund war, dass es sowohl bei der SPD, beispielsweise mit dem damaligen niedersächsischen Wissenschaftsminister Thomas Oppermann, als auch bei den Grünen, beispielsweise mit dem damaligen hochschulpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion und späteren Staatssekretär Matthias Berninger, dezidierte BefürworterInnen von Studiengebühren gab und eine eigene Mehrheit im Bundesrat so keinesfalls sicher war. Bereits 1999 gründeten zahlreiche VertreterInnen von Studierendenschaften, Gewerkschaften und bildungspolitischen Verbänden das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren - nicht zuletzt aus Misstrauen gegenüber Rot-Grün.

Wenig besser erging es der geplanten BAföG-Reform. Rot-Grün führte immerhin eine Deckelung für die BAföG-Schulden ein, sodass der Schuldenberg, mit dem BAföG-EmpfängerInnen ins Berufsleben starten, zumindest nicht mehr unkontrollierbar anwachsen kann. Eine Strukturreform der Ausbildungsförderung dagegen blieb aus, der Darlehensanteil der Förderung wurde im Grundsatz nicht angetastet. Edelgard Bulmahn hatte sich bald darauf eingelassen, eine möglichst kostenneutrale Reform anzustreben. Eine substantielle Verbesserung der Bedingungen für sozial schwächere Studierende war damit bereits zum Scheitern verurteilt. Rot-Grün fokussierte nun stattdessen darauf, die Elternunabhängigkeit der Studienförderung zu stärken. Hierzu sollte ein Sockelbetrag eingeführt werden, den alle Studierenden erhalten hätten -unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern. Finanziert werden sollte dies aus dem Kindergeld bzw. den Steuervorteilen, die Eltern von Studierenden aufgrund der kindbezogenen Freibeträge genießen. Die Debatte wurde 2000 durch ein Machtwort Gerhard Schröders beendet, der befand, die Kinderfreibeträge seien von vielen Eltern bereits zur Abzahlung des Eigenheims verplant. Dies ersparte der Regierung möglicherweise eine weitere Niederlage vor dem Verfassungsgericht, da an einer solchen Änderung erhebliche Konsequenzen hängen. Eine isolierte Betrachtung der Studienfinanzierung springt zu kurz, vielmehr wäre es darauf angekommen, das gesamte Sozialstaatsgefüge neu zu justieren - unter Einbeziehung einer Neudefinition von Familie und einer selbstbewussten Rolle junger Menschen als mündige StaatsbürgerInnen. Für einen entsprechend weitreichenden gesellschaftlichen Umbau allerdings fehlten der Regierung Schröder offenbar der Mut sowie die innere Überzeugung.

Vom Mut verlassen wurde die Koalition etwas später auch bei der Ausbildungsplatzumlage. Durch eine Sonderabgabe für alle Betriebe, die ihrem gesetzlich definierten Ausbildungsauftrag nicht nachkommen, sollte die Ausbildungsplatzlücke wirksam geschlossen und allen Jugendlichen eine anerkannte Berufsausbildung ermöglicht werden. Nach lauten Protesten der ArbeitgeberInnen und erheblichen internen Differenzen insbesondere zwischen Edelgard Bulmahn und dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement wurde die entsprechende Gesetzesvorlage im Frühjahr 2004 allerdings so weit durchlöchert, dass schließlich kaum mehr etwas davon übrig blieb. Die so genannte Berufsausbildungssicherungsabgabe sollte nun nur noch fällig werden, falls der Ausbildungspakt mit den ArbeitgeberInnen von der Bundesregierung für gescheitert erklärt würde.(8) Dies ist bis heute nicht geschehen - obgleich jedes Jahr zehntausende Jugendliche unversorgt bleiben oder in Warteschleifen abgeschoben werden. Wie das Studiengebührenverbot, so scheiterte schließlich auch die bundesweit einheitliche Juniorprofessur vor dem Bundesverfassungsgericht.(9) Entscheidend ist allerdings, dass die Ziele der Juniorprofessur durch die allgemeine hochschulpolitische Entwicklung ohnehin konterkariert wurden: Statt abgesicherte Arbeitsverhältnisse und bessere Möglichkeiten eigenständiger Forschung unterhalb der Professur zu schaffen, setzte sich an den Hochschulen der Trend zu immer mehr befristeter und prekärer Beschäftigung durch.(10) Eine Umsteuerung im Rahmen der Rahmengesetzgebung des Bundes für den Hochschulbereich erfolgte nicht, ebenso wenig wurde eine Veränderung in der Förderpolitik der (vom Bund finanzierten) Deutschen Forschungsgemeinschaft initiiert. Kurzum: Zentrale bildungs- und wissenschaftspolitische Projekte der Bundesregierung scheiterten an äußeren, vor allem aber auch internen Widerständen. Was blieb, waren kleine Schritte wie die Deckelung der BAföG-Schulden - und vor allem große Enttäuschungen, die eine erhebliche Resignation und Orientierungslosigkeit zur Folge hatten.


Zwischen Bildungsaufbruch und Agenda-Politik

Die vorsichtige Aufbruchstimmung zu einer zweiten Bildungsreform, die nach der Wahl 1998 kurz aufflammte, stand binnen kurzer Zeit im Widerspruch zur sozial- und arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung des rot-grünen Projekts. Während sich die BildungspolitikerInnen an der ersten Bildungsreform und damit an dem Leitbild orientierten, durch ein integrierendes Bildungssystem die soziale Spaltung zu verringern, schwenkte die sozialpolitische Debatte bald auf die Prämisse ein, dass Arbeitslosigkeit individuell verschuldet und aufgrund der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit Geringqualifizierter das Entstehen eines Niedriglohnsektors unumgänglich sei. Man beschränkte sich folglich darauf, diese Rahmenbedingungen zu "gestalten" - was schließlich in der Politik der zweiten rotgrünen Regierungsperiode von 2002 bis 2005, insbesondere in der Agenda 2010, in Reinform zum Ausdruck kam. Diese Politik wurde nicht nur von einem anderen politischen Geist getragen als die Ideen der Bildungsreform, sie entzog einer auf sozialen Ausgleich orientierten Bildungspolitik auch unmittelbar den Boden. Die Ziele der Bildungspolitik wurden mehr und mehr zu einer abgeleiteten Größe der Arbeitsmarktpolitik. Und wofür sollte sich das Bildungssystem den Schwächeren und Ausgegrenzten öffnen, wenn deren gesellschaftlichen Chancen bereits besiegelt waren? Die zweite Bildungsreform hatte vor diesem Hintergrund kaum eine Chance, solange sie sich nicht traute, die sozialpolitische Orientierung von Rot-Grün grundlegend in Frage zu stellen.

Der Widerspruch zwischen bildungspolitischem Aufbruch und der Demontage des Sozialstaats wurde schleichend zugunsten der Agenda-Politik entschieden. Anstatt die Anzahl der sozial abgesicherten Berufswege zu erhöhen, drängte der degenerierte Sozialstaat auch die Bildung zu einer strengeren Auslese. Parallel zum Dogmenwechsel in der Sozialpolitik hielt das Prinzip "Fördern und Fordern" auch in der Bildungspolitik Einzug. Jede und jeder sollte eine Chance bekommen, insoweit zeichnete weiter der Staat verantwortlich. Diese Chance auch zu nutzen, das hingegen sollte nun in der Verantwortung jedes Einzelnen liegen. Die Bildung konzentriert sich folglich auf das Herstellen einer Startchancengerechtigkeit, die im weiteren Verlauf des Bildungsweges zunehmend von der Eigenverantwortung der und des Einzelnen abgelöst wird. Neben das Prinzip "Jeder bekommt eine Chance" tritt damit das Prinzip "Jeder hat seine Chance gehabt". Damit bildet nicht zuletzt die Bildung den legitimatorischen Kitt für den Sozialabbau: Jeder kann es schaffen, und wer es nicht schafft, darf dafür nicht den Staat verantwortlich machen. Dieser politische Wandel wurde vielfach als Übergang von der Verteilungs- zur (angeblichen) Chancengerechtigkeit beschrieben.(11) Bildung wurde so von einem Teil zu einem Ersatz sozialpolitischer Absicherung.

Gleichzeitig wurden eigenständige bildungspolitische Zielsetzungen zunehmend aus der politischen Arena gedrängt. Die Bildungspolitik verkümmerte zu einem Arm der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Sie soll passgenau für die Bedürfnisse der Ökonomie qualifizieren und sich in ihren Zielen und Inhalten dem im Wandel befindlichen Arbeitsmarkt geschmeidig anpassen. Persönlichkeitsentwicklung und Emanzipation schrumpfen so zu sozialen Kompetenzen und soft skills zusammen. Resignation und Orientierungslosigkeit der rot-grünen BildungsreformerInnen haben schließlich dazu geführt, die Hoffnung auf eine zweite Bildungsreform ganz aufzugeben. 2005 wurde dies mit dem schwarz-roten Koalitionsvertrag besiegelt: Mit der Föderalismusreform I und der hiermit einhergehenden umfassenden Entmachtung des Bundes in Fragen der allgemeinen Bildung ist eine bundesweite Bildungsoffensive auf absehbare Zeit nicht mehr möglich. Mit der Föderalismusreform II und der hierin enthaltenen Schuldenbremse sorgten Union und SPD außerdem dafür, dass auch die Finanzierung von Reformvorhaben auf Länderebene erheblich erschwert wird. Damit ist auch die Profilierung einzelner Bundesländer über eine neue Bildungsreform faktisch unmöglich geworden - und auch ein Comeback der Sozialdemokratie als Bildungsbewegung nur noch schwer vorstellbar.


Bildungspolitik als Instrument der sozialen Schließung

Die Umverteilungspolitik der vergangenen Jahre hat den gesellschaftlichen Verteilungskampf erheblich verschärft. Ein Hauptschulabschluss ist längst nicht mehr die Eintrittskarte in ein breites Angebot solider Berufsausbildungen und abgesicherter beruflicher Perspektiven. Viele AbsolventInnen insbesondere schulischer Berufsausbildungen sind im Berufseinstieg über Jahre in gar nicht oder schlecht bezahlten Praktika gefangen.(12) Und selbst ein Studienabschluss bedeutet nicht mehr den Einstieg in eine geregelte Erwerbslaufbahn, sondern lediglich in den Kampf um die schrumpfende Zahl der Plätze in der Mittelschicht. Während es in den 1970er Jahren tatsächlich einen massenhaften Aufstieg durch Bildung gab, prägt heute Angst vor dem Absturz die gesellschaftliche Stimmungslage. Die in die Mittelschicht Aufgestiegenen ziehen schnell die Leiter hinter sich hoch, um den einmal erkämpften Platz zu verteidigen. Anders formuliert: Der heutigen Unterschicht soll der Aufstieg verwehrt werden, um die eigene Position (und die der eigenen Kinder) möglichst nicht zu gefährden.

Beispielhaft war dies in den vergangenen Monaten am Hamburger Schulkampf zu beobachten. Durch einen Volksentscheid wurde die Schaffung einer Primarschule gestoppt, die die Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre erhöhen sollte. Die Vorstellung von gerade einmal zwei Jahren längeren gemeinsamen Lernens hat eine breite bürgerliche Koalition ins Leben gerufen, die die Bildungsprivilegien ihrer Kinder in Gefahr sah. Die bürgerliche Initiative hatte alle in der Bürgerschaft vertretenen Parteien gegen sich und konnte dennoch eine Mehrheit derjenigen gewinnen, die zur Abstimmung gingen. Dabei lohnt sich auch ein näherer Blick darauf, wer an dieser Abstimmung überhaupt teilgenommen hat: Die Beteiligung am Volksentscheid war umso höher, je geringer der Anteil der LeistungsempfängerInnen nach SGB II in einem Stadtteil ist (vgl. Abbildung).(13)

Hier hat sich die Ober- gegen die Unterschicht durchgesetzt. Die Eltern aus Sasel, Nienstedten oder anderen Elbvororten haben erheblich häufiger von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Zudem haben in diesen Stimmbezirken viele Stimmberechtigte gegen ein längeres gemeinsames Lernen gestimmt. Über 70% erhielt die Initiative gegen längeres gemeinsames Lernen in den Stimmbezirken Schule Tonndorf, Schule Altengamme-Deich, Schule Langenhorn, Standort Krohnstieg, Schule An der Glinder Au, Schule Heidhorst, Schule Arp-Schnitger-Stieg, Schule Richard-Linde-Weg, Grundschule Rahewinkel, Schule Billbrookdeich - überwiegend "bessere" Gegenden. Die hier wohnenden Eltern wollen, dass ihre Kinder von der eigenen gesellschaftlichen Position profitieren; sie sollen bessere Chancen haben als andere. Dazu gehört auch, dass sie unter sich bleiben - frei nach dem Motto: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Andernfalls, so formulierte es etwa der ehemalige Hamburger Bürgermeister Henning Vorscherau (SPD), drohe den besonders begabten Schülerinnen nervende Wiederholung, Langeweile und Unterforderung - und dazu, so sein Fazit, habe der Staat nicht das Recht.(14)

Auch von sozialdemokratischen und grünen PolitikerInnen wurden zunehmend konservative Begriffe und Interpretationen übernommen. Der Elitebegriff wurde noch zu Zeiten von Rot-Grün wieder hoffähig. Die Exzellenzinitiative, mit der viel Geld an wenigen Hochschulen konzentriert wird, ist eine Erfindung der Regierung Schröder. Hessen setzt diese Politik im Grunde konsequent fort, indem es zuletzt erst den öffentlichen Hochschulen 30 Mio. Euro gestrichen hat, um in der Folge 24,7 Mio. Euro in die Anschubfinanzierung einer privaten Hochschule zu stecken. Ähnliches passiert im neuen Bachelor-/Master-System, wenn die Masse der Studierenden nach dem Bachelor die Hochschule verlassen muss. Oder wenn die Einnahmen aus Studiengebühren kapazitätsneutral an die Hochschulen fließen: So wird die finanzielle Ausstattung verbessert, ohne mehr Studierende aufzunehmen - wer drin ist, profitiert, wer nicht drin ist, soll draußen bleiben. Die schwarz-gelbe Bundesregierung erprobt mit dem Deutschlandstipendium nun auch einen Paradigmenwechsel in der individuellen Förderung: Start wie bisher mit dem BAföG diejenigen zu fördern, die sich das Studium sonst nicht leisten könnten, sollen die neuen Stipendien an die "Besten" fließen - unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern. Immer häufiger und immer offener orientiert sich die Bildungspolitik nicht mehr an einer guten Bildung in der Breite oder an einer Unterstützung der Schwächsten, sondern daran, (vermeintlich) besonders leistungsstarke Personen oder Institutionen gezielt zu fördern. Dass es sich hierbei nicht um Leistungseliten im eigentlichen Sinne des Wortes handelt, sondern dass sich gesellschaftliche Eliten im Bildungssystem schlicht reproduzieren, wissen wir spätestens seit den entsprechenden Veröffentlichungen des Darmstädter Soziologen Michael Hartmann.(15)


Die Bildungspolitik wieder neu erfinden

Die CDU/FDP-Regierung setzt im Kern die Politik fort, die aus dem Scheitern der zweiten Bildungsreform resultierte. Vorfahrt für Bildung, das heißt in diesem Sinne Vorfahrt für wenige. Die Betonung von Bildung als Zukunftsthema ist längst kein Merkmal der gesellschaftlichen Linken mehr. In dem Maße, wie sich die Verteilungskämpfe zuspitzen, wird auch der Kampf um die Klassenzimmer zum regelrechten Klassenkampf. Entgegen aller Sonntagsreden bleibt die Bildung von den aktuellen Kürzungsorgien in Bund und Ländern nicht verschont. Und wenn das Geld in die Bildung zurückfließt, bleibt es in den Spitzen des Bildungssystems hängen - und kommt in der Breite nicht mehr an. Um diese Umverteilung werden in den kommenden Jahren die entscheidenden Kämpfe geführt werden. Damit Bildung wieder ein Instrument der sozialen Integration wird, lohnt es sich, dafür zu kämpfen, dass mehr Geld für Bildung gerade den Schwächsten im Bildungssystem zugute kommt. Genau hier will die Bundesregierung mit dem Haushalt 2011 noch einmal kräftig kürzen: Bei der Berufsorientierung, bei der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften, bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen. Und in den Länderhaushalten oder bei den Jobcentern und ARGEn sieht es nicht viel anders aus.

Nach dem Scheitern der zweiten Bildungsreform sind aber auch die konzeptionellen Debatten über Ziele und Instrumente der Bildungspolitik weitgehend zum Erliegen gekommen. Die in den vergangenen Jahren entstandene Bildungsstreikbewegung, die Oppositionsrolle von SPD und Grünen sowie das Erstarken der LINKEN bieten die Chance, offene Fragen wieder aufzugreifen und inhaltliche Debatten neu zu beleben. Gerade in einem gesellschaftlichen Klima, das durch Abstiegsängste geprägt wird, sind hierfür dicke Bretter zu bohren. Eine echte neue Bildungsreform ist nur denkbar, wenn sie auch ein Umsteuern der Sozial- und Steuerpolitik einfordert, die nicht auf Dumping und Konkurrenz, sondern auf materielle Absicherung der Bevölkerung und bessere Lebensbedingungen für alle zielt.


Klemens Himpele ist Referent im Vorstandsbereich Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sonja Staack arbeitet als Referentin für Bildungspolitik für die Fraktion DIE LINKE im Bundestag und ist Mitglied im Vorstand von ver.di Berlin.


Anmerkungen

(1) Jaich, Roman (2008): Gesellschaftliche Kosten eines zukunftsfähigen Bildungssystems. Gutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.

(2) Hierzu haben Mitte September 2010 die Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat im Vermittlungsausschuss begonnen.

(3) Truger, Achim/Teichmann, Dieter (2010): IMK-Steuerschätzung 2010-2014. Kein Spielraum für Steuersenkungen, Düsseldorf.

(4) Das Programm wurde von Bundesbildungsministerin Annette Schavan zunächst unter dem Titel "Nationales Stipendienprogramm" in die Debatte gebracht, das Bundeskabinett hat es allerdings am 8.9.10 umbenannt.

(5) Schnitzer, Klaus u.a. (1998): Das soziale Bild der Studierendenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. Herausgegeben durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Bonn und Berlin, S. 103.

(6) Isserstedt, Wolfgang et al. (2010): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn und Berlin, S. 72.

(7) BVerfG, 2 BvF 1/03 vom 26.1.2005.

(8) Die Umlage sollte im sogenannten Berufsausbildungssicherungsgesetz (BerASichG, Bundestagsdrucksache 15/2820) verankert werden, der 2004 geschlossene (faule) Kompromiss ist in der Beschlussempfehlung des Bildungsausschusses nachzulesen (Drucksache 15/3064).

(9) BVerfG, 2 BvF 2/02 vom 27.7.2004.

(10) Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat gerade eine Unterschriftensammlung für bessere Berufsperspektiven in der Wissenschaft gestartet, die die bis heute bestehenden Probleme benennt. Sie kann unterzeichnet werden unter http.//www.templiner-manifest.de.

(11) Vgl. bspw. Butterwegge, Christoph (20061: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3., erweiterte Auflage, Wiesbaden.

(12) Fuchs, Tatjana (2008): Was ist gute Arbeit? Anforderungen an den Berufseinstieg aus Sicht der jungen Generation. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Berufseinsteigern im Alter zwischen 18 und 34 Jahren mit abgeschlossener Berufsausbildung im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Internationales Institut für empirische Sozialökonomie, Stadtbergen.

(13) Eine sozial selektive Wahlbeteiligung kann man nicht nur hier, sondern auch bei allgemeinen Wahlen beobachten.

(Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)
Abbildung 1: Hamburger Schulreform - Am Volksentscheid nahmen gerade diejenigen, deren Kinder mit der Primarschule bessere Chancen erhalten sollten, vielfach gar nicht teil.

(14) Voscherau, Henning: Warum ich dagegen bin. Den sehr begabten Schülern wird nachhaltig geschadet, Hamburger Abendblatt vom 15.07.10.

(15) Vgl. etwa Hartmann, Michael (2002): Der Mythos von den Leistungseliten: Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/New York.


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Quelle:
Sozialismus Heft 10/2010, Seite 32 - 36
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2011