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HOCHSCHULE/1610: Alte und neue Selektionsmechanismen an den Hochschulen (spw)


spw - Ausgabe 6/2010 - Heft 181
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Alte und neue Selektionsmechanismen an den Hochschulen

Von Andrea Lange-Vester


Soziale Selektion findet vor allem vor dem Übertritt in die Hochschule statt. Wer es bis zum Studium schafft, kann deshalb zu den GewinnerInnen des Bildungssystems gezählt werden. Aber auch innerhalb der Hochschulen wird nach der sozialen Herkunft sortiert und aussortiert. Wer es bis zum Studium schafft, gehört also noch lange nicht dazu. Zugehörigkeit setzt einen bestimmten, sicheren Umgang mit der Kultur und den Konventionen der Hochschule voraus, und dieser sichere Umgang stellt sich erst dann wirklich ein, wenn über mehrere Generationen einer Familie eine Bildungstradition ausgeprägt werden konnte.

Insofern haben die zahlreichen BildungsaufsteigerInnen an den Hochschulen eine wichtige Hürde genommen, sind aber überwiegend noch nicht vollständig in der höheren Bildung angekommen und integriert. Das gilt auch für diejenigen, die den Bildungsaufstieg ihrer Eltern fortsetzen. Ungleich schwieriger ist die Situation für Studierende, die bislang noch über keinerlei Erfahrung mit akademischer Bildung in ihrer Herkunftsfamilie verfügen. Gleichzeitig sind während der vergangenen Jahrzehnte die Kompetenz und das Selbstbewusstsein insbesondere in den Milieus der gesellschaftlichen Mitte gestiegen. Wir haben es längst nicht mehr mit einer Polarisierung zwischen bildungsnahen Gruppen in den oberen Milieus und bildungsfernen Milieus unterhalb dieser Grenze zu tun. Bestimmte Teilgruppen der Mitte, die historisch an ein ausgeprägtes Leistungs- und Kompetenzethos ihrer Vorfahren anschließen, erwerben inzwischen höhere Bildungsabschlüsse in einer Größenordnung, die dem Bildungserwerb einiger Fraktionen der oberen Milieus in nichts nachsteht (vgl. Vester 2004).

Das aber gilt eben nur für bestimmte Gruppen. Es sind nach wie vor insbesondere die oberen Milieus, die an den Hochschulen deutlich überrepräsentiert sind. "Die grundlegenden sozialen Disparitäten erweisen sich als relativ stabil. Die Gruppen mit der höchsten Beteiligungsquote beim Hochschulzugang - Kinder aus Selbständigen- und Beamtenfamilien, in denen mindestens ein Elternteil ein Studium absolviert hat - weist auch 2007 noch eine etwa fünf Mal so hohe Studierchance auf wie die Gruppe mit der niedrigsten Beteiligungsquote, den Kindern aus Arbeiterfamilien" (BMBF 2010, S.9).

Angesichts dieser Befunde der 19. Sozialerhebung sieht der Präsident des Deutschen Studentenwerks unser Bildungssystem "weit entfernt von sozial offenen Hochschulen" (Dobischat 2010). Im Blick auf den steigenden Bedarf an AkademikerInnen und mit dem Ziel, eine gleichberechtigte Teilhabe an der Hochschulausbildung zu ermöglichen, haben das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Länder und alle Interessenträger im Jahr 2008 einen so genannten nationalen Aktionsplan "Soziale Dimension" entwickelt. Er sieht unter anderem ein nationales Stipendienprogramm vor, damit das Studium nicht am Geldbeutel scheitert.


Zusätzliche finanzielle Mittel für die Hochschulen sind erforderlich ...

Der Einsatz zusätzlicher materieller Ressourcen ist notwendig, um auch künftig wenigstens den Status quo im Studienbetrieb noch gewährleisten zu können. Vor allem bis zum Jahr 2013 wird eine steigende Zahl bei den StudienanfängerInnen erwartet. Eine besondere Rolle spielt hier auch die Verkürzung der Gymnasialzeit um ein Jahr, durch die 2011 zwei Jahrgänge die Allgemeine Hochschulreife erwerben. Vorausberechnungen gehen davon aus, dass die Zahl der StudienanfängerInnen bis 2025 keinesfalls unter dem Niveau der vergangenen zehn Jahre liegen wird (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Maßnahmen wie Studienplatzbeschränkungen und Numerus Clausus, die hier naheliegen, damit einer Überlastung der Studiengänge begegnet werden kann, verstärken die Selektion. Dies gilt ebenfalls bei einer Ausweitung der Studiengebühren.

Die 19. Sozialerhebung macht darüber hinaus deutlich, dass die Studierenden der verschiedenen Herkunftsgruppen unterschiedlich stark damit belastet sind, ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen. Hier gibt es einen Bedarf, die finanzielle Unterstützung gezielt für die Angehörigen derjenigen gesellschaftlichen Gruppen auszubauen, deren Ressourcen begrenzt sind. Dies ist auch wichtig, um ein Studium für neue Gruppen attraktiv zu machen.

Die Einnahmen der Studierenden unterscheiden sich nach der Höhe und der Zusammensetzung (für die nachfolgenden Zahlen vgl. Isserstedt u. a. 2010, S. 13ff). Während die monatlichen Einnahmen im Jahr 2009 im Durchschnitt bei 812 Euro lagen, mussten 20% der Studierenden mit weniger als 600 Euro im Monat auskommen, 17% standen mehr als 1000 Euro zur Verfügung. Die meisten Studierenden (87%) werden von ihren Eltern finanziell unterstützt. Bemerkenswert ist, dass diese Unterstützung, die seit den 1990er Jahren bis 2006 kontinuierlich gestiegen war, im Jahr 2009 erstmals gesunken ist. Dies trifft für alle Gruppen zu, allerdings fällt der Rückgang in der Herkunftsgruppe "hoch" geringer aus als in den anderen Herkunftsgruppen.(1)

An zweiter Stelle der Einnahmequellen steht bei den Studierenden der eigene Verdienst. Studierende der Herkunftsgruppen "niedrig" und "mittel" finanzieren sich zu 30% aus eigenem Erwerb, in der Herkunftsgruppe "hoch" liegt dieser Anteil bei einem Fünftel der Einnahmen (21%). In ihrer Untersuchung über die Motive für den Studienabbruch stellen Heublein u.a. (2009) heraus, dass eine Studienfinanzierung, die vor allem auf Erwerbstätigkeit beruht, sich fördernd auf den Studienabbruch auswirkt. Dabei ist der Umfang der Erwerbstätigkeit entscheidend, der in der Gruppe der Bildungsaufsteiger besonders hoch ist.

BAföG macht etwa ein Drittel der Einnahmen (32%) in der unteren, gut ein Fünftel (22%) in der mittleren und 6% in der oberen Herkunftsgruppe der Studierenden aus (dazu und für die folgenden Zahlen vgl. Isserstedt u. a. 2010, S. 13ff.). Der Beitrag, den BAföG-Empfänger im Jahr 2009 erhielten, lag mit 430 Euro zwar erheblich über dem Satz von 376 Euro im Jahr 2006. Der Anteil der Geförderten in der Bezugsgruppe Normalstudent(2) lag allerdings unverändert bei 29%. Nur wenig Zuwachs erhielt im Zeitraum von 2006 bis 2009 auch die Gruppe der Stipendiaten; ihr Anteil an den Studierenden stieg geringfügig, von 2% auf 3%. Der Anteil derjenigen schließlich, die einen Kredit aufgenommen haben, um ihr Studium zu finanzieren, ist zwar klein, hat sich im selben Zeitraum allerdings verdoppelt und lag 2009 bei 5%.

Diese Zahlen belegen den ungleichen materiellen Rahmen, in dem sich die Studierenden bewegen und zeigen Bedarf an, die finanzielle Förderung für die Studierenden aus niedrigen und aus mittleren Herkunftsgruppen zu verstärken. Dafür sprechen auch die Unterschiede im Gesamteindruck der Studierenden: 75% derjenigen, die der Herkunftsgruppe "hoch" angehören, sehen ihr Studium finanziell gesichert. Diese Sicherheit empfindet in der niedrigen Herkunftsgruppe weniger als die Hälfte der Studierenden (47%). Der Wert steigt auf 55% in der mittleren und auf 62% in der gehobenen Herkunftsgruppe.


... aber Geld allein genügt nicht

Ausreichende finanzielle Mittel gehören zu den entscheidenden Voraussetzungen für ein gelingendes Studium. Dennoch: Geld allein genügt nicht. Ein gut funktionierender Studienbetrieb wird nicht schon dadurch gewährleistet, dass die Universitäten finanziell besser gestellt werden. Wofür werden die Mittel eingesetzt? Sollen sie helfen, so genannte Leuchttürme der Forschung zu errichten und Exzellenz zu steigern? Oder sollen sie eingesetzt werden, um ein breites Spektrum unterschiedlicher Studierender für eine anspruchsvolle Berufstätigkeit außerhalb der Wissenschaft zu qualifizieren? Personelle Verstärkung, die ProfessorInnen entlastet und ihnen die Möglichkeit zu intensiverer Betreuung ihrer StudentInnen gibt, heißt nicht automatisch, dass dies auch geschieht. Gute Lehre und Betreuung von Studierenden und auch des wissenschaftlichen Nachwuchses werden in der herrschenden Logik des Wissenschaftsbetriebs nach wie vor vergleichsweise gering geschätzt.

Dass Studierende an den Hochschulen ausreichend und kompetent betreut werden, versteht sich nicht von selbst. Betreuung und Anleitung sind für viele aber eine ebenso wichtige Voraussetzung für ihren Studienerfolg wie es die Sicherung der Finanzierung ist. Das Stipendium schafft noch keinen Studenten, der sich im Hochschulbetrieb auch zurecht findet, der wissenschaftlich zu arbeiten und einen Vortrag zu halten versteht. An den Hochschulen werden entsprechende Kompetenzen häufig noch immer vorausgesetzt und nicht ausreichend vermittelt.


Verborgene Selektionsmechanismen und Akkulturationsleistungen

Es sind nicht nur die finanziellen Ressourcen einer Familie und auch nicht nur die Noten, Prüfungen oder Zulassungsbarrieren, an denen die höhere Bildung ihrer Nachkommen scheitert. Die Auslese nach der sozialen Herkunft vollzieht sich zudem und in der Hauptsache auf unsichtbare Weise, nämlich über Selbstverständlichkeiten, deren selektive Wirkung häufig nicht decodiert wird, weil sie sich im Zuge des Alltäglichen und vermeintlich Normalen entfaltet. Die praktisch selbstverständliche Erwartung, dass Studierende die für das wissenschaftliche Arbeiten erforderlichen Kompetenzen bereits in das Studium mitbringen, ist Teil der Konventionen und Anforderungen des akademischen Feldes, die im Verborgenen für Selektion sorgen. Dabei geht es in der Frage, wer die Spielregeln an der Hochschule beherrscht, um Passfähigkeit im Habitus der Studierenden. Auch wenn gehobene Bildung nicht mehr den oberen Milieus allein vorbehalten ist, haben sich deren Leitbilder und Vorstellungen vom Studium doch behaupten können und ist die Hochschule nach wie vor nicht der Ort, der für die Kinder von Handwerkern und Bauern gemacht ist.

BildungsaufsteigerInnen können sich an der Hochschule in der Regel nicht wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser fühlen. Die Bildungstradition, die ihnen fehlt, lässt sich nicht ohne weiteres ersetzen. Das Studium bedeutet für sie, dass sie Akkulturationsanstrengungen unternehmen müssen, was ihnen in unterschiedlicher Weise und oft erst in einem sehr langwierigen und schwierigen Prozess gelingt (vgl. Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004). Die Umstellung beschränkt sich dabei nicht auf das unmittelbare Studium, sondern betrifft häufig die ganze Lebensweise und bringt die BildungsaufsteigerInnen nicht zuletzt in Konflikte mit ihrem Herkunftsmilieu. Diese Konflikte sind umso ausgeprägter, je weiter sich BildungsaufsteigerInnen von ihrer sozialen Herkunft entfernen. Problematisch ist die Situation besonders auch dann, wenn die BildungsaufsteigerInnen während des Studiums im elterlichen Haushalt wohnen, was bei Studierenden aus niedrigen Herkunftsgruppen vergleichsweise häufig der Fall ist (vgl. Isserstedt u. a. 2010, S. 410). Die Konfrontation zweier Welten, in denen diese Studierenden oft leben, ist täglich präsent und bindet damit auch täglich Energien und Zeit.

Akkulturation bedeutet Verunsicherung. Die gesamte Lebensweise, die Art sich zu geben, das Bildungsverständnis, die Vorstellungen vom Leben, die Sprache, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten - das alles steht zur Disposition und muss selbstkritisch überprüft werden. Und Akkulturation kostet Zeit, die sich in einer Verlängerung des Studiums niederschlagen kann oder auch in einer "Selbsteliminierung", wie Bourdieu und Passeron (1971) den Studienabbruch genannt haben, der scheinbar freiwillig geschieht, weil er nicht in unmittelbarem Zusammenhang damit steht, eine Prüfung nicht bestanden zu haben.

Bourdieu und Passeron haben Anfang der 1960er Jahre die Mechanismen sozialer Privilegierung und Benachteiligung an den französischen Hochschulen untersucht. Die Abdrängung der Nachkommen aus den "unteren und mittleren Klassen" sowie insbesondere der Frauen auf die weniger renommierten geistes- und naturwissenschaftlichen Fakultäten, die Verlängerung des Studiums und die Unsicherheit im Studiengang interpretieren die Autoren als verborgene Formen, "in denen sich die Ungleichheit der Bildungschancen manifestiert" (ebd., S.20). Verschleiert werden diese Selektionsmechanismen unter anderem mithilfe der Begabungsideologie. Sie schreibt Erfolge und Misserfolge der individuellen Begabung oder Persönlichkeit zu, die "in Wirklichkeit von frühzeitigen Orientierungen abhängig sind, die unweigerlich durch das familiäre Milieu bestimmt werden" (ebd., S.31).

Die Selektionsmechanismen der Verunsicherung, Verlängerung und der Abdrängung auf bestimmte Fächergruppen lassen sich auch an deutschen Hochschulen nachweisen - und zwar bis heute. Die Sozialwissenschaften beispielsweise wurden in den 1990er Jahren als häufiges Ziel von "'volatilen' Studienentscheidungen identifiziert (Schnitzer u.a. 1998, S.294). Auffällig war dabei die gleichzeitige "Überrepräsentanz bildungsferner Schichten" innerhalb dieser Fachrichtung, die verbunden war mit einem hohen Anteil an Langzeitstudierenden (Schnitzer u.a.2001, S.113). Die Abbruchquote in den Studienbereichen Sozialwissenschaften und Sozialwesen lag bei 42% (vgl. Heubleich u.a.2002, S.28).

Die Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und der Studienfachwahl zeigen sich auch in den aktuellen Zahlen. Sie bestätigen, dass Studierende der Herkunftsgruppe "niedrig" nach wie vor häufig sozialwissenschaftliche Fächer wählen. So kommen im Sozialwesen und in der Sonderpädagogik 23% der Studierenden aus der niedrigen Herkunftsgruppe (vgl. Isserstedt u.a. 2010, S.134ff).

Im Blick auf den Studienabbruch deuten die Zahlen bei Heublein u.a. (2009) zwar auf eine insgesamt abnehmende Tendenz. Dabei ist die Studienabbruchquote an den Universitäten im Vergleich der Absolventenjahrgänge 2004 und 2006 um vier Prozent gesunken, vermutlich infolge der Bachelorstudiengänge. Aufgrund der unterschiedlichen Zeitpunkte, an den die Hochschulen zum Bachelor übergegangen sind, wird sich allerdings erst in den kommenden Jahren sicher sagen lassen, ob es sich hier um eine dauerhaft positive Wirkung der Studiengangsreformen handelt. Zudem zeigen sich fachspezifisch unterschiedliche Auswirkungen: während die Studienabbruchquote in sprach-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächern im Bachelorstudiengang deutlich geringer ausfällt als in den herkömmlichen Studiengängen, verzeichnen beispielsweise die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) vor allem an den Fachhochschule anhaltend hohe und im Kontext der Fachkräftediskussion besonders unerfreuliche Abbruchquoten.


Zeitknappheit und Betreuungsmängel verschärfen die Selektion im Bachelor

Bildung erfordert Zeit. Dies gilt erst Recht für BildungsaufsteigerInnen. Ihre Umstellung auf kulturelles Kapital und Akkulturation braucht, so Bourdieu (1982, S.237ff), "Zeit um zu begreifen". Dabei scheint der Bachelor auf die Voraussetzungen der Studierenden verschiedener Herkunft noch weniger Rücksicht zu nehmen als es in den bisherigen Studiengängen der Fall war. Die inhaltliche Überforderung, die Studienabbrecher als ein wesentliches Motiv ihres Studienabbruchs angeben (vgl. Heublein u.a. 2009), hängt auch zusammen mit der Kürze des Studiums. Sie lässt wenig Spielraum, sich nach und nach das Erforderliche noch anzueignen und so eventuelle Rückstände aufzuholen. Hinzu kommt, dass schwierige Prüfungen häufig in einer frühen Studienphase platziert werden, in der die Orientierung an der Hochschule insbesondere für Studierende ohne akademische Vorbilder in den Familien längst nicht abgeschlossen ist.

Die Studierenden im Bachelor haben keine Zeit zu verlieren. Sie sind deshalb auf eine kompetente und ausreichende Betreuung im Studium stärker angewiesen als die Studierenden der herkömmlichen Studiengänge. Mängel in der Betreuung sind ein wesentliches Motiv dafür, ein Studium abzubrechen (vgl. ebd.). Gerade die Studierenden aus mittleren und unteren Milieus formulieren Erwartungen an die Lehrenden, die stärker auf Anleitung und Betreuung zielen (vgl. Lange- Vester 2007). Vor allem für die "Bildungsunsicheren", deren Eltern - und oft auch Geschwister - teilweise gering qualifiziert oder als Angelernte beschäftigt sind, bedeutet der Bachelor eine wenig aussichtsreiche Situation. Diese Gruppe erhofft sich von den Lehrenden eine gewisse Fürsorge und wünscht sich, von ihnen "an die Hand genommen" zu werden. Ganz anders erwarten Studierende der gehobenen Milieus, mit DozentInnen einen Austausch auf Augenhöhe zu führen (vgl. ebd.).

Weniger Zeit ist Zeit, die vor allem den Bildungsaufsteigern verloren geht und sie unter Druck setzt. Der Bachelor muss Möglichkeiten bieten, damit die Anforderungen, die er stellt, auch erfüllt werden können. Eine Option ist durchaus, die Regelstudienzeit auf acht Semester zu verlängern. Auf jeden Fall ist es notwendig, die Betreuung im Studium zu intensivieren und ihre Qualität steigern. Es kann also nicht einfach darum gehen, kurzfristig zwar gut gemeinte, aber nicht hinreichend professionelle zusätzliche Tutorien einzurichten. Es muss stattdessen darum gehen, mit dieser Aufgabe didaktisch kompetentes Personal langfristig zu betrauen. Auf dieser Grundlage ist auch eine stärker milieugerechte Pädagogik auszubauen, die die Habitusmuster vor allem der unteren und mittleren Milieus kennt und die die Unterschiede der sozialen Herkunft zum zentralen Ausgangspunkt nimmt. Eine solche Pädagogik muss auch der überwiegend eher praktischen Orientierung von BildungsaufsteigerInnen entgegenkommen, ohne ihnen Bildungsmotive und intellektuelle Fähigkeiten abzusprechen. Wesentlich ist hier also auch, Kompetenzen zu enthierarchisieren (vgl. Bremer 2007, S. 269ff). Im Blick auf die unteren Herkunftsgruppen schließlich muss milieugerechte Pädagogik unter anderem fest einplanen, dass Lehrende auch von sich aus auf Studierende individuell zugehen. Würde der Qualitätspakt Lehre, für den der Bund von 2011 bis 2020 zwei Milliarden Euro bereitstellt, zur Entwicklung von milieugerechten Lehr- und Betreuungskonzepten eingesetzt werden, wäre das ganz sicher eine sinnvolle Investition.

Dr. Andrea Lange-Vester vertritt eine Professur an der Fakultät für Pädagogik der Universität der Bundeswehr München.



ANMERKUNGEN

(1) Die Sozialerhebungen arbeiten seit 1982 mit einem Indikator, der die Studierenden auf der Grundlage der Bildung und beruflichen Stellung/ökonomischen Situation der Eltern in vier Herkunftsgruppen bündelt (hoch, gehoben, mittel, niedrig).


(2) Mit der Bezugsgruppe Normalstudent werden in der Sozialerhebung diejenigen Studierenden gefasst, die sich im Erststudium befinden, ledig sind und außerhalb ihres Elternhauses wohnen. Dies trifft auf 65% aller Studierenden zu.


LITERATUR

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Bielefeld.

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hg.): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. Ausgewählte Ergebnisse. Bonn, Berlin.

Bourdieu, P. (1982), Die feinen Unterschiede. Frankfurt/Main.

Bourdieu, P./Passeron, J.-C. (1971): Die Illusion der
Chancengleichheit. Stuttgart.

Bremer, H. (2007): Soziale Milieus, Habitus und Lernen. Weinheim und München.

Dobischat, R. (2010): "weit entfernt von sozial offenen Hochschulen". URL: http://www.studentenwerke.de/pdf/Statement_Dobischat19SE.pdf (Zugriff am 1.12.2010)

Heublein, U./Schmelzer, R./Spangenberg, H./Sommer, D. (2002): Studienabbruchstudie 2002. Die Studienabbrecherquoten in den Fächergruppen und Studienbereichen der Universitäten und Fachhochschulen. HIS Hochschul-Informations-System GmbH. Hannover.

Heublein, U./Hutzsch, C./Schreiber, J./Sommer, D./Besuch, G. (2009): Ursachen des Studienabbruchs in Bachelor- und in herkömmlichen Studiengängen. Hannover: HIS Projektbericht.

Isserstedt, W./Middendorff, E./Kandulla, M./Borchert, L./Leszczensky, M. (2010): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System.

Lange-Vester, A. (2007): Neue Bildungsmilieus an den Universitäten. Das Beispiel der Studierenden in den Sozialwissenschaften. In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik - GWP Heft 1-07. Leverkusen, S.75-88.

Lange-Vester, A./Teiwes-Kügler, C. (2004): Soziale Ungleichheiten und Konfliktlinien im studentischen Feld. Empirische Ergebnisse zu Studierendenmilieus in den Sozialwissenschaften. In: Engler, S./Krais, B. (Hrsg.), a.a.O., S.159-187.

Schnitzer, K./Isserstedt, W./Müßig-Trapp, P./Schreiber, J. (1998): Das soziale Bild der Studentenschaft in Deutschland. 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, hg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bonn.

Schnitzer, K./Isserstedt, W./Middendorff, E. (2001): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2000. 16. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, hg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bonn.

Vester, M. (2004): Die Illusion der Bildungsexpansion. Bildungsöffnungen und soziale Segregation in der Bundesrepublik Deutschland. In: Engler, S./Krais, B. (Hrsg.), Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Weinheim und München, S.13-53.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2010, Heft 181, Seite 30-35
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2011