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HOCHSCHULE/1613: Anforderungen an Hochschulpolitik des 21. Jahrhunderts (spw)


spw - Ausgabe 6/2010 - Heft 181
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Nicht dereguliert und unternehmerisch, sondern demokratisch und sozial
Anforderungen an die Hochschulpolitik des 21. Jahrhunderts

Von Andreas Keller


Hochschulen sind im Umbruch. Wurde die Debatte in den neunziger Jahren von Protagonisten einer neoliberalen Umstrukturierung der Hochschulen wie dem Gütersloher Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) bestimmt, gewinnen inzwischen alternative Reformkonzepte an Bedeutung. Auch die Gewerkschaften mischen sich stärker in die hochschulpolitische Reformdebatte ein; der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) möchte sich ein neues hochschulpolitisches Programm geben. Das ist gut so. Denn wenn es zutrifft, dass die Expansion der Hochschulbildung ein weltweiter Trend ist, dann sind auch Industrie- und Dienstleistungsgewerkschaften gut beraten, sich dafür zu rüsten, dass künftig immer mehr wissenschaftlich qualifizierte Fachkräfte in den Betrieben arbeiten werden. In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts bekommen darüber hinaus wissenschaftliche Erkenntnisse eine immer größere Bedeutung für den ökonomischen, sozialen und kulturellen Fortschritt. Gewerkschaften müssen daher auf die Hochschulentwicklung auch deshalb Einfluss nehmen, um dafür zu sorgen, dass auch Beschäftigte und Erwerbslose, Rentnerinnen und Rentner, Studierenden und Auszubildende am Fortschritt teilhaben.

Unbestreitbar ist aber auch: Eine gewerkschaftliche Debatte um Hochschulpolitik wäre unvollständig, wenn sie ausschließlich aus der Perspektive der "Abnehmer" der von Hochschulen produzierten Absolventinnen und Absolventen und Forschungsergebnisse geführt würde, die die Perspektive der an den Hochschulen Beschäftigten ausblendete. Am Arbeitsplatz Hochschule sind mehr als 500.000 Kolleginnen und Kollegen tätig - in Forschung und Lehre, Verwaltung, Technik und Management. Eine gute Ausgestaltung der Bedingungen am Arbeitsplatz Hochschule ist wiederum nicht allein im Interesse der Hochschulbeschäftigten - denn die Qualität von Forschung und Lehre sowie die Qualität der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Hochschulpersonals sind zwei Seiten einer Medaille.

Insofern ist es gut, dass die bevorstehende Diskussion des hochschulpolitischen Programms auf zwei Referenzdokumente zurückgreifen kann. Zum einen auf das "Leitbild Demokratische und Soziale Hochschule", das die Hans-Böckler-Stiftung 2010 als Ergebnis der Arbeit einer Projektgruppe vorgelegt hat, der Vertreterinnen und Vertreter mehrerer DGB-Gewerkschaften angehören(2). Zum anderen auf das wissenschaftspolitische Programm der Gewerkschaft, die Beschäftigte in Erziehung und Wissenschaft als Mitglieder organisiert und vertritt - der Bildungsgewerkschaft GEW. Der Gewerkschaftstag der GEW hat das wissenschaftspolitische Programm der GEW 2009 unter dem Motto "Wissenschaft demokratisieren, Hochschulen öffnen, Qualität von Forschung und Lehre entwickeln, Arbeits- und Studienbedingungen verbessern" verabschiedet.(2)

Ausgangspunkt für eine an einer demokratischen und sozialen Hochschule orientierten Reformdebatte muss ein Bildungsverständnis sein, das Bildung nicht auf eine abhängige Variable der ökonomischen Entwicklung reduziert. Zweifellos ist Bildung ein entscheidender Faktor für die Gestaltung der Arbeits-, Produktions- und Innovationsprozesse. Aber: Bildung bestimmt darüber hinaus die Arbeits- und Lebenschancen der Individuen maßgeblich. Bildung prägt die demokratische Gesellschaft, indem sie Gestaltungskompetenzen, Urteils- und Kritikfähigkeit ausbildet. Damit wird der Erwerb von Bildung, wissenschaftlichen Kompetenzen und kritischer Urteilsfähigkeit ein entscheidendes Kriterium für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Bildung und Wissenschaft haben die Aufgabe, ihren Beitrag zum Abbau von Ungleichheit und zur sozialen, kulturellen und demokratischen Integration der Gesellschaft zu leisten.

Dem verkürzten neoliberalen Bildungsbegriff ist daher eine klare Absage zu erteilen. Die "unternehmerische" (Centrum für Hochschulentwicklung) oder "deregulierte" (Stifterverband für die deutsche Wissenschaft) Hochschule können keine Leitbilder sein, die den bildungs- und wissenschaftspolitischen Herausforderungen der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts gerecht werden. Eine Bildungspolitik, die auf eine Zementierung sozialer Selektion, auf administrativ verfügte Begrenzung von Bildungszeiten, auf die Errichtung zusätzlicher finanzieller Hürden und auf Elitenförderung statt auf die Verbesserung des Qualifikationsniveaus in der Breite ausgerichtet ist, führt in die Sackgasse. Eine Wissenschaftspolitik, die Hochschulen nach dem Vorbild gewerblicher Unternehmen und betriebswirtschaftlicher Steuerungsmodelle umbaut, die Mitbestimmung von Beschäftigten und Studierenden abbaut, den Hochschulzugang durch Hochschulauswahlverfahren und Studiengebühren beschränkt und die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Hochschulbeschäftigten dereguliert und prekarisiert, ist ein Irrweg.

Die Gewerkschaften treten stattdessen für eine demokratische Hochschule ein. Wir sehen Hochschulen als Orte mitbestimmter und öffentlich verantworteter Wissenschaft an, an denen Forschung, Lehre und Studium in gesellschaftlicher Verantwortung praktiziert werden. Wir begreifen das Studium als eine wissenschaftliche Ausbildung, die seine Gegenstände und Methoden kritisch reflektiert und sich mit der Anwendung der erworbenen Kompetenzen in der beruflichen und gesellschaftlichen Praxis kritisch auseinandersetzt. Und die Gewerkschaften treten für eine soziale Hochschule ein. Wir fordern gute Bildung für alle, Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung, zwischen unterschiedlichen Bildungseinrichtungen und Bildungswegen. Wir fordern eine soziale Öffnung der Hochschulen, den Abbau sozialer und ethnischer Benachteiligungen und die Gleichstellung der Geschlechter durch gleiche Bildungschancen für alle.


Soziale Öffnung der Hochschulen

Dreh- und Angelpunkt einer demokratischen und sozialen Hochschule muss eine befriedigende Antwort auf die Frage sein, wie wir die soziale Öffnung der Hochschulen erreichen können. Deutschlands Hochschulen bilden zu wenig Akademikerinnen und Akademiker aus, zu wenig junge Menschen nehmen ein Hochschulstudium auf. Nichtakademikerkinder und vor allem Arbeiterkinder haben deutlich schlechtere Chancen, an die Hochschule zu kommen. Während von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 81 Kinder in die Sekundarstufe II an allgemeinbildenden Schulen eintreten, an der in der Regel die Hochschulzugangsberechtigung erworben wird, und 71 Kinder ein Hochschulstudium aufnehmen, sind es bei Kindern aus Nichtakademikerfamilien nur 45 Kinder, die in die Sekundarstufe II eintreten und 24 Kinder, die ein Studium aufnehmen.(3) Höhere Bildung wird in Deutschland vererbt - ein bildungs- und gesellschaftspolitischer Skandal.

Es ist höchste Zeit, dicke Bretter zu bohren. Wer die Hochschulen sozial öffnen möchte, muss auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen. Wir müssten erstens dafür sorgen, dass Bund und Länder den durch die geburtenstarken Jahrgänge der neunziger Jahre, die doppelten Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht erwarteten "Studierendenberg" nicht untertunneln, sondern erklimmen. Und sich nicht auf eine anschließende Talfahrt vorbereiten, sondern für eine Wanderung durch anhaltendes Hochplateau rüsten. Insofern ist das Studierendenhoch eine Chance, die Hochschulen so auszubauen, dass in Deutschland nicht 40, sondern wie in fast allen Industrieländern 50 oder 60 Prozent eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium aufnehmen.

Solange Studienplätze knapp sind, brauchen wir zweitens ein Hochschulzulassungsverfahren, dass sicherstellt, dass die verfügbaren Studienkapazitäten tatsächlich ausgeschöpft werden. Die Hochschulen haben über Jahre eine Deregulierung der Hochschulzulassung gefordert. Sie haben sich teilweise durchgesetzt und scheitern nun kläglich mit der Aufgabe, den jungen Menschen eine faire Ausbildungschance zu geben. Wir erwarten, dass der Bund sich jetzt seiner Verantwortung stellt und seine Gesetzgebungskompetenz für die Regelung der Hochschulzulassung nutzt.

Wir müssen uns drittens den Angriffen auf die Kapazitätsverordnung entgegenstellen. Das Bundesverfassungsgericht hat 197 entschieden, dass das Grundrecht der Berufswahlfreiheit ein Recht auf Hochschulzulassung einschließt. Wir stehen zum Recht auf Hochschulzulassung als Ausdruck eines sozialstaatlichen Grundrechtsverständnisses und dürfen nicht zulassen, dass die Rektoren und Präsidenten von gekürten oder selbst ernannten Exzellenzuniversitäten die - notwendige - Diskussion um eine Verbesserung des Betreuungsverhältnisses zwischen Lehrenden und Studierenden dafür instrumentalisieren, ihre Pforten für Studienbewerberinnen und Studienbewerber zu schließen.

Wenn wir wirklich wie im OECD-Durchschnitt 55 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hochschulen führen wollen, brauchen wir viertens eine Diskussion über die Erweiterung des Rechtsanspruchs auf Hochschulzulassung über den traditionellen bildungsbürgerlichen Königsweg der gymnasialen Oberstufe hinaus. Der so genannte dritte Bildungsweg zeichnet sich heute durch einen föderalen Flickenteppich unterschiedlichster Regelungen für den Hochschulzugang beruflich Qualifizierter aus.

Noch so viele Studienplätze reichen nicht aus, wenn sich die Studienberechtigten das Studieren nicht mehr leisten können. Wir müssen daher fünftens die im Jahr 2000 durch ein "Machtwort" des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder abgebrochene Diskussion um eine Strukturreform der Ausbildungsförderung wieder aufnehmen. In ihrem wissenschaftspolitischen Programm schlägt die GEW vor, "den Darlehensanteil im BAföG zu Gunsten eines nicht rückzahlungspflichtigen Zuschusses zurückzuführen, damit junge Menschen vom 'Studentenberg' aus nicht mit einem 'Schuldenberg' ins Berufsleben starten müssen. Perspektivisch ist das BAföG auf diese Weise zu einem elternunabhängigen Studienhonorar für alle Studierenden weiterzuentwickeln. Im Gegenzug sollten die ausbildungsbezogenen Leistungen des Familienleistungsausgleichs (Kindergeld, Steuerfreibeträge usw.), die heute Eltern von Studierenden zu gute kommen, in die Ausbildungsförderung integriert und damit direkt allen Studierenden ausgezahlt werden."(4)

Warum eigentlich sollen Studentinnen und Studenten, die nicht nur Entbehrungen auf sich nehmen, sondern auch eine für Wirtschaft und Gesellschaft nützliche und für die Weiterentwicklung der Wissenschaft konstitutive Arbeit leisten, dafür nicht bezahlt werden, sondern selbst bezahlen? Ebenso wie Auszubildende in der dualen beruflichen Bildung kein Lehrgeld mehr bezahlen müssen, sondern eine Ausbildungsvergütung beziehen, könnte eines Tages auch das Studienhonorar selbstverständlich sein. Das ist kein utopisches Luftschloss, sondern dann machbar, wenn die richtigen Kerngedanken der Reformdiskussion der neunziger Jahre wieder belebt werden: die Integration der ausbildungsbezogenen Leistungen des Familienlastenausgleichs, der heute nichts anderes als ein "Besserverdienenden-BAföG" ist, in die Ausbildungsförderung.

Um ein Studium nicht noch weiter zu verteuern und mögliche Verbesserungen der Ausbildungsförderung nicht zu konterkarieren, brauchen wir sechstens die Abschaffung aller Studiengebühren in den vier Bundesländern, die immer noch an ihnen festhalten: Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Hessen. Die Beispiele Hessen, Saarland und Nordrhein-Westfalen zeigen: Fehler lassen sich korrigieren, Widerstand gegen Bildungs- und Sozialabbau zahlt sich aus, auch hochschulpolitische Themen sind kampagnen- und wahlkampffähig.


Verbesserung der Qualität von Lehre und Studium

Bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland werden viele gute Zielsetzungen des Europäischen Hochschulraums in ihr Gegenteil verkehrt. Statt Mobilität zu fördern und das Studium studierbarer zu machen, erschweren die neuen Studienstrukturen vielfach den Studienortwechsel und steigern Abbrecherquoten. Statt die Betreuung der Studierenden zu verbessern, führt die Studienreform bei gleichbleibender oder sinkender Ausstattung der Hochschulen zu einer höheren Arbeitsbelastung sowohl für das in Lehre und Verwaltung tätige Personal als auch für die Studierenden selbst.

Die Gewerkschaften müssen sich daher an die Spitze der mit der Studienstrukturreform Unzufriedenen stellen und diskutieren, wie der überfällige Kurswechsel bei der Umsetzung der Bologna-Reformen aussehen sollte. Wie schaffen wir es, dass Mobilität nicht länger bestraft, sondern tatsächlich gefördert wird? Wie können wir die soziale Dimension des Europäischen Hochschulraums mit Leben erfüllen? Wie können Studierbarkeit und Studierfreiheit auch im Bologna-Zeitalter gesichert werden? Wie kann der freie Zugang zum Masterstudium als eine der zentralen Forderungen der Bildungsproteste 2009 durchgesetzt werden? Wie schaffen wir es, dass Absolventinnen und Absolventen nicht nur "employable" werden, sondern im umfassenden Sinne Berufsbefähigung erlangen?

Hier liegt auch der Schlüssel für die dringend notwendige Zusammenarbeit von Hochschulbeschäftigten und Studierenden, Gewerkschaften und Studierendenvertretungen: Ein Übermaß an "workload" für die Studierenden und die Verdichtung der Arbeitsprozesse in Lehre und Verwaltung sind zwei Probleme, die ein gemeinsame Wurzel haben: eine falsch verstandene, bürokratische Exekutierung der Studienstrukturreform und die Illusion, eine kapitale Studienstrukturreform wie der Bologna-Prozess ließe sich mit stagnierenden oder gar schrumpfenden finanziellen Ressourcen erfolgreich umsetzen.

Richtig ist aber auch: Erst Bologna hat die Hochschulen dazu gebracht, bei der Reform ihrer Studiengänge die Qualität von Studium und Lehre stärker in den Blick zu nehmen und dabei die Studierenden, die von ihnen zu erwerbenden Kompetenzen und damit ihre beruflichen Perspektiven als wissenschaftlich ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ins Zentrum zu rücken. Die Gewerkschaften sollten dies als Chance begreifen, ihre Vorstellungen, "Studium als wissenschaftliche Berufsausbildung [zu] gestalten", zu formulieren und in die Reformdebatte einzubringen.(5)

"Was Qualität ist, lässt sich weder akademisch messen noch exekutiv dekretieren. [...] Qualität ist ein politischer Begriff, dem Diskussions- und Aushandlungsprozesse zugrunde liegen", heißt es im wissenschaftspolitischen Programm der GEW.(6) "Ein System der Qualitätsentwicklung muss daher einerseits ergebnisoffen, dynamisch und korrekturfähig sein und andererseits die Partizipation der an Lehre und Studium eines Studiengangs beteiligten Gruppen sowie der beruflichen und gesellschaftlichen Praxisfelder, auf die das Studium zielt, ermöglichen." Die Gewerkschaften fordern daher, dass bei der Akkreditierung von Studiengängen neben Lehrenden und Studierenden auch Vertreterinnen und Vertreter der beruflichen Praxis, zu denen neben den Arbeitgebern auch die Gewerkschaften gehören, substanziell beteiligt werden. Wir müssen uns aber gleichzeitig der Diskussion stellen, wie wir das Akkreditierungsverfahren transparenter gestaltet und entbürokratisiert werden kann.


Innovation durch Partizipation

Die Reform der Hochschulen und ihre effektive und effiziente Steuerung einerseits und die Partizipation der am Wissenschaftsprozess Beteiligten stehen nicht im Widerspruch, im Gegenteil: Sie bedingen sich gegenseitig. Niemand konnte bislang belegen, dass die Leitung einer Einrichtung dann besonders effizient verläuft, wenn die Entscheidungskompetenzen an der Spitze konzentriert werden. Gleichwohl verläuft der derzeitige Umbau der Hochschulverfassungen nach genau diesem Schema. Und die Idee der Autonomie der Hochschule hat als Leitidee ihren Ursprung nicht in der Betriebswirtschaftslehre, und der Hochschulglobalhaushalt wurde auch nicht in Gütersloh erfunden. Ihr Ursprung liegt vielmehr in der Vorstellung von der Autonomie der Wissenschaft als gesellschaftlichem Teilsystem gegenüber staatlicher und wirtschaftlicher Herrschaft und ihren Ideologien.

Bei Arbeit an einem neuen hochschulpolitischen Programm des DGB müssen die Gewerkschaften daher beide Fragen im Kontext beantworten: Wie autonom soll die Hochschule sein und wie ist das Verhältnis von Hochschule, Staat und Gesellschaft zu bestimmen? Und: Wie demokratisch muss eine Hochschule verfasst sein, welche alten und neuen Formen der Partizipation und Mitbestimmung halten wir für geeignet?

Neue Formen der Partizipation wie die direkte Partizipation am Arbeitsplatz oder Strategien eines partizipativen Managements können mit dazu beitragen, eine mehrdimensionale Partizipationsstruktur an Hochschulen zu etablieren. Ohne eine wirksame Mitbestimmung der Hochschulmitglieder in den Kollegialorganen der akademischen Selbstverwaltung, in den Personalvertretungen der Beschäftigten und in den Organen der verfassten Studierendenschaft laufen die neuen Partizipationsmodelle aber Gefahr, zum zahnlosen Tiger zu werden. Nicht die Gruppenhochschule ist gescheitert, die niemals Realität werden durfte, sondern die "staatliche regulierte und professorendominierte Hochschule des Hochschulrahmengesetzes"(7). In ihr galt der eherne Grundsatz, dass in allen Hochschulgremien eine Gruppe alle anderen überstimmen konnte - und sich am Ende doch den Vorgaben staatlicher Detailsteuerung beugen musste. Das Hochschulrahmengesetz ist Geschichte - wir brauchen jetzt einen Wettbewerb der 16 Länder um das mitbestimmungsfreundlichste Landeshochschulgesetz.


Gute Wissenschaft - gute Arbeit

Überfällig ist nicht nur ein Wettbewerb um die mitbestimmungsfreundlichste Hochschulverfassung, sondern auch um die attraktivsten Bedingungen am Arbeitsplatz Hochschule. Der Fachkräftemangel in vielen Branchen wird die Hochschulen möglicherweise schon in Kürze zwingen, attraktivere Karrierewege anzubieten, wenn sie qualifizierte Nachwuchskräfte gewinnen möchten. Doch von dieser Einsicht sind sie derzeit noch weit entfernt, was ein wachsendes Unbehagen bei der "Generation Exzellenz" auslöst. Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden mit dem wohlklingenden Versprechen auf exzellente Forschung in die Wissenschaft gelockt und kommen dort beispielsweise in neuen Forschungsstrukturen wie Exzellenzcluster oder Graduiertenschulen. Die Hochschulen erwarten von ihnen auch exzellente Leistungen in Forschung und Lehre, aber exzellente Rahmenbedingungen - verlässliche berufliche Perspektiven und faire Beschäftigungsbedingungen - enthalten sie ihnen vor.

Befristete Arbeitsverträge sind in Hochschule und Forschung längst zur Regel geworden: Bei den wissenschaftlichen Angestellten kommen auf ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis 6,7 befristete Verträge. Ein wachsender Anteil der Lehre wird von Lehrbeauftragten erbracht, die als akademische Tagelöhner stundenweise bezahlt werden - ohne Sozialversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsanspruch. Die Karrierewege in der Wissenschaft sind lang und steinig: Selbst erfahrene, promovierte Fachkräfte gelten als "wissenschaftlicher Nachwuchs", dem sowohl selbstständige Forschung und Lehre als auch berechenbare berufliche Perspektiven verwehrt werden. Nach wie vor steigen überdurchschnittlich viele Frauen aus der wissenschaftlichen Laufbahn aus statt in ihr auf.

Den Widerspruch zwischen immer höheren Anforderungen an wissenschaftliche Arbeit und immer schlechteren Rahmenbedingungen möchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht länger hinnehmen. Gute Wissenschaft und gute Arbeit sind vielmehr zwei Seiten einer Medaille - so lautet die zentrale Botschaft des Templiner Manifests der GEW, welches innerhalb von zehn Wochen von 4.000 Kolleginnen und Kollegen unterzeichnet wurde.(8) Kernpunkte des Templiner Manifestes sind eine bessere Absicherung und Strukturierung der Promotion und berechenbare Perspektiven für Postdocs. Zentral ist die Forderung nach einem "Tenure Track", der promovierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den dauerhaften Verbleib in der Wissenschaft ermöglich - unabhängig davon, ob ein Berufung auf eine Professur erfolgt oder nicht. Daueraufgaben in Hochschule und Forschung sollten auf Dauerstellen erledigt werden. Nur so lassen sich Kontinuität und Qualität der Arbeit in Forschung, Lehre und Wissenschaftsmanagement sichern. Und nur so eröffnen sich mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch neben der Professur die Perspektive, "Wissenschaft als Beruf zu betreiben".(9)

Wir brauchen eine Bewegung für eine demokratische und soziale Hochschule, die den Beschäftigten an den Hochschulen bessere Perspektiven und mehr Rechte geben, zugleich aber die Hochschulen selbst in die Lage versetzt, ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Auftrag besser zu erfüllen - im Interesse der abhängig Beschäftigten in Industrie und Dienstleistung. Das ist die Herausforderung für die Diskussion um die Umrisse einer demokratischen und sozialen Hochschule, zu der Gewerkschaften als Vertretungen der Beschäftigten außerhalb der Hochschulen und in den Hochschulen einen wichtigen Beitrag leisten können und sollten.


Dr. Andreas Keller ist Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und leitet dort den Bereich Hochschule und Forschung.



ANMERKUNGEN

(1) Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Das Leitbild Demokratische und Soziale Hochschule. Vorschlag für die Hochschule der Zukunft. Düsseldorf 2010.
Siehe http://www.boeckler.de/455_91456.html.

(2) Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.): Wir können auch anders! Wissenschaft demokratisieren, Hochschulen öffnen, Qualität von Forschung und Lehre entwickeln, Arbeits- und Studienbedingungen verbessern. Das wissenschaftspolitische Programm der GEW. Frankfurt am Main 2009.
Siehe http://www.gew.de/Alternatives_Leitbild_zur_unternehmerischen_Hochschule.html.

(3) Wolfgang Isserstedt u. a.: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. Bonn und Berlin 2010, S. 10 ff.
Siehe http://www.sozialerhebung.de/soz_19.html.

(4) Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.) 2009, a.a.O., S. 14.

(5) Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.) 2010, a.a.O., S. 23.

(6) Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.) 2009, a.a.O., S. 27.

(7) Vgl. Andreas Keller: Hochschulreform und Hochschulrevolte. Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenhochschule und der Hochschule des 21. Jahrhunderts. Marburg 2000, S. 155ff.

(8) Unter der Adresse www.templiner-manifest.de ist das Manifest abrufbar und kann online unterzeichnet werden.

(9) Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.) 2009, a.a.O., S. 23ff.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2010, Heft 181, Seite 23-29
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2011