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INTERNATIONAL/018: Libanon - Religiöse Gruppen indoktrinieren staatliche Schulen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Juni 2012

Libanon: Spalten statt integrieren - Religiöse Gruppen indoktrinieren staatliche Schulen

von Mona Alami

Sektierertum spaltet das Schulsystem - Bild: © Mona Alami/IPS

Sektierertum spaltet das Schulsystem
Bild: © Mona Alami/IPS

Beirut, 5. Juni (IPS) - Die meisten Libanesen sind stolz auf ihr Schulsystem. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die politische und religiöse Spaltung in den staatlichen Schulen tiefe ideologische Gräben aufreißt.

"Ich will meine Tochter nicht in eine islamische Schule schicken, denn dort würde man sie zwingen, schon als Neunjährige ein Kopftuch zu tragen", erklärt Dallal, eine Schiitin aus dem südlichen Libanon. "Lieber werde ich jeden Piaster zusammenkratzen und sie auf eine weltliche Schule schicken, denn dort kommt sie mit Mitgliedern anderer Gemeinschaften zusammen."

Dallal ist nicht allein mit ihrem Problem. In dem Nahostland, dessen Regierung 18 religiöse Gruppierungen anerkennt, fühlen sich viele libanesische Mütter, die in einer von einer einzigen Religionsgruppe dominierten Region leben, unter Druck gesetzt, wenn es um den Schulbesuch ihrer Kinder geht. "Auch zwischen Nord und Süd, Ost und West besteht diese Spaltung", sagt die Psychologieprofessorin Mona Fayad.

Seit dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990 haben sich in ländlichen Gebieten unterschiedliche religiöse Gruppierungen eingenistet und parzellieren je nach ihrer Zuordnung die Gesellschaft. Mehr Toleranz findet man nur in der Hauptstadt Beirut mit ihren traditionell unterschiedlichen kulturellen Identitäten.

Vor 1975 war die Schülerschaft an libanesischen Schulen gemischt. Doch während des Bürgerkriegs wanderten viele Jungen und Mädchen ab, und staatliche Landschulen wurden in ihrer religiösen Ausrichtung immer einheitlicher. So ist es in Schiitendörfern im Süden nicht ungewöhnlich, dass Schüler ihren Abschluss machen, ohne jemals einem sunnitischen Mitschüler begegnet zu sein. Andererseits gelten in Schulen der Sunnitenhochburg Akkar Schiiten als Fremdlinge, mit denen man kaum je zu tun hat.

"Die religiöse Spaltung des Schulsystems ist nicht die einzige Wurzel des Problems, es sind vor allem die Gemeinden, die vor Ort in der Schule diese Segregation betreiben", betont Ali Demashkieh, Gründer der Nichtregierungsorganisation 'Teach For Lebanon'.

Zur Überwindung des jahrelangen religiös motivierten Hasses hatte man im Nationalen Versöhnungsabkommen ('Taif Accord') von 1989 einen besonderen Passus eingebaut, der zur Förderung der nationalen Einheit ein einheitliches Schulsystem und ein landesweit geltendes libanesisches Geschichtsbuch proklamierte. Doch mit der Einheit im Bildungssystem war es nicht weit her. "Das Buch ist zwar erschienen, doch politische Kontroversen über seinen Inhalt sorgten dafür, dass es in den Schulen nicht verteilt wurde" berichtet Antoine Messara, der damals als Bildungsexperte arbeitete.


Schulen zu Förderinstrumenten der nationalen Einheit machen

Auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Bürgerkriegs ist an eine Neuauflage des Geschichtswerks nicht zu denken. Der Staat stellt es jeder libanesischen Schule anheim, ein ihr genehmes Geschichtsbuch zu verwenden. "Das führt dazu, dass manche Schulen Libanons Geschichte sehr persönlich und nach eigenem Gutdünken interpretieren", kritisiert Demashkieh.

Seine Sorge ist nicht unbegründet, denn einige Bildungseinrichtungen fördern, je nach politischer oder religiöser Ausrichtung, längst ein kontroverses Geschichtsverständnis. Jüngstes Beispiel für derartige Geschichtsklitterung ist der Versuch eines ministeriellen Komitees, den Begriff 'Zedernrevolution' aus dem Lehrstoff für Mittelschulen zu eliminieren und durch die weniger kämpferische Bezeichnung 'eine Welle von Demonstrationen' zu ersetzen.

Libanesische Politiker, die sich am 26. April 2005 an den millionenfachen Protesten gegen die Ermordung des damaligen Regierungschefs Rafic Hariri beteiligt und damit die syrische Besatzungsarmee aus dem Land vertrieben hatten, waren empört.

Inzwischen fragen viele Kinder lieber bei ihren Familien nach, wenn sie sich über die Geschichte ihres Landes informieren wollen. Doch dadurch würden die Geschichtskenntnisse der Schüler noch diffuser, berichtet Messara.

In armen Landstrichen vertieft sich das Problem der Schulwahl noch weiter, weil in staatlichen Schulen Einschreibung und Lehrbücher Geld kosten. Da bieten sich die kostenlosen Religionsschulen für viele Eltern als Alternative an.

"Für viele Eltern ist es durchaus wichtig, wenn sie sich nicht um den Kauf von Büchern oder um Schulmahlzeiten kümmern müssen", betont Demashkieh. "Zudem werden in kleinen Landgemeinden Eltern leicht ausgegrenzt, wenn sie ihre Kinder nicht auf eine Religionsschule schicken" fügt er hinzu.

Das Niveau des libanesischen Grundschulsystems fällt ohnehin hinter das von Nachbarländern wie Jordanien und Syrien zurück. Laut einer 2007 veröffentlichten Studie schaffen nur 51 Prozent der Schüler einen Abschluss.

Dabei könnte das Schulsystem zu einem wichtigen Förderinstrument der nationalen Einheit werden, wenn staatliche Schulen die Möglichkeit bieten würden, sich auf den unterschiedlichen politischen und religiösen Hintergrund ihrer Mitschüler einzulassen, betont Mona Fayad.

"Im Libanon fühlen sich die Religionsgemeinschaften allein gelassen, wenn es darum geht, die schmerzlichen Erfahrungen des Bürgerkriegs aufzuarbeiten, doch diesen Schmerz haben alle 18 Gruppieren durchlitten", sagt die Psychologin. (Ende/IPS/mp/2012)


Links:
http://www.teachforlebanon.org/
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=108014

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2012