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INTERNATIONAL/059: Pakistan - Taliban-Terror traumatisiert Schüler, Land von UN-Bildungszielen weit entfernt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Juli 2015

Pakistan: Taliban-Terror traumatisiert Schüler - Land von UN-Bildungszielen weit entfernt

von Ashfaq Yusufzai und Kanya D'Almeida


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Soldat inmitten von Trümmern der 'Army Public School' in Peshawar, auf die im Dezember 2014 ein Anschlag verübt wurde
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

PESHAWAR, PAKISTAN (IPS) - "Seit er tot ist, ist es in unserer Familie still geworden", sagt Shahana Khan, die Mutter eines Schülers, der vor sieben Monaten bei einem Angriff der militanten Gruppe 'Tehreek-e-Taliban Pakistan' auf eine staatliche Militärschule in der nordpakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa getötet wurde. "Asfand war so lustig und sein Lachen so ansteckend", erzählt Khan.

Die Tragödie ist inzwischen aus den Schlagzeilen internationaler Medien verschwunden, doch die Familien der Opfer kommen nicht zur Ruhe. Wenn Asfands Name fällt, brechen seine elfjährige Schwester und sein siebenjähriger Bruder in Tränen aus. Sie vermissen seine Fröhlichkeit.

Weder die Kinder noch die Eltern erwähnen die Schule, die einen Monat nach dem Anschlag wieder geöffnet wurde. Doch sollte es Monate dauern, bis die überlebenden Schüler in den Unterricht zurückkehrten.


Pakistan hinkt anderen UN-Mitgliedsstaaten hinterher

Die Traumatisierung ist einer von vielen Faktoren, die der Umsetzung der ehrgeizigen Bildungsziele des 182 Millionen Einwohner zählenden Landes im Wege stehen. Bei den UN-Millenniumsentwicklungszielen, die bis Ende dieses Jahres erreicht sein sollen, kann Pakistan mit den meisten anderen UN-Mitgliedsstaaten nicht mithalten.

Die Zahlen für den Zeitraum 2013 bis 2014, die das Bildungsministerium im März verbreitete, deuten darauf hin, dass der Staat das Millenniumsziel 'Bildung für alle' bis Ende des Jahres nicht erreichen wird.

In Pakistan gibt es mehr als 260.000 staatliche und private Schulen, an denen etwa 1,5 Millionen Lehrer geschätzte 42,9 Millionen Schüler unterrichten. Laut dem pakistanischen {Bildung-für-alle-2015- Revisionsbericht}[Revisionsbericht 'Bildung für alle 2015'], den die Regierung gemeinsam mit der Weltkulturorganisation UNESCO herausgeben hat, gehen in dem Land etwa 6,7 Millionen Kinder nicht zur Schule. Das ist eine der höchsten Raten weltweit.

Von den 21,4 Millionen Grundschülern werden Untersuchungen zufolge nur etwa 66 Prozent die fünfte Klasse erreichen. Weitere 33,2 Prozent werden nicht einmal die Grundschule abschließen. Experten führen diese Rückschläge vor allem auf die desolate Lage in den nördlichen Provinzen zurück.


Mehr als 800 Schulen im Norden zerstört

Umar Farooq, Beamter im Bildungssektor in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA), berichtet von etwa 200.000 Jungen und Mädchen, die in der Region nicht zur Schule gehen. Der Hauptgrund sind die systematischen Attacken der Taliban auf säkulare Bildungseinrichtungen. In den vergangenen zwölf Jahren haben die Extremisten 850 Schulen zerstört, darunter 500 Mädchenschulen. "Die FATA haben mit 35 Prozent die niedrigste Einschulungsrate", sagt Farooq.

Bereits vor dem Anschlag auf die Armeeschule in Peshawar wurde Pakistan in einem Bericht der Bildungsorganisation 'Global Coalition to Protect Education from Attack' bereits zu den Ländern gerechnet, in denen Lehrern und Schülern weltweit die größten Gefahren drohen. Pakistan steht dort in einer Reihe mit Afghanistan, Kolumbien, Somalia, dem Sudan und Syrien.


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Den Schülern der 'Army Public School' fällt es schwer, das Blutbad an Klassenkameraden zu vergessen
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Zwischen 2009 und 2012 hatten bewaffnete Gruppen in Pakistan etwa 840 Schulen angegriffen und in den meisten Fällen Sprengsätze gezündet. Die Pakistanische Menschenrechtskommission berichtet von 30 Schülern und 20 Lehrern, die bei den Anschlägen ums Leben kamen. Weitere 97 Schüler und acht Lehrer wurden verletzt, 138 Kinder und Schulbedienstete entführt.


Kein Unterricht in Flüchtlingslagern

Laut Ishtiaqullah Khan, Vizedirektor der Bildungsbehörde der FATA, hängt die Zahl der Schulanmeldungen und Abgänge von der Gefahrenlage ab. Im Zeitraum 2007 bis 2013, als die Taliban verstärkt im Norden Pakistans aktiv waren, lag die Abbrecherquote bei 73 Prozent. Den amtlichen Angaben zufolge haben etwa 550.000 Kinder und Jugendliche in den FATA während der vergangenen zehn Jahre keinen Unterricht erhalten, erklärt Khan. In anderen Provinzen im Norden Pakistans sei die Lage ähnlich.

Als Regierungstruppen im vergangenen Sommer in der Region eine Offensive gegen die Extremisten starteten, wurden fast eine halbe Million Menschen in Nord-Waziristan vertrieben. Zahlreiche Kinder, die in den Flüchtlingscamps der Stadt Bannu in Khyber Pakhtunkhwa unterkamen, müssen auf Bildung verzichten.

Eine Schnellanalyse der Vereinten Nationen im Juli 2014 kam zu dem Ergebnis, dass 98,7 Prozent der vertriebenen Mädchen und 97,9 Prozent der Jungen aus Nordwaziristan in den Flüchtlingslagern nicht unterrichtet werden.

Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) warnte davor, dass die ohnehin schon niedrige Einschulungsrate in Khyber Pakhtunkhwa - 31 Prozent bei den Mädchen und 43 Prozent bei den Jungen - infolge des Flüchtlingsansturms noch weiter zu sinken droht. Denn 80 Prozent der rund 520.000 Vertriebenen sind provisorisch in Schulgebäuden untergebracht.

Der Direktor der Bildungsbehörde in Khyber Pakhtunkhwa, Ghulam Sarwar, berichtet, dass die Taliban in den vergangenen zehn Jahren in der Provinz 467 Schulen zerstört haben. Auch im Bezirk Swat, wo der Angriff auf die Schülerin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai stattgefunden hatte, machten die Extremisten das Schulsystem dem Erdboden gleich.

Für die durch jahrelange Gewalt schwer traumatisierten Schüler und ihre Familien war der Anschlag in Peshawar im vergangenen Dezember ein weiterer schwerer Schicksalsschlag. Laut Khadim Hussain, Leiter der Organisation 'Bacha Khan Education Trust', sind die Taliban auch deshalb gegen Bildung, weil Analphabeten leichter zu indoktrinieren seien. Deshalb sei Bildung als Waffe gegen den Extremismus in Pakistan wichtiger denn je.


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Pakistanische Schülerinnen gedenken der Opfer des Anschlags Ende 2014
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Im Oktober 2014 hatte das Pakistan-Büro des Weltkinderhilfswerks (UNICEF) mitgeteilt, dass der Saudi-arabische Entwicklungsfonds (SFD) der Bildungsbehörde von Khyber Pakhtunkhwa Schulmaterialien im Wert von 14,4 Millionen Dollar übergeben habe. 1.000 Schulen in Khyber Pakhtunkhwa und in den FATA, die von 128.000 Schülern besucht werden, sollen profitieren. Knapp zwei Monate später besetzten die Extremisten die 'Army Public School' und verübten das Massaker.

Ebenso wie andere Klassenkameraden hat der 14-jährige Jihad Ahmed, der den Anschlag überlebte, immer noch große Angst, wieder zur Schule zu gehen. Manche haben das Geschehene verdrängt. Amir Mian, der die neunte Klasse besucht, erinnert sich jeden Tag an die Bluttat. Seinem älteren Bruder war es zunächst gelungen, den Taliban unversehrt zu entkommen. Als er zurückkam, um Mian zu retten, wurde er tödlich von einer Kugel getroffen. "Wir werden seinem Mörder niemals vergeben", sagt der Teenager.


15-Punkte-Plan für sichere Schulen

Um das Vertrauen der Bevölkerung in das Bildungssystem wiederherzustellen, billigte Regierungschef Nawaz Sharif im Februar den 15-Punkte-Plan für die Umsetzung der von der globalen Kampagne 'A World at School' gestarteten Initiative für sichere Schulen in Pakistan.

Die vereinbarten 15 'besten Vorgehensweisen' zielen etwa darauf ab, Religionsführer einzubeziehen, die für Bildung als Abschreckungsmittel gegen den Terrorismus werben sollen. Vorgesehen sind außerdem Verbesserungen der Infrastruktur und der Sicherheitsvorkehrungen.

Bisher verfügen nur 61 Prozent der staatlichen Schulen und 27 Prozent der Grundschulen in ländlichen Gebieten über Mauern, die das Schulgelände nach außen abschirmen. Andere Bildungseinrichtungen konnten ihre Mauern bisher nicht mit Stacheldraht sichern. (Ende/IPS/ck/20.07.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/07/fear-stalks-students-in-northern-pakistan/

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IPS-Tagesdienst vom 20. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2015

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