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SCHULE/651: Schulen fällt es schwer, türkischstämmige Eltern zu erreichen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 135/März 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenig Zuversicht in das gemeinsame Engagement

Schulen fällt es schwer, türkischstämmige Eltern zu erreichen

von Anna Ute Dunkel



An Schulen mit Kindern verschiedener ethnischer Herkunft sind Eltern meist sehr zurückhaltend gegenüber einem aktiven Schulleben. Umgekehrt führt nicht einfach ethnische Homogenität zu größerem Elternengagement. Gerade an türkisch dominierten Schulen vertrauen die Eltern kaum auf ihr gemeinsames Potenzial, sondern ziehen sich in die Passivität zurück. Um dieses Phänomen zu erklären, müssen jenseits der ethnischen Zusammensetzung auch das soziale Milieu und kulturelle Traditionen in den Blick genommen werden.


Bei knapper Haushaltslage bauen Berliner Schulen vermehrt auf das freiwillige Engagement von Eltern. Doch gerade in ethnisch stark gemischten Innenstadtgebieten setzen sich immer weniger Eltern für die Schulen ihrer Kinder ein. Seit 2010 wirbt deshalb das Projekt "Freiwillig macht Schule" Ehrenamtliche für Berliner Schulen. Das Berliner Bild passt zum bahnbrechenden Befund, den der Soziologe Robert D. Putnam 2007 veröffentlichte: Im Vergleich von rund 40 amerikanischen Städten und Regionen stellte er fest, dass ethnische Vielfalt dem Einsatz fürs Gemeinwohl eher im Wege steht. Menschen in heterogenen Gemeinschaften engagieren sich stärker in ihrer und für ihre jeweilige ethnische Gruppe und beteiligen sich darüber hinaus insgesamt weniger am öffentlichen Leben. Ziehen sich also auch Berliner Eltern bei größerer ethnischer Heterogenität zurück, statt sich für die Schulgemeinschaft einzusetzen?

Die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement für die Allgemeinheit fußt auf dem Vertrauen, dass auch andere sich einbringen, mit denen eine erfolgreiche Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele gelingen kann. Für Menschen in ethnisch heterogenen Gemeinschaften ist dieser Vertrauensvorschuss mit höheren Unsicherheiten verbunden. Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten erschweren den Aufbau von Vertrauen ebenso wie kulturelle Missverständnisse, etwa durch unterschiedliche Umgangsformen.

Eine weitere wichtige Basis für das Vertrauen in die kollektive Kraft einer Gemeinschaft bildet die soziale Vernetzung ihrer Mitglieder. Im alltäglichen Kontakt können potenzielle Mitstreiter mobilisiert werden, und gegenseitige soziale Kontrolle erhöht die Gewissheit, dass sich andere auch tatsächlich zur Mitwirkung bewegen lassen. Die erwiesene Neigung von Menschen, Kontakt zu sozial und besonders auch ethnisch ähnlichen Mitmenschen zu suchen, dürfte daher zusätzlich dazu beitragen, dass Menschen in ethnisch homogenen Gemeinschaften weitaus häufiger auf das kollektive Engagement für das Gemeinwohl vertrauen als in ethnisch heterogenen.

Die WZB-Forscher im Projekt "Ethnische Vielfalt, soziales Vertrauen und Zivilengagement" untersuchten im Rahmen einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Studie zur Elternbeteiligung an Berliner Grundschulen auch den Zusammenhang von ethnischer Vielfalt und der Bereitschaft von Eltern, sich gemeinsam für die Schulen ihrer Kinder zu engagieren. Dazu wurde die Situation an zwei türkisch dominierten und drei ethnisch gemischten Grundschulen in den Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln verglichen. Insgesamt 28 Mütter türkischer Herkunft reflektierten in qualitativen Leitfadeninterviews ihre Erfahrungen und Perspektiven. Expertengespräche mit pädagogischen Mitarbeitern der Schulen, die in unterschiedlichen Funktionen tätig sind, gaben zusätzlichen Aufschluss über typische Verhaltensweisen und oft geäußerte Wahrnehmungsmuster von Eltern. Die Beobachtungen aus den fünf Fallstudien wurden im Lichte der Ergebnisse einer Elternumfrage an 40 West-Berliner Grundschulen interpretiert.

Wenig überraschend war die Beobachtung von Eltern wie Pädagogen an allen fünf untersuchten Schulen, dass Eltern Kontakte überwiegend innerhalb der eigenen Sprachgruppe beziehungsweise Kultur suchen - ob auf Schulhöfen oder umliegenden Spielplätzen. Auch die Ergebnisse der Elternumfrage zeigen: Mit steigender ethnischer Diversität der Elternschaften sinkt die Anzahl von Bekanntschaften untereinander.

Betroffene Eltern türkischer Herkunft machen hierfür keineswegs nur Sprachbarrieren oder die teilweise von religiösen Familien geäußerte Angst vor anderen Lebensweisen verantwortlich. Oft interpretieren sie die Kontaktaufnahme deutscher Familien schlicht als halbherzig. Ein Beispiel sind Einladungen zu Kindergeburtstagen unter Klassenkameraden: Deutsche Eltern jüngerer Schulkinder nutzen sie gerne als Möglichkeit, auch untereinander nähere Kontakte zu knüpfen. Eltern türkischer Herkunft jedoch erwarten zunächst einen intensiveren Kontaktaufbau von Eltern zu Eltern, bevor sie ihre Kinder andere Familien zu Hause besuchen lassen. Als Folge mussten nicht selten deutsche Kinder an türkisch dominierten Schulen ihren Kindergeburtstag fast ohne Gäste feiern. Jeweils für selbstverständlich gehaltene, aber unterschiedliche Erwartungen führen dazu, dass beide Seiten Kontaktchancen verschenken.

Erlebte Kommunikationsbarrieren sowie eine meist weitaus leichter gelingende Vernetzung innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe sprechen nun dafür, dass Eltern türkischer Herkunft am ehesten auf türkisch dominierte Elternschaften setzen, wenn es darum geht, gemeinsam mit anderen Eltern bestimmte Ziele für die Schulgemeinschaft zu verwirklichen. Die Ergebnisse der Elternumfrage zeigen: Je größer die ethnische Heterogenität, desto geringer das Vertrauen in das gemeinschaftliche Eltern-Engagement für die Lösung von Problemen - sei es Gewalt unter Schülern oder der drohende Ausfall des Schulfestes.

Die Situation an den beiden türkisch dominierten Fallschulen lässt jedoch aufmerken: Wider Erwarten vertrauen die an beiden Schulen interviewten Mütter türkischer Herkunft kaum darauf, gemeinsam mit der von ihrer eigenen ethnischen Gruppe eindeutig dominierten Elternschaft etwas für die Schule und ihre Kinder erreichen zu können. Die Dominanz einer einzelnen ethnischen Gruppe ist also kein Garant für Elternengagement. Eine Mutter türkischer Herkunft, die an einer der untersuchten Schulen regelmäßig bei Veranstaltungen mithilft, berichtet: "Wie nehme ich die anderen Eltern wahr? Kaum. Also wenn ich jetzt so überlege - ich weiß, dass die anderen Eltern da sind, und ich weiß letztendlich, von denen kommt nichts." Die Wahrnehmung von lamentierenden türkischen Eltern, die aber äußerst passiv sind, wenn es um konkretes Handeln geht, taucht in den Interviews immer wieder auf. Woher rührt dieses geringe Vertrauen, sich gemeinsam mit dem großen Anteil anderer Eltern gleicher ethnischer Herkunft erfolgreich für die Belange der eigenen Kinder an deren Schulen einzubringen?

Erhellend ist hier wiederum ein Blick auf die Ergebnisse der Elternumfrage: Das Vertrauen von Eltern in die gemeinsamen Handlungskapazitäten für das Wohl der Schule ihrer Kinder sinkt nicht nur mit zunehmender ethnischer Diversität, sondern auch mit steigendem Anteil der Schülerinnen und Schüler, die von Zuzahlungen für Lernmittel befreit sind. Dies ist ein Indikator für sozioökonomische Benachteiligung. An Berliner Schulen sind Familien mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig sozial schlecht gestellt. Außerdem ist an den meisten West-Berliner Grundschulen der Anteil sozial benachteiligter Kinder ähnlich hoch wie der von Kindern mit Migrationshintergrund. Entsprechend sehen die von uns befragten Mütter einen Großteil aller Eltern und besonders ihre eigene Herkunftsgruppe aufgrund sozialer Probleme, niedrigen Bildungsstands und teils auch mangelnder Sprachfertigkeiten schlicht nicht in der Lage, viele Aufgaben der Elternbeteiligung am Schulleben zu bewältigen.

Zusätzlich machen engagierte Mütter, die interviewt wurden, oft auch ein in Familien türkischer Herkunft tradiertes passives Verständnis der Rolle von Eltern an Schulen für die allgemein geringe Beteiligung verantwortlich. Eine an einer Schule arbeitende türkischstämmige Erzieherin verdeutlicht diese tief liegende Prägung an Hand eines Sprichworts: "In der Türkei gibt' s halt 'nen Spruch, den Eltern der Lehrerschaft öfters sagen: 'Das Fleisch gehört dir - der Knochen mir!'. Also: Ich gebe dir mein Kind, mit Fleisch und Blut gehört's dir. Du kannst es formen, wie du es willst. - Das sagt mir viel eigentlich, der Spruch: Um alles andere will ich mich nicht kümmern. Guck, wie du das Kind formst, bildest." An den beiden türkisch dominierten Fallschulen dürfte diese kulturell geprägte Zurückhaltung türkischstämmiger Eltern, sich in schulische Belange ihrer Kinder einzubringen, allein wegen ihres hohen Anteils von sozial benachteiligten Eltern mit wenig eigener Erfahrung im deutschen Schulsystem sehr weit verbreitet sein.

Am ehesten könnten wohl engagierte türkischstämmige Eltern aus der Mittelschicht ihre Herkunftsgruppe zu mehr Beteiligung aktivieren. Doch die Fallstudie zeigt, dass diese Annahme an der Realität vorbeigeht. Vielmehr ergreifen in den beiden türkisch dominierten Schulen einzelne wohl engagierte bildungsbewusste Eltern türkischer Herkunft selten Initiative, um andere türkische Eltern an das deutsche Schulwesen heranzuführen. Eine Schulleiterin beschreibt, die türkischen Mittelschichteltern würden "unter der deutschen Elternschaft wie die Fische im Wasser" schwimmen. Kurz: Sie scheinen kaum innerhalb der eigenen Herkunftsgruppe, sondern eher unter den deutschen Mittelschichten vernetzt.

Die Anknüpfungspunkte zur tendenziell bildungsfernen und religiös geprägten Mehrheit ihrer Herkunftsgruppe sind für diese Eltern aus der säkular dominierten Mittelschicht oft gering. Häufig berichtete Spannungen zwischen religiös und weltlich orientierten Lebensweisen, wie etwa Debatten um Wurst aus Schweinefleisch auf Pausenbroten, tun ihr Übriges. In der Folge engagieren sich diese säkular lebenden Eltern aus der Mittelschicht oft lieber gemeinsam mit deutschen Eltern. Die türkischstämmigen Eltern, die an den Schulen ihrer Kinder etwas bewegen möchten, scheinen oft sogar so wenig in das kollektive Engagement der Elternschaft mehrheitlich türkischer Herkunft zu vertrauen, dass sie ähnlich wie deutsche Mittelschichteltern reagieren und einen Schulwechsel anstreben.


Anna Ute Dunkel ist Diplom-Soziologin und seit Oktober 2009‍ ‍Mitarbeiterin der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen ethnischer Heterogenität und ihrer institutionellen Regulierung auf das Engagement von Elternschaften in deutschen und französischen Schulen.
dunkel@wzb.eu


Literatur

Bandura, Albert: "Exercise of Human Agency through Collective Efficacy". In: Current Directions in Psychological Science, Vol. 9, No. 3, 2000, S. 75-78.

Koopmans, Ruud/Dunkel, Anna/Schaeffer, Merlin/Veit, Susanne: Ethnische Diversität, soziales Vertrauen und Zivilengagement. Projektbericht. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2011.

McPherson, Miller/Smith-Lovin, Lynn/Cook, James M.: "Birds of a Feather: Homophily in Social Networks". In: Annual Review of Sociology, Vol. 27, No. 1, 2001, S. 415-444.

Putnam, Robert D.: "E Pluribus Unum: Diversity and Community in the Twenty-first Century". In: Scandinavian Political Studies, Vol. 30, No. 2, 2007, S. 137-174.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 135, März 2012, Seite 13-15
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2012