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UNIVERSITÄT/2509: Vielfalt der Universität nutzen (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 28 - Mai 2010 - Forum der Universität Tübingen

Vielfalt der Universität nutzen

Von Laura Mega


Es hat etwas gedauert, bis die Studierenden im vergangenen Wintersemester gegen die Ausbildung nach Bologna-Rezept protestierten. Wie aber sieht ihr Bildungsideal aus? Die Tübinger Biologie-Studentin Laura Mega schildert Wünsche, Erwartungen und Befindlichkeiten ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen.


Als wir damals ganz frisch an die Universität kamen, bestimmten zwei Eindrücke die erste Zeit: Überwältigung und eine gewisse Orientierungslosigkeit. Wer aus der behüteten Umgebung der Schule in den universitären Alltag eintritt, findet das Gefühl befremdlich, plötzlich nur noch einer unter vielen zu sein - in Zeiten der Überlast einiger Fächer und der nahenden doppelten Abiturjahrgänge sogar einer unter sehr vielen. Zugleich kommt Bewunderung für die Vielfalt des Angebotes auf, welches einem an einer Volluniversität wie der Universität Tübingen zur Verfügung steht. Auch wenn diese Vielfalt sicherlich eine gewisse Verunsicherung hervorruft, lernt man sie mit der Zeit zu schätzen. Denn was eine Universität von einer reinen Ausbildungsanstalt à la Berufsakademie unterscheidet, ist doch genau das: die Möglichkeit seine Neugierde zu kultivieren und den Wissenserwerb zu genießen, statt ihn nur zur Arbeitsbefähigung anzustreben. Aber wir gehören einer vom Aussterben bedrohten Spezies an: den Diplom- und Magister-Studierenden. Die Abiturienten, die heute ihr Studium beginnen, können Erfahrungen wie unsere kaum noch machen. Als Vertreter der "alten" Studiengänge blickt man deshalb mitleidig auf die neuen Bachelor- und Master-Studenten und sieht die Möglichkeiten des eigenen Studiums plötzlich in anderem Licht. Entgegen dem derzeitigen Trend zur Beschleunigung des Studiums, der vollgestopften Studienpläne ohne Flexibilität und der mit Hilfe von Soft Skills und Career Service aufgemotzten Lebensläufe waren die Universitäten doch einst als Orte der ganzheitlichen Bildung konzipiert. Heute dagegen schaffen Medienspektakel wie Exzellenzinitiativen und Innovationspools genau das Gegenteil dessen, was ihre blumigen Namen versprechen: Sie zwingen die Hochschulen so sehr in den erbitterten Kampf um Exzellenzzuschläge, dass kaum noch auf die Förderung grundständiger Lehre - etwa die Ausbildung der Lehramtsstudierenden - geachtet wird, weil solche Studiengänge ganz einfach nicht den Vergabekriterien entsprechen. Gefördert werden nur noch Initiativen, die einen Studienabschluss mit "exzellenten" Chancen auf dem Arbeitsmarkt in einer möglichst neuen Branche versprechen.

Jüngst schrieb selbst das Staufenbiel-Karrieremagazin: "Nach sechs Semestern und dem Bachelor in der Tasche fühlen sich nur wenig Uni-Absolventen bereit für den Job." Wie soll man sich auch dafür bereit fühlen, wenn man durch das Bachelor/Master-System so entmündigt wird wie bislang? Die Studiengänge sind durchgeplant - von A bis Z. Noch immer steht in den meisten Fällen am Ende des Semesters in jeder einzelnen Veranstaltung eine Prüfung an. Die meisten Studierenden wissen schon nach den ersten Wochen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht, und versuchen, möglichst schnell Strategien zur Bewältigung des Chaos und der Informationsflut zu finden. Doch genau dabei bleibt es dann oft auch: Bei der Bewältigung von Lernstoff, nicht der Aneignung von Wissen oder gar dem Verständnis von Zusammenhängen. Denn dafür reicht schlichtweg die Zeit nicht mehr.

In den Naturwissenschaften hat die Einführung der neuen Abschlüsse zumeist so weit geführt, dass Bachelor-Kandidaten im Laufe ihres Studiums weniger praktische Fähigkeiten erwerben konnten als ihre Kollegen, die sich für eine Ausbildung zu technischen Assistenten entschieden - vom Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten zu selbständig erarbeiteten Forschungsthemen wie in Diplomarbeiten üblich -, ganz zu schweigen. Die Erwartung, dass Bachelor-Absolventen unter diesen Gegebenheiten wirklich auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden, grenzt an Ironie.


Kaum Zeit und Luft für Engagement

Arbeitsmarktrelevanz ist Voraussetzung für die Akkreditierung eines Bachelor-Studiengangs an den Universitäten. Auf der anderen Seite schnürt das enge Korsett der Bologna-Reform den Gestaltungsfreiraum der Studierenden so ein, dass kaum Zeit und Luft bleiben für politisches, kulturelles oder soziales Engagement. Es sind aber gerade auch die dabei erworbenen Fähigkeiten, die im harten Konkurrenzkampf des Arbeitsmarktes unentbehrlich, eben "arbeitsmarktrelevant" sind. Allerdings ist die Aussagekraft einer Akkreditierung inzwischen sowieso äußerst fragwürdig. So fragwürdig, dass die derzeit anstehenden Akkreditierungen ein einjähriges Moratorium bekommen haben, bis - so hofft man - sich die Aufregung um den schon wieder reformierten und nun drei- oder vier- oder dreieinhalbjährigen Bachelor ein wenig gelegt hat.

Es wäre selbstverständlich falsch, das Augenmerk nur auf die Arbeitsmarktrelevanz der Studienabschlüsse zu legen. Zwar sollten Universitäten ihren Studierenden auch eine Ausbildung mitgeben, diesen Auftrag allerdings als Vermittlung von fachlichen und geistigen Fähigkeiten verstehen. Schließlich waren die Universitäten einst zur Bildung von Menschen gedacht, die für die Bewahrung und Anwendung des gemeinschaftlichen Wissens zuständig sind - also nicht nur Futter für den Arbeitsmarkt sein sollten. Das Wort "Universität" stammt ursprünglich vom lateinischen universitas magistrorum et scholarium, was übersetzt "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden" bedeutet. Unsere Universitäten wieder als eine solche Gemeinschaft zu begreifen, würden wir uns wünschen.

Wie die jüngsten Proteste an den Universitäten gezeigt haben, besteht die Einheit von Lehrenden und Lernenden zur Zeit vor allem darin, dass sich ein großer Teil der Lehrenden bei den Protesten auf die Seite der Lernenden stellt und deren Forderungen nach einem selbstbestimmten Studium unterstützt. Für diese Art des Studierens braucht es Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, Mut eigenständige Gedanken zu fassen und auch zu äußern. Der Verstand will geschärft sein, damit gesellschaftliche Zusammenhänge reflektiert und kritisch hinterfragt werden können. Sowohl Mut als auch Verstand brauchen Übung. Genau hierfür ist eine Universität prädestiniert, wenn man sie denn zu nutzen weiß: als Bildungsanstalt in jedem Sinne, nicht als bloße Schleuse für die vermeintliche akademische Elite von morgen. Wir wünschen uns eine Universität, in der Bildung wieder als höchstes Gut und Mittel für einen aufgeklärten Reifeprozess des Individuums angesehen wird.

Wer wäre in einer Stadt, in der man regelmäßig auf die Spuren eines Kepler, Goethe, Hegel, Hölderlin oder Hesse trifft, nicht versucht, seine Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen und über den Tellerrand des facheigenen Studienplans zu blicken? Um das zu ermöglichen, muss es freilich ein Umdenken geben: bei einer Gesellschaft, die möglichst schnell möglichst breit geschulte Nachwuchskräfte fordert, bei Professoren, die mehr Wert auf Forschungsbilanz und Impact Factor legen als auf didaktisch wertvoll konzipierte Lehre. Und bei Studierenden, die oftmals die an sie gerichteten Erwartungen schon so verinnerlicht haben, dass sie nur noch wie mit Scheuklappen durch ihr Studium rasen, ohne sich der Vielfalt bewusst zu werden, die sie umgibt. Für diesen notwendigen Umbruch tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung. Wir können es uns nicht leisten, sie nicht wahrzunehmen.


Laura Mega studiert Biologie und ist studentisches Mitglied im Senat. Der Text entstand in Zusammenarbeit mit weiteren Studierenden.

Die attempto im Internet:
www.uni-tuebingen.de/aktuell/veroeffentlichungen/attempto.html


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Quelle:
attempto! 28 - Mai 2010, Seite 12-13
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2010