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GAZA/007: Offener Brief aus Gaza - Zwei Jahre nach dem Massaker (Palästinenser aus Gaza)


Offener Brief aus Gaza:

Zwei Jahre nach dem Massaker, eine Forderung nach Gerechtigkeit

Aus dem belagerten Gaza, Palästina - 27. Dezember 2010


Wir, die Palästinenser des besetzten Gazastreifens, sagen an diesem Tag, zwei Jahre nach dem genozidalen Überfall Israels auf unsere Familien, unsere Häuser, unsere Straßen, unsere Fabriken, unsere Schulen: genug der Untätigkeit, genug der Diskussionen, genug des Wartens - jetzt ist die Zeit, Israel für die anhaltenden Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, die es an uns begeht. Am 27. Dezember 2008 begann Israel mit seiner unterschiedslosen Bombardierung des Gazastreifens.

Der Überfall währte laut Menschenrechtsorganisationen des Mainstreams 22 Tage und tötete 1.417 Palästinenser, darunter 352 Kinder. 528 erschütternde Stunden lang entfesselten die israelischen Besatzungskräfte ihre von den USA gelieferten F15- und F16-Bomber, Merkava-Panzer sowie international geächteten weißen Phosphor und zerbombten und besetzten die kleine palästinensische Küstenenklave - Heimstatt für 1.5 Millionen Menschen, darunter 800.000 Kinder und über 80 Prozent von der UNO registrierte Flüchtlinge. Rund 5.300 Menschen trugen bleibende Schäden davon.

Diese Verwüstung überstieg in ihrer Unmenschlichkeit alle vorangegangenen Massaker, die Gaza erleiden mußte, wie das der 21 Kinder, die im März 2008 in Jabalia, oder der 19 Zivilisten, die 2006 bei dem Massaker von Beit Hanoun getötet wurden, als sie in ihrem Haus Schutz suchten. Das Blutbad übertraf sogar die Angriffe vom November 1956, bei denen israelische Truppen ohne Unterschied 275 Palästinenser in der Stadt Khan Younis im Süden und weitere 111 in Rafah zusammentrieben und töteten.

Seit dem Gaza-Massaker von 2009 haben Weltbürger die Verantwortung übernommen durch die bewährte Strategie von Boykott, Investitionsstop und Sanktionen (BDS) Druck auf Israel auszuüben, sich an internationales Recht zu halten. So wie die globale BDS-Bewegung wirkungsvoll half, das Apartheidregime Südafrikas zu beenden, bitten wir Menschen mit Gewissen eindringlich, sich hinter den BDS-Aufruf zu stellen, den über 170 palästinensische Organisationen im Jahr 2005 veröffentlicht haben. Wie in Südafrika kann das Ungleichgewicht von Macht und Repräsentanz in dieser Auseinandersetzung durch eine starke internationale Solidaritätsbewegung mit BDS an vorderster Front aufgehoben werden und Israels verantwortliche Politiker zur Rechenschaft ziehen - etwas das die internationale Gemeinschaft zum wiederholten Male versäumt hat.

Ebenso wenig dürfen kreative zivile Anstrengungen wie die 'Free Gaza'- Schiffe, die fünfmal die Blockade gebrochen haben, der 'Gaza Freedom March', die 'Gaza Freedom Flottille' und die vielen Konvoys über Land aufhören, die Blockade zu brechen und damit ein Licht auf die Unmenschlichkeit zu werfen, mit der die 1,5 Millionen Menschen in Gaza in einem Freiluftgefängnis festgehalten werden.

Zwei Jahre sind nun seit Israels schwerwiegendstem Genozid vergangen, der bei den Menschen keinen Zweifel über das brutale Maß der israelischen Pläne für die Palästinenser läßt. Der mörderische Seeangriff auf die internationalen Aktivisten an Bord der 'Gaza Freedom Flottille' im Mittelmeer hat der Welt in aller Deutlichkeit gezeigt, wie billig palästinensisches Leben schon lange aus israelischer Sicht ist. Die Welt weiß jetzt Bescheid, dennoch hat sich zwei Jahre danach für die Palästinenser nichts verändert. Der Goldstone-Bericht kam und ging. Obwohl er Punkt für Punkt die Verletzungen internationalen Rechts auflistet, israelische "Kriegsverbrechen" und "mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und die Europäische Union, die Vereinten Nationen, das Rote Kreuz und alle großen Menschenrechtsorganisationen ein Ende der illegalen mittelalterlichen Belagerung gefordert haben, macht es unbeeindruckt weiter.

Am 11. November 2010 erklärte John Ging, der Leiter der UNWRA: "Es gab keine substantiellen Veränderungen für die Menschen in diesem Gebiet bezüglich ihres Status, der Abhängigkeit von Hilfsgütern, der Abwesenheit jeglicher Wiederherstellung oder des Wiederaufbaus, keine Wirtschaft... Die Erleichterung, von der die Rede war, war nichts weiter als eine politische Lockerung des Drucks auf Israel und Ägypten."

Am 2. Dezember gaben 22 internationale Organisationen einschließlich Amnesty, Oxfam, Save the Children, Christian Aid und Medical Aid for Palestinians den Bericht "Dashed Hopes, Continuation of the Gaza Blockade" ("Zerstörte Hoffnungen, Fortsetzung der Gaza-Blockade") heraus und riefen mit der Begründung, daß die Palästinenser von Gaza unter israelischer Belagerung weiter unter den gleichen katastrophalen Bedingungen leben, zu internationalem Handeln auf, um Israel zu zwingen, die Blockade bedingungslos aufzuheben.

Vor gerade mal einer Woche veröffentlichte Human Rights Watch den umfassenden Bericht "Separate and Unequal" ("Ausgesondert und ungleichgestellt"), der die israelische Politik als Apartheid bezeichnet und damit ähnliche Empfindungen südafrikanischer Anti-Apartheid-Aktivisten wiedergibt.

• Wir Palästinenser von Gaza wollen mit der Freiheit leben, palästinensische Freunde oder Familienmitglieder aus Tulkarem, Jerusalem oder Nazareth zu treffen; wir wollen das Recht haben, zu reisen und uns frei zu bewegen.

• Wir wollen ohne Angst vor einem weiteren Bombenkrieg leben, der Hunderte unserer Kinder tötet und viele weitere verletzt oder durch die Verpestung mit Israels weißem Phosphor und Chemiewaffen Krebs bei ihnen auslöst.

• Wir wollen ohne die Demütigungen an israelischen Checkpoints und die Schande leben, unsere Familien aufgrund der durch die Kontrolle über die Wirtschaft und die illegale Blockade verursachten Arbeitslosigkeit nicht versorgen zu können.

• Wir fordern ein Ende des Rassismus, der diese Unterdrückung zementiert.

• Wir fragen: Wann werden die Länder der Erde dem Grundsatz folgen, daß alle Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft, ethnischen Zugehörigkeit oder Hautfarbe gleich behandelt werden sollten - ist es denn so weit hergeholt, daß einem palästinensischen Kind die gleichen Menschenrechte zustehen wie jedem anderen Menschen? Werden Sie zurückblicken und sagen können, Sie hätten auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden, oder werden Sie gemeinsame Sache mit dem Unterdrücker gemacht haben?

• Wir fordern die internationale Gemeinschaft deshalb auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen, die palästinensische Bevölkerung vor der abscheulichen, israelischen Aggression zu schützen, der Blockade unverzüglich ein Ende zu setzen und für Entschädigung für die Zerstörung von Leben und Infrastruktur, die durch diese gewollte Strategie der über uns verhängten Kollektivbestrafung verursacht wurde, zu sorgen. Nichts rechtfertigt absichtliche Barbarei, die Beschneidung der Wasser- und Elektrizitätsversorgung für 1,5 Millionen Menschen eingeschlossen. Das internationale Kartell des Schweigens zum an über 1,5 Millionen Zivilisten in Gaza verübten Genozid legt Komplizenschaft bei diesen Kriegsverbrechen nahe.

• Wir rufen zudem alle Palästina-Solidaritätsgruppen und alle internationalen Organisationen der Zivilgesellschaft auf, folgende Forderungen zu stellen:

Das Ende der Blockade, die aufgrund ihrer demokratischen Wahlentscheidung über die Menschen in der Westbank und im Gazastreifen verhängt wurde.
Schutz des Lebens und des Eigentums von Zivilisten, wie im internationalen humanitären Recht und in den Internationalen Menschenrechten wie der Vierten Genfer Konvention festgelegt ist.
Unverzügliche Freilassung aller politischen Gefangenen.
Sofortige finanzielle und materielle Unterstützung für die Flüchtlinge im Gazastreifen zur Bewältigung der extremen Not, die sie erleiden.
Ende der Besatzung, der Apartheid und anderer Kriegsverbrechen.
Sofortige Reparationen und Entschädigung für alle Zerstörungen, die von den israelischen Besatzungskräften im Gazastreifen begangen wurden.

Boykott, Investitionsstop und Sanktionen: Schließen Sie sich den vielen internationalen Gewerkschaften, Universitäten, Supermärkten, Künstlern und Schriftstellern an, die sich weigern Apartheid-Israel zu unterstützen. Setzen Sie sich ein für Palästina, für Gaza, und ganz entscheidend ist: HANDELN Sie. Jetzt ist es an der Zeit.

Das belagerte Gaza, Palästina, 27. Dezember 2010


Liste der Unterzeichner:
General Union for Public Services Workers
General Union for Health Services Workers
University Teachers Association
Palestinian Congregation for Lawyers
General Union for Petrochemical & Gas Workers
General Union for Agricultural Workers
Union of Women's Work Committees
Union of Synergies-Women's Unit
The One Democratic State Group
Arab Cultural Forum
Palestinian Students Campaign for Academic Boycott of Israel
Association of Al-Quds Bank for Culture & Info
Palestine Sailing Federation
Palestinian Association for Fishing & Maritime
Palestinian Network of Non-Governmental Organizations
Palestinian Women's Committees
Progressive Students Union
Medical Relief Society
General Society for Rehabilitation
General Union of Palestinian Women
Afaq Jadeeda Cultural Centre for Women & Children
Deir Al-Balah Cultural Centre for Women & Children
Maghazi Cultural Centre for Children
Al-Sahel Centre for Women & Youth
Ghassan Kanfani Kindergartens
Rachel Corrie Centre, Rafah
Rafah Olympia City Sisters
Al Awda Centre, Rafah
Al Awda Hospital, Jabaliya Camp
Ajyal Association, Gaza
General Union of Palestinian Syndicates
Al Karmel Centre, Nuseirat
Local Initiative, Beit Hanoun
Union of Health Work Committees
Red Crescent Society Gaza Strip
Beit Lahiya Cultural Centre
Al Awda Centre, Rafah



Links zum englischsprachigen Originaltext:

Kia Ora Gaza: http://kiaoragaza.wordpress.com/

Palestine Telegraph:
http://paltelegraph.com/index.php?option=com_content&view=article&id=7826:an-open-letter-from-
gaza-two-years-after-the-massacre-a-demand-for-justice&catid=60:palestinian-refugees&Itemid=136


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Quelle:
Offener Brief aus Gaza, 27.12.2010
"Zwei Jahre nach dem Massaker, eine Forderung nach Gerechtigkeit"


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2010